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Kapitel 15 1997
ОглавлениеMartin lebte im ältesten Haus des Dorfes, dem man die unterschiedlichen Baustile der vergangenen Jahrhunderte deutlich ansah. Die ineinander verschachtelt angebauten Gebäudeteile zeugten allesamt von, mit teils von der Witterung dunkel gewordenen und teils, in neuen Bauabschnitten, hellen Feldbrandsteinen gebaut, Generationen andauernder Bautätigkeit. Die Besitzer des Gebäudes hatten in den Jahrhunderten, ihre Vorstellungen verwirklicht. Aus einem Anbau ragte ein kleiner runder Turm. Gegenüber zog sich die linke Dachhälfte fast bis auf den Boden herunter. An der Vorderseite des Hauses wurden die Fenster und die große Eingangstüre von kunstvollen Backsteinornamenten umrahmt. Mit dem Dachgeschoss ragte das Gebäude drei Stockwerke hoch und bot aus der Mansarde einen Überblick über das gesamte Dorf.
Am Ende des Grundstücks erhob sich ein großer Hügel, mehr eine aufgesetzte Kuppel, mit erstaunlich glattem gewölbtem Hang, auf dem karges Gras um Halt kämpfte. Fast kreisrund um die Erhebung herum verlief ein ungefähr dreißig Meter breiter Sandstreifen, der unglaublich deplatziert in der Gegend wirkte. Auf dem Sand klebte ein uraltes kleines Gebäude gegen den Hügel. Das Haus war – wie alles auf seinem Grund - aus Backsteinen errichtet, und schimmerte zwischen uralten Birken hervor. Verwitterte schwarze Balken durchzogen das Mauerwerk. Die Zeit hatte das ihre getan und es schief in die Erhebung gezogen. Fast tiefschwarze Tonschindeln reihten sich zum Schutz über das kleine Gebäude aus dem Hügel heraus. Es hatte viele Jahre mehr auf dem Buckel, als das Wohnhaus.
Am Rande des Sandzirkels, in gerader Linie von der Kate, sprudelte eine kleine Quelle, deren Wasser in schlängelnden Bewegungen durch ein Bachbett, in Richtung des Heidegebietes floss. Das plätschernde Nass erzählte die ewig alte und neue Geschichte der Bewegung und des Kreislaufs, der immer wiederkehrenden Erneuerung. Die Quelle und das Bachbett waren mit alten, fast blau gebrannten, Feldbrandsteinen gefasst. Viele Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte des fließenden Wassers hatten den Stein glatt werden lassen. Uralte Birken umstanden den Ort und gaben ihm ein mystisches, fast heidnisches Gepräge. Vom Ursprung der Quelle führte ein Weg in Richtung des Dorfes. Rechts und links wurde er von sehr alten Rosen- und Beerenhecken gesäumt.
Schon seit Jahren wurde Martin durch tief sitzende Ruhelosigkeit in das Backsteinhäuschen am Hügel getrieben. Der tägliche Besuch hier wurde ein Bestandteil seines Lebens. Die roh gezimmerte Türe des Gartenhauses - das Holz war so dunkel wie das der Balken – ließ sich nicht verschließen. Die Notwendigkeit bestand auch nicht. Niemand wagte sich in das Innere des Gebäudes. Eine unsichtbare Schranke hielt Besucher ab – selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Die Kate war sein Schrein. Hier lagen die Schnittpunkte der Elemente, die genau an dieser Stelle einen Energieknoten über das Haus legten. Wie auch jetzt konnte er den Ruf des alten Gebäudes nicht ignorieren.
Er betrat das im Halbdunkel liegende Zimmer. Kleine Fenster, eher Luken, ließen einige Sonnenstrahlen herein, in deren Licht winzige Staubkörner tanzten. Die Möblierung bestand aus dem grob gefertigten Tisch und ebensolchen Stühlen sowie der Bank. Gegenüber dem Eingang lag die alte Herdstelle, deren breiter Kamin durch das Dach brach. Der Rauchabzug wurde nach oben breiter, weil er gegen die sanfte Rundung der Naturwand des Hügels gemauert war. Im Raum fanden sich Gebrauchsspuren aus den Jahrhunderten. Der Fußboden war – wie sollte es anders sein - aus den gleichen Feldbrandsteinen, wie das Haus gefertigt. Martin tat einen Schritt in die Vergangenheit, als er die Schwelle überschritt. Uralte Felle, teils von Tieren, die er nicht zuordnen konnte, vermittelten Behaglichkeit.
