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Kapitel 9 40 000 v. Chr.

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Arget schlief an der Quelle. Den Tod des Magiers, seinen Traum, in Verbindung mit den Geschehnissen um seine Person und die neuen sonderbaren Gedanken waren im wachen Zustand, nicht zu verarbeiten. Zu den neuen Eindrücken kam der Fluch des Zauberers, der sehr ernst zu nehmen war. Häufiger starben verfluchte Stammesbrüder. Sie fielen, wie vom Blitz gefällt, tot um oder wurden von wilden Tieren angegriffen und zerfleischt.

Was wollte der alte Mann mit seinem Fluch? Ganz langsam erwachte Arget. Erschrocken fuhr er hoch. Doch … keine Gefahr. Die Stammesbrüder lagen in sicherem Abstand zu ihm; schnarchten und furzten.

Seine Gedanken überschlugen sich. Wie ein Wurm, fraßen sich Empfindungen und Begriffe in sein Gehirn, die er nicht verstand. Er dachte Sachen, die er nicht kannte.

Ängstlich ließ er den Blick wandern und tatsächlich … da lag der Stein im Sand. Seine Hand glitt zögerlich darauf zu und fasste ihn an. Schwache angenehme Empfindung strömte in ihn. Sein Körper kribbelte wohlig. Die verkrampften Muskeln wurden locker und genussvoll dehnend nahm er die neuen Gefühle auf.

Der Stein war nicht besonders groß. Ungefähr, wie eine Daumenkuppe. Wie sollte er ihn bearbeiten?

Die Überlegung rückte in den Hintergrund, weil neue Eindrücke in den Vordergrund traten. Veränderungen in der Zeit und durch die Zeit. Die Mulde und die Lichtung werden sich im Verlaufe der Zeit verändern. Er wusste nicht weshalb, ahnte jedoch, wie.

Ein weiterer Gedankensprung. Wie war es vor seiner Flucht?

Sein Bewusstsein spielte ihm einen Streich. Wieso saß er hier?

Tief in seinem Inneren hatte er Kenntnis davon, dass er sich vorwärts bewegen, weiter und weiter laufen sowie der Nahrung folgen musste. Der feste Platz seines Stammes am Fluss war nur vorübergehend. Wenn die lange kalte Zeit kam, mussten sie wandern.

Arget hatte Erinnerung daran, dass der Wandertrieb mit den schwierigen Verhältnissen seines Lebensraumes zusammenhing. Alles, was sein Stamm zum Leben brauchte, musste er der Natur gewaltsam entreißen.

Er konnte nicht begreifen, dass diese Gedanken in seinem Kopf waren. Bisher war es immer so gewesen, dass ein Bild in seinem Denken einen Drang auslöste. So musste er jagen oder Werkzeuge suchen oder sich auf Wanderschaft begeben.

Aber jetzt war es anders. Die vielen Bilder in seinem Kopf. Keines machte Sinn oder löste Zwang beziehungsweise eine Handlung aus. Sie waren da. Aber er konnte sie keinem mitteilen, da ihm und den anderen die Worte dafür fehlten.

Die Jahreszeiten wurden durch den Lauf der Sonne bestimmt, und wenn es kalt wurde, musste er sich in seine Höhle zurückziehen. Er wartete oft sehr lange, bis es wieder warm wurde.

Die Gedanken, die er nicht denken wollte, strengten an.

Unruhe weckte Arget. Der Stamm wollte, dass er den heiligen Ort verließ. Im Grunde musste er die Jagd fortsetzen. Für sein Vergehen verdiente er den Tod. Das war eben so.

Aber er wollte nicht. In ihm sträubte sich alles, die Flucht fortzusetzen. Er blieb einfach auf dem Boden sitzen und machte dem Stamm klar, dass er noch keine Lust hatte. Die Männer knurrten und drohten zur Quelle.

Letztendlich lagen sie murrend im Sand und beobachteten ihn. Dreizehn kalte Augenpaare registrierten jede seiner Bewegungen. Argets wundersame Rettung und die Heilung seiner Verletzungen konnte auch ein Signal der Großen Mutter sein. Sie dachten daran, wie er häufig kichernd und torkelnd über den Lagerplatz lief und mit jedem, seinen Schabernack trieb. Auch die vielen Begriffe, die er ihnen dann gab. Seine Zunge schien in diesem Zustand besonders beweglich und formte Laute, die schwierig nachzuahmen waren. Wenige Stunden nach einem solchen Anfall war er wieder normal … sofern man von normal denken konnte, wenn jemand mit schmerzverzerrtem Gesicht herumlief. Kopfschmerzen … die Große Mutter mutete ihm zu viel zu. Die Gedanken des Stammes waren in diesem Moment kollektiv. Deshalb sahen sie zum gleichen Zeitpunkt den Stein, der vor Arget im Sand lag.

Ein pechschwarzer, ebenmäßig geformter und glatter Kieselstein … matt … reflektierte keinerlei Licht und nicht größer, als die obere Kuppe eines Daumens. Hypnotisiert lag ihr Blick darauf. Doch … ein Stein … nicht als ein Stein.

