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5.Anforderungen an grundrechtseinschränkende Gesetze (Schranken-Schranke)

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264Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs setzt voraus, dass das grundrechtseinschränkende Gesetz seinerseits in formeller und materieller Hinsicht mit der Verfassung in Einklang steht (sog. Schranken-Schranken oder Gegenschranken). Die Begriffe bezeichnen die Beschränkungen, denen der Gesetzgeber unterliegt, wenn er der Grundrechtsausübung Schranken zieht.163 In anderen Worten gelten auch Grundrechtsschranken nicht unbeschränkt.164

Das einschränkende Gesetz muss zunächst formell ordnungsgemäß zustande gekommen sein, d. h. unter Einhaltung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes (Art. 70 ff.) und des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 76 ff. bei Bundesgesetzen). In materieller Hinsicht sind insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip, der Bestimmtheitsgrundsatz und das Rückwirkungsverbot zu beachten, des Weiteren die in Art. 19 verankerten Anforderungen an Grundrechtseinschränkungen (Verbot des Einzelfallgesetzes, Zitiergebot und Wesensgehaltsgarantie).

265a) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip – auch als Übermaßverbot bezeichnet – besagt, dass der Zweck jedes staatlichen Handelns in angemessenem Verhältnis zu dem gewählten Mittel stehen muss.165 Die Freiheit des Einzelnen darf nur soweit eingeschränkt werden, wie dies im Interesse des Allgemeinwohls unabdingbar ist. Ursprünglich als rechtsstaatliche Anforderung an die Rechtmäßigkeit von Eingriffen durch die Verwaltung in die konstitutionellen Freiheitsrechte („Eigentum und Freiheit“) entwickelt, gehört das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu den Leitsätzen, die die Rechtmäßigkeit jeglichen staatlichen Handelns betreffen,166

„die sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben und deshalb Verfassungsrang haben“.167

266Das Verhältnismäßigkeitsprinzip findet seine klassische Anwendung im Verhältnis Staat-Bürger in der Grundrechtslehre, wo zu den Voraussetzungen eines rechtmäßigen Eingriffs auch die Verhältnismäßigkeit gehört:

„Nach diesem mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz sind Eingriffe in die Freiheitssphäre nur dann und insoweit zulässig, als sie zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind; die gewählten Mittel müssen in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen.“168

267Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt in zwei Schritten. Zuerst ist der angestrebte Zweck des staatlichen Handelns zu bestimmen und außerdem festzulegen, aus welchem Mittel das staatliche Handeln besteht, mit dem der angestrebte Erfolg bewirkt werden soll. Anschließend sind der Zweck und das dafür gewählte staatliche Mittel zueinander in Beziehung zu setzen. Ein Mittel ist danach nur verhältnismäßig, wenn es zur Verwirklichung des angestrebten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist. Dieser letzte Schritt stellt die eigentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung dar (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität).

268Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat in der Rechtsprechung des BVerfG für einzelne Grundrechte besondere Ausprägungen erfahren. Dies gilt insbesondere für die Wechselwirkungslehre zu Art. 5 Abs. 1 und die Drei-Stufen-Theorie im Rahmen des Art. 12 Abs. 1.169

269aa) Verfassungslegitimer Zweck. Für die Ermittlung des Zwecks des staatlichen Handelns ist zunächst darauf abzustellen, was die staatlichen Stellen selbst als angestrebten Erfolg verlautbaren. So lässt sich das Ziel, das der Gesetzgeber durch den Erlass eines Gesetzes verwirklichen will, aus dem Gesetzestext, aus der Gesetzesbegründung oder den parlamentarischen Beratungen ermitteln.170 Bei der Wahl des zu verfolgenden Zwecks und der dafür einzusetzenden Mittel ist der Gesetzgeber freier als die Verwaltung, die im Rahmen ihrer Vollzugstätigkeit an die gesetzgeberische Entscheidung gebunden ist.171