Zielsicher fasste seine Hand auf das Bord neben dem Kamin und nahm eine Petroleumlampe herunter. Gekonnt entzündete er den Docht und sogleich flackerte dumpfe Helligkeit durch den Raum. Ebenso schnell und routiniert entzündete er das Holz in der Herdstelle. Das Feuer verdrängte flackernd das Dämmerlicht und die Kühle des Raumes.
Martin zog einen Stuhl heran und ließ sich geruhsam darauf nieder. Vorsichtig, mit zitternden Fingern, zerriss er das Papier und hielt einen kleinen Schmuckkarton in der Hand. Die Postbotin hatte vor einer halben Stunde das Päckchen gebracht. Trotz des Wissens, was das kleine Behältnis enthielt, zögerte er den Augenblick des Öffnens hinaus.
Martin spürte bekannte Empfindungen. Kribbeln in den Händen, Pulsieren im Körper und wunderbare Ruhe seines Verstandes. Genau in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie abhängig er von dem Stein war.
„Nicht irdisch?“, fragten seine Gedanken voller Unverständnis und suchten eine Erklärung. „Kam denn nicht alles aus dem Weltraum? Aus den Sternennebeln? Aus dem Urknall? Wieso konnte der Stein weniger irdisch sein, als all die anderen Dinge, die ihn umgaben?“ Er öffnete den Deckel und der Kiesel lag schwarz, matt und unscheinbar vor ihm. Martin hielt den schönsten Edelstein, ein Familienmitglied, in den Händen.
Sanft pulsierte das Mineral im Einklang mit seinen Empfindungen.
Und da war sie wieder … die Berührung seines Geistes. Sanft, fast tastend huschten Wahrnehmungen durch die Nervenbahnen. Gedanken, die nicht fassbar waren … als wolle ihm jemand etwas mitteilen. Konnte der Stein der Sender einer außerirdischen Macht sein? War es möglich?
Vor ungefähr drei Jahren spürte Martin die Berührung in seinen Gedanken erstmals - hier in der Kate. Damals wachte er aus tiefem Schlaf auf. Er hatte die Illusion einer Person. Der Name oder Begriff, Hein, spukte durch seinen Kopf und ließ ihn nicht mehr los.
Martin schüttelte die Gedanken ab und gab der unwiderstehlichen Anziehungskraft nach, die ihn in den zweiten Raum der Kate zog. Er ging hölzern hinüber, fiel traumwandlerisch in den Holzkasten, der als Bett diente, und hieß die Schauer willkommen, die seine Haut überzogen, bevor er die Augen schloss. Aus dem Hintergrund schlich es heran. Der Schlaf kam wie ein Schlag. Übergangslos reduzierte der Verstand die Lebensfunktionen. So stellte er sich das Sterben vor. Häufig hatte er, ganz hinten in seinem Kopf, Angst, die seinen Verstand veranlasste – in einer letzten Schutzfunktion – das Weggleiten in die Bewusstlosigkeit, abzubrechen. Diesmal jedoch genoss er das tiefe Versinken in die Schwärze.
In der Traumwelt nahm das alte Gartenhaus eine bedeutende Rolle ein. Seit Jahrhunderten schmiegte es sich, als einziges Gebäude zwischen den Bäumen in den Hang und war der Ausgangspunkt seiner Visionen. Der Bach lief in gleichem Lauf, den Weg zum großen Meer. Menschen verschiedener Zeitepochen bearbeiteten denselben Garten, den er heute zum Anbau des Gemüses nutzte.
Aber lange, bevor die Kate entstand, rasteten Steinzeitmenschen an diesem Platz. Menschen, die ihm mittlerweile so bekannt waren, als hätte er täglich und sein ganzes Leben lang, Umgang mit ihnen. Die Vorstellung, dass das Geschehen auf der gleichen Zeitschiene ablief … übereinander, nebeneinander oder sonst etwas, machte ihn verrückt, weil sein Horizont nicht zum Verständnis reichte.
Nur eines war klar, diesem Ort kam eine besondere Bedeutung zu.