Ein fürchterliches Geräusch riss sie aus der Lethargie. Arget stimmte einen seiner berüchtigten atonalen Gesänge an. Seine ehemaligen Nachbarn und Freunde betrachteten ihn mehr ärgerlich, als verblüfft – auch mit ängstlicher Neugierde. Sie waren vieles von ihm gewohnt. Er galt als sonderbarer Kauz, mit verrückten Ideen und Gedanken. Aber? … einen Zaubergesang stimmte man nicht ohne Grund an.

Argets Hände hoben sich gegen den Himmel. So elegant, wie seine Statur die Bewegungen zuließ, wiegte der Oberkörper. Die gleichmäßige Bewegung hypnotisierte die Stammesbrüder, die dem inneren Zwang gehorchend, die Bewegungen nachahmten und schwerfällig begannen, den Quellbereich zu umtanzen.

Arget umfasste mit beschwörenden überlieferten Bewegungen den Stein und hob ihn über seinen Kopf.

Die Tanzenden stockten. Was machte er denn jetzt schon wieder? Ein Werkzeug oder eine gar eine Waffe, war daraus nicht zu bearbeiten. Zu klein und das falsche Material.

Ein Sonnenstrahl, der mittlerweile tief stehenden Sonne, durchbrach oberhalb der Mulde die Baumwipfel und traf das Mineral. Aus der Schwärze des Steines schossen haarfeine reflektierende Sonnenstrahlen und trafen die tanzenden Menschen. Ein plötzlicher Windstoß ließ Äste und Blätter der Birken gespenstig gegeneinanderstoßen und rauschen.

Die Gruppe fiel gemeinschaftlich zu Boden und verdeckte die Augen. Was sie nicht sahen … konnte sie auch nicht sehen.

Argets Entsetzen sahen sie nicht. Aus seiner Brust entwich ein tiefer knurrender Schreckenslaut.

Aufgeschreckt durch das Geräusch schoben die Stammesgenossen die Finger auseinander und sahen, was nicht sein konnte: Argets Körper wurde von einer Aura hellen Lichtes umfasst.

Arget bewegte die Hände in bizarren Mustern durch die Luft und unterband die aufkeimende Panik der Gruppe. Fasziniert betrachteten sie ihn. Der Oberkörper wiegte leicht und die Bewegungen seiner langsam kreisenden Arme, beruhigten die Männer.

Erneut hob Arget zu einem beschwörenden Gesang an. So sehr die Melodie den Ohren schmerzte, die Macht der Töne dämpfte die Angst. Zwangsläufig wiegte die Horde hin und her.

Abrupt endete der Gesang. Berechnend beobachtete er seinen Stamm. Waren sie ihm mittlerweile wohlgesonnen? Konnte er es wagen, den sicheren heiligen Platz zu verlassen?

Das Risiko war zu groß. Der Gedanke kam aus dem Nichts. Ein Versuch war es wert. Er hob seinen Kiesel in die Luft und machte das Zeichen für Zauber.

Nein … das brachte nichts. Aggressiv stampften seine Kontrahenten mit den Füßen auf den Boden und machten Anstalten, die Bannlinie zu überschreiten. Für solch einen kleinen Stein einen Zaubergesang zu verschwenden, war Lästerung der großen Mutter. Dazu noch kurz hintereinander der Zweite – und wiederum für den wertlosen Stein, aus dem er kein Werkzeug fertigen konnte.

Zaubergesänge waren wichtig und regelten das tägliche Leben. Für alle Situationen des Lebens gab es einen Zauber. Aber er durfte nicht nutzlos verschwendet werden, sonst wurde er wirkungslos. Häufig hingen davon Leben und Tod ab. Langsam und unaufhaltsam zog jedoch die Unsicherheit in ihr Denken. Das Licht? Wirkte etwa der Trank des Magiers? Hatte der Tod des Zauberers eine besondere Bedeutung?

Die Angst hielt sie davon ab, auf den heiligen Platz zu stürzen. Unschlüssig standen sie herum.

Argets Gesicht strahlte entrückt, als wenn ihm größtes Glück zuteilwurde. An seinem Hals, dort wo ihn der magische Knochen des Zauberers getroffen hatte, entstand ein Mal in der Form des Kiesels. Mit seinen Empfindungen wurde es sichtbar. Das Zeichen nahm einen zartrosa Farbton an, pulsierte jedoch zu einem dunklen Rot, als wolle es jeden warnen, sich mit dem Gezeichneten abzugeben.

Die Truppe zog sich ein wenig mehr zurück. Er wurde ihnen unheimlich.

Während dessen wurde Arget von den unterschiedlichsten Empfindungen überschwemmt. Glück, Wohlbehagen, Tatendrang und vieles mehr, das er nicht in Gedanken fassen konnte … denen er jedoch genussvoll seinen Körper und Geist überließ. Langsam schloss er seine Hand zur Faust. Diesen Stein wollte er nicht mehr hergeben.

*

KYRA

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