Grundsätzlich kommen dem Gesetzgeber bei der Frage, welche Zwecke er mit welchen Mitteln verfolgen will, eine Einschätzungsprärogative und ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Zweckbestimmung kann sich allerdings auch aus dem Gesetzesvorbehalt des Grundrechts ergeben, wie dies etwa bei Art. 5 Abs. 2 der Fall ist.172

270Stets muss das staatliche Handeln einem legitimen Zweck dienen. Dies bedeutet, dass der verfolgte Zweck mit der staatlichen Ordnung, insbesondere mit der Verfassung vereinbar sein muss. Innerhalb dieses Rahmens überschreitet der Gesetzgeber seinen Beurteilungsspielraum nur,

„wenn seine Erwägungen so offensichtlich fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können.“173

271Beispielsweise können wirtschaftliche oder soziale Aspekte zu einem solchen legitimen Zweck führen.174

272bb) Geeignetheit. Geeignet ist jedes Mittel, das prinzipiell für die Verwirklichung des angestrebten Zwecks dienlich ist. Dies ist der Fall,

„wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann“.175

273Das gewählte Mittel muss nicht das bestmögliche sein und nicht in jedem Einzelfall Wirkung entfalten.176 Es besteht kein Optimierungsgebot.177 Vielmehr genügt es, wenn die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung besteht, die staatliche Maßnahme also „nicht von vornherein untauglich“ ist,178 sondern einen Beitrag zur Zielerreichung leistet.179 Je nach Fallkonstellation kann es eine große Anzahl von geeigneten Mitteln neben dem gewählten geben.

274cc) Erforderlichkeit. Erforderlich ist das Mittel, das von allen geeigneten, gleich wirksamen Mitteln die am wenigsten einschneidende Maßnahme darstellt. Eine staatliche Maßnahme darf – wie das BVerfG formuliert hat – mithin nicht über das zur Verfolgung ihres Zwecks erforderliche Maß hinaus- und nicht weitergehen, als der mit ihr intendierte Schutzzweck reicht.180 Im klassischen Staat-Bürger-Verhältnis ist damit das Mittel erforderlich, das den Bürger am wenigsten belastet (Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs).181 An der Erforderlichkeit fehlt es, wenn

„ein gleich wirksames, aber für den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht“.182

275 Nicht erforderlich ist das Mittel, wenn ein milderes Mittel ausreicht.183 Es muss sich eindeutig feststellen lassen, dass zur Erreichung des verfolgten Zwecks andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen.184 Dies ist nicht nur im Hinblick auf den Betroffenen selbst, sondern auch im Hinblick auf Dritte zu entscheiden.185

276dd) Angemessenheit. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit, Zumutbarkeit oder Proportionalität) verlangt, dass die Maßnahme in angemessenem Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts steht.186 Dies erfordert, dass

„bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt, die Maßnahme also die Betroffenen nicht übermäßig belastet.“187

277Die Angemessenheitsprüfung besteht in einer umfassenden Abwägung zwischen den grundrechtlich geschützten Rechtsgütern und den entgegenstehenden öffentlichen Interessen, die eine Einschränkung des Grundrechts erfordern.188 Angemessen ist ein erforderliches Mittel nur, wenn der mit der Maßnahme verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht.189 Bildlich gesprochen darf man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“. Handelt es sich um einen besonders intensiven Eingriff, so muss die Zumutbarkeit gegebenenfalls durch Übergangs-, Ausgleichs- oder Ausnahmevorschriften sichergestellt werden.190

278b) Die Wesensgehaltsgarantie gemäß Art. 19 Abs. 2. Art. 19 Abs. 2 bestimmt, dass ein Grundrecht in keinem Falle in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf. Dieser Wesensgehalt ist für jedes einzelne Grundrecht gesondert zu bestimmen.191

Die Wesensgehaltsgarantie gilt für alle Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte. Insbesondere ist ihr Anwendungsbereich nicht auf Grundrechte, die unter Gesetzesvorbehalt stehen, beschränkt.192

279Umstritten ist, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts absolut oder relativ zu bestimmen ist.