Er war kein Hindu, dennoch machte er sich Gedanken über den ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt und ähnlich übersinnliche Dinge. Faktoren, mit denen er ebenso wenig anfangen konnte, wie mit den anderen Sachen, die ihm passierten.
Die Berührung in seinem Gehirn ließ nicht nach. Fremdartig, kalt und beängstigend. Ein fremdes Gefühl suchte Einlass in seine Gedanken. Es knisterte wie bei einer schlechten Rundfunkübertragung. Die Frequenzen rauschten und schienen eine Verbindung zu verhindern.
Martin unterzog sich einer kurzen Selbstanalyse. Er empfand keine Furcht. Bedenken, die er eingestand und auf einen Dachschaden deuteten, schob er beiseite. Deshalb war er gespannt darauf, welche weitere Entwicklung die Angelegenheit nahm. Im hintersten Winkel vermeinte er, eine schwache Empfindung – wie eine Stimme – zu spüren. Er umfasste den Stein fester und konzentrierte sich. Die latente Ahnung wurde Gewissheit. Gespannt öffnete er seinen Verstand und tatsächlich … er dachte fremde Gedanken.
„Na endlich. Ich dachte schon, es gelänge nie mehr.“
„Wer ist da? Wer bist du?“, dachte Martin.
„Du weißt es doch. Ich kann in dir lesen wie in einem Buch.“
„Ich habe eine Ahnung. Von Wissen kann nicht die Rede sein. Also. Wer bist du?“
Ein leichtes Lachen klang durch ihn.
„Wer ich bin? Ich weiß es nicht. Aber nenne mich Hein.“
Martin spürte, das bekannte leichte Kribbeln des Steines. Es war intensiver denn je.
„Das ist keine Antwort. Bist du in dem Stein? Woher kommst du?“
„Fragen, nichts als Fragen. Nimm einfach hin, dass ich da bin. Dass ich es endlich geschafft habe.“
Martins Gedanken überschlugen sich. Sie gingen in die eine, dann wieder in die andere Richtung, um dann gleich wieder, alles zu verwerfen. Fast hätte er den Kontakt unterbrochen.
„Langsam, langsam“, dachte er eindringliche Gedanken. „Nicht so durcheinander mein Freund. Sonst können wir uns nie unterhalten. Und übrigens, ich muss mich erst einmal selbst zu Recht finden. Der Vorgang ist neu für mich.“
„Neu für dich? Was denkst du, wie das für mich ist? Ich will jetzt endlich wissen, wer du bist. Was meinst du, wie ich mich fühle“, jähzornig schoss ihm Blut in den Kopf und überlagerte jeden klaren Denkprozess.
Er war wieder allein. Die fremden Gedanken waren weg. Verzweiflung packte ihn. Hatte er alles geträumt? Wurde er verrückt? Was tat er hier? War er dabei seine Persönlichkeit zu spalten? Er beabsichtigte nicht, als Albert Einstein oder Napoleon, in einer geschlossenen Psychiatrie zu enden.
Trotz seiner Angst öffnet er, mit äußerster Konzentration, seinen Verstand. Er umklammerte den Stein und entspannte sich erst, als er wieder die fremden Gedanken dachte.
„Du solltest doch vorsichtig sein. Mit deiner Erregung wirfst du mich aus dem Kontakt. Akzeptiere zunächst, was mit dir geschieht. Dann wird es für uns beide leichter.“
„Du hast gut reden. Du bist in meinem Kopf. Hältst du das für normal?“
„Normal nicht. Du musst mich auch verstehen. Jahrtausende versuche ich, den Kontakt herzustellen. Endlich gelingt es mir und du machst mir Vorwürfe?“
„Das ist doch wohl das Letzte. Ich bin der erste Mensch, dem jemand im Kopf herumspukt, und du tust das ab, als sei es nichts?“ Die Verbindung flackerte wieder und drohte abzureißen.
„Nein, nein. Reiß dich zusammen, sonst wird der Kontakt wieder unterbrochen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch einmal eine solche Gelegenheit bekommen“, Hein setzte alles daran, die Verbindung nicht zu verlieren. „Du hast doch mit den Jahren deine Träume hingenommen. Jetzt machen wir nichts anderes. Nur, wir koppeln zurück … also, nicht einseitig.
