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I.Überblick und Normstruktur 1.Zur Bedeutung der Menschenwürde

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308Art. 1 Abs. 1 erklärt die Menschenwürde für unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die Garantie der Menschenwürde als Ausgangspunkt der Verfassung „stellt klar, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt“.1

309Der Parlamentarische Rat stellte das Bekenntnis zur Menschenwürde an die Spitze des Grundgesetzes, „um den ganzen Geist des neuen Staatswesens in seinem Gegensatz zu der im Mai 1945 vernichteten Staatsordnung darzutun.“2 Das neue Staatsverständnis in Abkehr von der nationalsozialistischen Diktatur zeigte sich bereits im Bekenntnis zur Menschenwürde, das in die vorkonstitutionellen Landesverfassungen der Länder Bayern (1946), Hessen (1946) und Bremen (1947) aufgenommen worden war.3

310Das BVerfG führt zur Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 aus:

„Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar.“4

311Als oberster Verfassungswert sind die in Art. 1 niedergelegten Grundsätze einer Verfassungsänderung entzogen (vgl. Art. 79 Abs. 3).

Klausurhinweis: Neben den typischen Fallgruppen des Art. 1 Abs. 15 kann die Menschenwürdegarantie bei Verfassungsänderungen über Art. 79 Abs. 3 zum Prüfungsmaßstab eines verfassungsändernden Gesetzes werden. Es muss dann geprüft werden, ob eine Verfassungsänderung mit den in Art. 1 niedergelegten Grundsätzen vereinbar ist. Eine Verfassungsänderung unmittelbar an anderen Grundrechten zu prüfen wäre dagegen fehlerhaft.

312Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 erfasst über den durch Art. 1 vermittelten Schutz der Menschenwürde hinaus auch den Menschenwürdegehalt der sonstigen Grundrechte, soweit deren Schutzbereich mit dem des Art. 1 Abs. 1 übereinstimmt.6

Bsp.: Der Bundestag möchte in Deutschland den Islam auf Grund steigender islamistischer Terroranschläge verbieten. Um Probleme mit Art. 4 Abs. 1 zu vermeiden, beschließt er ein verfassungsänderndes Gesetz, das einen Abs. 2a mit folgendem Wortlaut in Art. 4 einfügt: „Die Ausübung des Islam ist verboten“. Wäre das Gesetz materiell verfassungsgemäß?

Da eine Verfassungsänderung in Rede steht, wäre es falsch, das Gesetz an Art. 4 Abs. 1 und 2 zu prüfen. Prüfungsmaßstab ist vielmehr Art. 79 Abs. 3 (Ewigkeitsgarantie) i. V. m. Art. 1 Abs. 1. Teil der Menschenwürde ist auch ein sog. religiöses Existenzminimum, d. h. das Recht, seinen Glauben zumindest im Privaten zu leben.7 Die Abschaffung der Religionsfreiheit für eine bestimmte Religion stellt daher einen Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 dar. Das Gesetz ist verfassungswidrig. Zur Klarstellung: Art. 19 Abs. 2 bildet insoweit keinen Prüfungsmaßstab, da diese Norm zwar den einfachen, nicht aber den verfassungsändernden Gesetzgeber bindet.8

313Weil die Menschenwürde innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes den höchsten Rechtswert darstellt9, gehört ihre Achtung und ihr Schutz zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes.10 Sie weist deshalb auch einen Bezug zum Demokratieprinzip auf. Das BVerfG hat dazu ausgeführt:

„Das Grundgesetz geht insoweit vom Eigenwert und der Würde des zur Freiheit befähigten Menschen aus und verbürgt im Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, zugleich den menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips.11

Das darf aber nicht missverstanden werden. Gemeint ist, wie sich aus dem Kontext der Entscheidungen ergibt, die grundsätzliche Möglichkeit der Bürger, in Freiheit und Gleichheit an Wahlen teilzunehmen und damit die Herrschaftsausübung zu legitimieren.12

314Die u. a. in der Menschenwürde zum Ausdruck kommende Verfassungsidentität ist dabei auch integrationsfest. Ihr muss trotz der in der Präambel und in Art. 23 Abs. 1 S. 1 zum Ausdruck kommenden und vom BVerfG mehrfach betonten Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes13 Rechnung getragen werden.14

Staatsrecht II

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