Nach der Theorie vom absoluten Wesensgehalt besitzt jedes Grundrecht einen unantastbaren Kernbereich, der unabhängig von einer Abwägung im jeweiligen Einzelfall feststeht.193 Dieser absolut geschützte Kernbestand stellt die „Grundsubstanz“ eines Grundrechts,194 seinen „unverzichtbaren Mindestinhalt“ dar.195

Demgegenüber geht die Theorie vom relativen Wesensgehalt davon aus, dass in jedem einzelnen Fall unter Berücksichtigung aller beteiligten Interessen anhand einer Abwägung festzustellen ist, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet ist.196 Eine Verletzung des Wesensgehalts scheidet danach aus, wenn im Einzelfall dem Grundrecht das geringere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage beizumessen ist.197 Gegen diese Auffassung spricht jedoch, dass die Bedeutung des Art. 19 Abs. 2 damit nicht über die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hinausginge.198

280Darüber hinaus ist umstritten, ob die Wesensgehaltsgarantie generell, d. h. im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung des Grundrechts innerhalb der Verfassungsordnung, oder individuell, also bezogen auf seine Bedeutung für den jeweiligen Grundrechtsberechtigten zu interpretieren ist.199 Richtigerweise ist zu differenzieren. Jedenfalls für staatliche Eingriffe in das Recht auf Leben, die aufgrund des Art. 2 Abs. 2 S. 3 nicht prinzipiell ausgeschlossen sind, kann die Wesensgehaltsgarantie nur im Hinblick auf die Gewährleistung für die Allgemeinheit verstanden werden, da ein Eingriff die Rechtsposition des betroffenen Grundträgers vollständig beseitigt.200 Andernfalls ließe die Verfassung in Art. 2 Abs. 2 S. 3 etwas zu (nämlich einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben), das durch Art. 19 Abs. 2 (Wesensgehaltssperre) ausgeschlossen wäre. Eine solche Interpretation kann aber nicht das Ergebnis einer zutreffenden systematischen Auslegung sein kann.201 Das Problem lässt sich auch nicht über eine Hierarchisierung der Vorschriften lösen. Jedenfalls hinsichtlich ursprünglicher Verfassungsnormen sind etwaige Spannungsverhältnisse nach Maßgabe des Grundsatzes der Einheit der Verfassung aufzulösen. Für alle anderen Grundrechte ist der Wesensgehalt hingegen im Zweifel individuell zu bestimmen.202

281c) Das Zitiergebot gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2. Art. 19 Abs. 1 S. 2 bestimmt, dass ein grundrechtseinschränkendes Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen muss. Dem Zitiergebot kommt eine Warn- und Besinnungsfunktion für den Gesetzgeber zu („psychologische Schranke“203):

„Indem das Gebot den Gesetzgeber zwingt, solche Eingriffe im Gesetzeswortlaut auszuweisen, will es sicherstellen, dass nur wirklich gewollte Eingriffe erfolgen; auch soll sich der Gesetzgeber über die Auswirkungen seiner Regelungen für die betroffenen Grundrechte Rechenschaft geben (Warn- und Beweisfunktion).“204

282Außerdem hat das Zitiergebot eine Klarstellungsfunktion für die Gesetzesauslegung durch die rechtsanwendenden Organe.205 Darüber hinaus dient die Vorschrift der Rechtsklarheit, da auch der Bürger, der nicht über juristische Kenntnisse verfügt, den Gesetzen das Ausmaß der Grundrechtseinschränkungen soll entnehmen können (sog. Informationsfunktion).206

Verstößt der Gesetzgeber gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2, so hat dies die Nichtigkeit des Gesetzes zur Folge.207

Ein Beispiel für die Befolgung des Zitiergebots findet sich in § 20 VersG.