„Okay, okay. Ich wollte ja auch nur wissen, was mit mir geschieht. Du bist also echt? Ich bin nicht verrückt?“
„Das kann ich nicht beurteilen.“
„Scheiße. Wer bist du überhaupt?“
„Scheiße, gleich Fäkalie, ist ein durch den Darm ausgeschiedenes Verdauungsprodukt. Sie besteht aus Wasser, Zellen, Darmschleimhaut, Sekreten, Nahrungsschlacken, Gärungs- und Fäulnisprodukten …“
„Was soll das? Ich will wissen, wer du bist.“
„Ich weiß nicht, wer ich bin. Und wenn ich es nicht weiß, wie willst du es verstehen?“
„Du bist ganz schön eingebildet.“
„Mag sein. Ich definiere mich als Energie - als Bewusstsein – als Sammlung aller Gedanken der Menschen, die je in dieser Mulde gelebt haben. Du und die anderen Menschen haben sich oft gefragt, was mit der Energie im ewigen Kreislauf des Lebens und Sterbens geschieht. Oder nicht?“
„Das ist schwer zu verstehen.“
„Habe ich doch gleich gesagt. Ich versuche es einfacher. Fass die Möglichkeit ins Auge, dass ich eine Art Schutzgeist bin, ein Beobachter, der diesen Lebensbereich begleitet. Auch für mich ist diese Erklärung nicht schlüssig. Vor Millionen von Jahren war ich auf einmal da. Eine Bedeutung für mich musste ich selbst finden. Meine Entscheidungen für mich können genauso falsch sein, wie viele deiner Entscheidungen für dich.“
„Ich denke, jetzt redest du philosophischen Quatsch. Schutzgeist? Beobachter? Vor Millionen von Jahren? Was soll das?“
„Dein Verstand ist so klein und beengt, dass du mich einfach nicht verstehen kannst.“
„Jetzt geht mir dein überhebliches Getue aber auf den Geist. Das ist mein Gehirn und mein Verstand, also denke so, dass ich dummer Mensch es verstehe. Ich hätte größte Lust mich zurückzuziehen.“
Martins Konzentration ließ den Bruchteil eines Augenblicks nach.
„Halt, halt. Mache keinen Unsinn. Dein Verstand ist einfach nicht in der Lage die jetzige Situation zu verarbeiten. Akzeptiere einfach.“
„Weshalb habe ich in meine permanenten Träume? Bist du der Stein?“
„Nein. Der Stein ist ein Katalysator. Er ermöglicht, dass wir uns jetzt unterhalten.“
„Aber wieso?“
„Wenn ich das wüsste, wäre ich auch schlauer. In den Jahrhunderten und Jahrtausenden hat es nur paar Hände voll Menschen gegeben, bei denen eine Verbindung möglich gewesen wäre.“
„Und weshalb ich?“
„Wieder keine Antwort. Der Stein hat eine Aura, die sich, nach welchen Gegebenheiten auch immer, auf bestimmte Menschen einschwingt. Alphastrahlung des Gehirns und der natürliche Puls des Steines stimmen sich aufeinander ab. Mensch und Stein sind von einer Aura umgeben und bilden eine Einheit.“
„Habe ich auch eine solche Aura? Kann ich sie sehen?“
„Du hast eine Aura. Nach meinen Erkenntnissen kannst Du sie nicht sehen. Die Frequenzen sind deinen Augen verborgen.“
„Die Aura des Steines habe ich auf einem Foto gesehen. Ich habe den Stein untersuchen lassen, weil ich wissen wollte, was damit los ist.“
„Ich sehe ein Abbild in deinen Gedanken. Genau ein solcher Strahlenkranz umgibt dich auch.“
„Aber, was steckt dahinter? Ich verstehe das alles nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Ja. Interessiert dich denn nicht, was hier und jetzt mit uns geschieht? Was steckt in der Kombination, die uns gemeinsam denken lässt? Machst du dir keine Gedanken?“
„Sicherlich. Seit Jahrhunderten denke ich darüber nach.“
„Und?“
„Kannst du auch etwas anderes als Fragen stellen? Ich kann mir nur Gedanken machen. Du kannst mehr.“
„Vorhin hast du mir mehr oder weniger gesagt, dass ich blöd bin. Und jetzt kann ich mehr als du?“
„Du kannst dich bewegen - ich bin an diesen Ort gefesselt. Jahrtausende hatte ich nur deinen Stein in der Mulde. Er lag einfach da. Ich konnte ihn ansehen und versuchen, in Kontakt zu treten … alles sinnlos, trotz des Bewusstseins, dass in allem eine Bedeutung steckt. Du, in deinem kurzen Leben, hast schon wesentlich mehr herausgefunden, als ich in der langen Zeit. Das muss ich anerkennen.“
„Endlich ein wenig Anerkennung. Ich verstehe deinen Frust. Mich nervt einfach, nicht zu wissen, was mit dem Stein ist, was dahinter steckt. Aber, wie ich heraushöre, kannst du mir auch nichts Genaueres sagen. Oder hast du etwas Besonderes feststellen können?“
„Lediglich, dass er eine Art Katalysator für den Kontakt mit dir, also den Menschen darstellt. Ich habe alle Zeit der Zeit - sie ist für mich, wie ihr so schön denkt, relativ. Ich reise durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich sehe alles und verarbeite alles. Der Stein jedoch bleibt mir verschlossen. Er hat Barrieren, die ich nicht durchschreiten kann.“
„Rätselhaft. Du kannst dich über den Stein mit mir verständigen? Aber er verweigert sich dir und mir? Weshalb?“
„Vielleicht ist die Zeit in deiner Zeit noch nicht gekommen.“
„Ich verstehe dich nicht.“
„Zeit ist für dich begrenzt. In deinem Bewusstsein ist Zeit die Abfolge eines Geschehens, die du als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Entstehen und Vergehen der Dinge erfährst. Die Gegenwart lässt sich als Grenze zwischen noch nicht und nicht mehr, bestimmen.“
„Ja. Und was ist falsch daran?“
„Deine Zeit ist ein Begriff, den sich die Menschen gemacht haben, um sich in ihrer Welt zu Recht zu finden.“
„Nochmals die Frage: was ist falsch daran? Ich habe während meiner Ausbildung auch schon einmal etwas von Relativitätstheorie gehört.“
„Ja sicher. Aber, du verstehst es nicht. Zeit ist komplex. Sicherlich kann man sie – wie ihr es handhabt - in Abschnitte unterteilen. Aber mit dem Ableben eines Menschen steht die Zeit doch nicht still. Sie existiert weiter. In der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Du hast ein anderes Zeitempfinden als andere Menschen, trotz der Einteilung in Abschnitte.“
Martins Verstand stockte einen Augenblick.
„Wenn meine Zeiteinteilung nicht deine Zeit ist … die des Steines nicht unsere …“, er verlor den Faden, als seine Gedankenmaschinerie versuchte, den Kern zu erfassen.
„Nein, nein. Öffne dich. Der Kontakt ist in Gefahr. Akzeptiere für den Moment einfach.“
„Akzeptanz setzt Vertrauen voraus. Es ist so neu.“
„Wenn ich mir deine Zeitbegriffe zu eigen mache, werden wir sehr schnell eine Antwort auf die Bedeutung des Steines bekommen.“
*
Nachdenklich kreisten Martins Gedanken um die Papiere, die, auf der großen roh gezimmerten Holzplatte, vor ihm lagen. Der riesige Fremde, der ihn augenscheinlich verfolgte, stand in enger Beziehung zu den Dokumenten – vermutete er zumindest. Mehr als eine Ahnung hatte er nicht. Auf jeden Fall sollte er seinen Schatz nicht durch die Gegend tragen. Im Grunde wollte er auch nicht, dass jemand davon erfuhr. Nicht, bevor er jeden Satz durchgearbeitet hatte.
Als er vor einiger Zeit die riesige Höhle entdeckte, stieß er zwangsläufig auf die Nische, die ein vorsintflutliches Büro war.