283Infolge der restriktiven Handhabung des Art. 19 Abs. 1 S. 2 durch die Rechtsprechung des BVerfG ist die praktische Bedeutung des Zitiergebots gering.208 Einleuchtend ist, dass Art. 19 Abs. 1 S. 2 auf vorkonstitutionelle Gesetze keine Anwendung findet, denn da Art. 19 Abs. 2 noch nicht galt, konnte er vom Gesetzgeber auch nicht eingehalten werden.209 Gleiches soll aber gelten, wenn ein nachkonstitutionelles Gesetz lediglich bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholt.210

Art. 19 Abs. 1 S. 2 betrifft seinem Wortlaut entsprechend zudem nur den Fall, dass „ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden“ soll, da das Zitiergebot andernfalls eine „die Gesetzgebung unnötig behindernde leere Förmlichkeit“211 wäre. Das Zitiergebot dient nur

„zur Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines speziellen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können.“212

284Art. 19 Abs. 1 S. 2 findet daher nach Auffassung des BVerfG auf vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte keine Anwendung.213 Das Zitiergebot bezieht sich überdies nicht auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1, da diese von vornherein nur unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet ist und die Einhaltung des Zitiergebots zur „reinen Förmelei“ verkäme.214 Auch allgemeine Gesetze i. S. d. Art. 5 Abs. 2 fallen nicht unter den Zitierzwang.215 Von Art. 19 Abs. 1 S. 2 ausgenommen sind ferner berufsregelnde Gesetze216 sowie Inhalts- und Schrankenbestimmungen i. S. d. Art. 14 Abs. 1 S. 2.217

285d) Das Verbot des Einzelfallgesetzes gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1. Art. 19 Abs. 1 S. 1 verlangt, dass grundrechtseinschränkende Gesetze allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Die Vorschrift enthält eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes, indem sie dem Gesetzgeber verbietet, aus einer Reihe gleichartiger Sachverhalte willkürlich einen Fall herauszugreifen und zum Gegenstand einer Ausnahmeregelung zu machen.218 Darüber hinaus steht das Verbot des Einzelfallgesetzes in Zusammenhang mit dem Gewaltenteilungsprinzip.219 Der Gesetzgeber soll daran gehindert werden, in der Form des Gesetzes so konkret und individuell tätig zu werden, wie dies die Sache der Verwaltung ist.220

Wird das Verbot des Einzelfallgesetzes missachtet, so führt dieser Verstoß zur Nichtigkeit des Gesetzes.221

286Fraglich ist, ob die Reichweite des Art. 19 Abs. 1 S. 1 ebenso wie der Anwendungsbereich des Zitiergebots zu beschränken ist. Obwohl der Wortlaut der Vorschrift diesen Schluss nahe legt, so soll das Verbot des Einzelfallgesetzes nach h. M. für alle grundrechtsrelevanten Gesetze gelten.222 Die praktischen Auswirkungen dieser Frage sind indes gering.223

287Ein Einzelfallgesetz liegt vor, wenn das Gesetz nur für einen abschließend bestimmten Adressatenkreis gilt und seine Anwendung auf weitere, zukünftige Fälle von vornherein ausgeschlossen ist.224 Art. 19 Abs. 1 S. 1 will verhindern, dass zielgerichtet Grundrechte einzelner Personen eingeschränkt werden.225

Ein Verstoß gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes ist auch gegeben, wenn sich das Gesetz nach der Intention des Gesetzgebers auf einen konkreten Fall beschränken soll, diese Absicht jedoch durch eine abstrakt-generelle Formulierung des Gesetzes verschleiert wird.226 Nach der Rechtsprechung des BVerfG handelt es sich um ein getarntes Individualgesetz,

„wenn der Gesetzgeber ausschließlich einen bestimmten Einzelfall oder eine bestimmte Gruppe von Einzelfällen regeln will und zur Verdeckung dieser Absicht generell formulierte Tatbestandsmerkmale dergestalt in einer Norm zusammenfasst, dass diese nur auf jene konkreten Sachverhalte Anwendung finden kann, die dem Gesetzgeber vorschwebten und auf die die Norm zugeschnitten ist. Es muss also zunächst die Feststellung gerechtfertigt sein, dass der Sache nach ein Individualgesetz vorliegt; erst dann ist für die weitere Prüfung Raum, ob der Gesetzgeber einer Norm absichtlich eine Formulierung gegeben hat, die deren Individualcharakter verbergen soll.“227

288Art. 19 Abs. 1 S. 1 schließt hingegen die gesetzliche Regelung eines Einzelfalles dann nicht aus,

„wenn der Sachverhalt so beschaffen ist, dass es nur einen zu regelnden Fall dieser Art gibt und die Regelung dieses singulären Sachverhalts von sachlichen Gründen getragen wird.“228

289Ein unzulässiges Einzelfallgesetz liegt nicht schon dann vor, wenn der Gesetzgeber anlässlich eines konkreten Sachverhalts oder in einer bestimmten historischen Situation tätig wird. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein sog. Maßnahmegesetz (Anlassgesetz), das von Art. 19 Abs. 1 S. 1 nicht erfasst wird.229 Entscheidend ist, dass das Gesetz nach seiner abstrakt gehaltenen Fassung Geltung für eine Vielzahl von Fällen beansprucht, so dass sich nicht übersehen lässt, auf wie viele und auf welche Fälle das Gesetz Anwendung findet.230

290e) Bestimmtheitsgebot. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3) gebietet, dass die Adressaten einer Regelung ihr Verhalten auf deren Wirkungen und Folgen einstellen können.231 Das können sie aber nur tun, wenn sie überhaupt erkennen können, was die Norm von ihnen verlangt. Aus diesem Grund müssen Gesetze hinreichend bestimmt sein.

Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots hängen ganz wesentlich von der Wirkungskraft bzw. Eingriffsintensität der in Rede stehenden Norm ab. Je stärker eine Regelung Freiheitsrechte von Bürgern beschränkt, desto schärfere Maßstäbe gelten für ihre Bestimmtheit.232 Das zeigt sich besonders deutlich bei Strafgesetzen, deren Bestimmtheit sogar nochmals explizit vom Grundgesetz gefordert wird (Art. 103 Abs. 2). Da präventive Freiheitsentziehungen ebenso intensiv in Art. 2 Abs. 2 eingreifen wie Freiheitsstrafen, enthält Art. 104 Abs. 1 ein dem Art. 103 Abs. 2 vergleichbares Bestimmtheitsgebot, der Gesetzgeber muss deshalb also auch Freiheitsentziehungen in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise regeln.233

Das Bestimmtheitsgebot steht allerdings der Verwendung von Generalklauseln oder unbestimmten Rechtsbegriffen nicht entgegen. Diese sind vielmehr unverzichtbar, damit Regelungen überhaupt abstrakt-generell wirken und auf diese Weise eine Vielzahl von Einzelfällen erfassen können.234

Beispiele: „Öffentliche Sicherheit und Ordnung“ in den polizeirechtlichen Generalklauseln (z. B. §§ 13, 16 SOG M-V), „gute Sitten“ (§§ 138, 826 BGB), „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) oder auch „Unzuverlässigkeit“ (§ 35 Abs. 1 GewO).

Auch wenn der Wortlaut einer Regelung zunächst unklar oder mehrdeutig erscheint, ist sie allein deswegen nicht in verfassungswidriger Weise unbestimmt. Sofern sich ihre Bedeutung mithilfe historischer, systematischer oder teleologischer Auslegung ermitteln lässt oder sie durch eine langjährige Rechtsprechung konkretisiert wurde, ist ihre Wirkungsweise mit hinreichender Bestimmtheit erkennbar.235 Das Bestimmtheitsgebot enthält also nur einen Mindeststandard für die Formulierung von Normen.

Hinweis für die Fallbearbeitung: Eine Regelung ist erst dann als unbestimmt anzusehen, wenn eine Auslegung keine Klarheit herstellen kann. Nur aufgrund eines mehrdeutigen Wortlauts darf nicht gefolgert werden, dass eine Regelung verfassungswidrig ist. Es gilt: Auslegung vor Unbestimmtheit!

Staatsrecht II

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