Zwei Hälften eines dicken Eichenstamms ruhten gegeneinandergestellt auf dem Boden und bildeten den großen Tisch. Sieben Mal vier Meter maß die schmucklose, doch edle, Arbeitsplatte. Jemand hatte in der Vergangenheit, mit großer Fertigkeit, die Oberfläche bearbeitet. Soweit er beurteilen konnte, befanden sich mehrere Arbeitsplätze um die riesige Platte. Neben Pergamenten, Lederrollen, Papyrus und Materialien, die er nicht kannte, fand er über die gesamte Fläche verteilt, Kopierpapier. Dicht beschrieben, in den unterschiedlichen Stilen der Jahrhunderte. Martin konnte das beurteilen, weil er nach seinem Maschinenbaustudium noch Geschichte belegte. Mit der Landwirtschaft hatte er es nicht so. Nach dem frühen Tod seiner Eltern verpachtete er die Wirtschaftsflächen an Bauern des Dorfes. Den Hügel, den Bereich der Quelle und zwei Hektar für seine beiden Pferde behielt er. Finanzielle Sorgen kannte Martin nicht. Seine Vorfahren hatten so viel Geld gescheffelt, dass es für mehrere Leben reichte.
Sein Fund bereitete ihm Schwierigkeiten. Die gesamte Situation begann, ihm über den Kopf zu wachsen. Martins Leben veränderte sich täglich, ohne, dass er Einfluss darauf nehmen konnte. Vielleicht konnten die Texte ihm Aufschluss darüber geben, was insgesamt geschah. Die Schriftstücke und Zeichnungen waren nicht chronologisch geordnet. Sie waren teils in lateinischer Sprache, so viel konnte er ausmachen, teils in unbekannter Schrift verfasst.
Die wenigste Mühe bereiteten ihm, die in jüngerer Vergangenheit niedergeschriebenen Mitteilungen. Viele Sätze musste er laut vorlesen, um eine Sprachmelodie zu entwickeln. Martin saß jetzt schon Stunden über den Aufzeichnungen. Sie waren ein Teil der Geschichte, der Geschichten, die er aus den Erzählungen der Alten kannte. Von Kind an fesselten ihn die Fabeln zu den Kelten und ihren Bräuchen. Doch auch die, die in noch fernerer Vergangenheit zurückgingen. Scheu und voll Hemmungen sah er immer wieder zu einer Ecke des Tischs, wo das Papier, bestimmt einen Meter hoch, gestapelt lag. Er wusste genau, nach dieser Lektüre würde sein Leben nicht mehr so sein, wie vorher. Doch genug der Gedanken … es war Zeit eine Pause einzulegen, um das Gehirn frei zu blasen. Er hielt kurz inne und nahm den Faden auf, der latent seine Überlegungen störte. Woher kam das Kopierpapier? Ein Schauder durchlief seinen Körper - er musste nach draußen.
Als er nach draußen trat, nahm er das Grundstück anders wahr, als bisher. Die malerischen alten Gebäude wirkten wie eine Märchenlandschaft der Gebrüder Grimm. Generationen hatten ihre Spuren hinterlassen. An der Quelle stillte er seinen Durst. Das frühjährliche Laubdach der Birken rauschte.
Martin brauchte Bewegung. Er schlenderte zum Garten und nahm die unterbrochene Pflanzarbeit wieder auf. Er harkte den Boden und war im Begriff, Salat zu setzten, als er in seiner beschaulichen Ruhe gestört wurde.
„Heh, Kleiner. Bist du fleißig?“ Britta kam wie der leibhaftige Frühling in den Garten gestürmt.
Gemächlich sah Martin auf. „Du kommst mir gerade richtig. Nimm die Hacke, dann kannst du dort vorne zwischen den Blumen Unkraut jäten“, er deutete in eine Ecke seines Gartens.
„Guten Tag, mein lieber Schatz.“ Sie beugte sich hinunter und gab ihm einen dicken Schmatz auf die Wange. „Das ist doch das Mindeste, was ich erwarten kann. Du bist mir vielleicht ein Stoffel.“
Er packte sie am Fuß und zog daran. Lachend fielen sie übereinander her und küssten sich. Nachdem sie wieder Atem holen konnten, hielt er sie auf Armeslänge von sich.
„Dass du dich noch einmal blicken lässt? Lecker schaust du aus.“
Britta strahlte ihn an. Das gelbe Shirt spannte verführerisch über den Brüsten und die Leggins verbarg auch nichts. Martin verfolgte das Spiel ihrer Beinmuskulatur, als sie sich vom Boden erhob. In Brittas Mundwinkeln lockten zwei verführerische Grübchen. Ihre Augen lachten ihn an. Sie war der leibhaftige Frühling.
„Es freut mich, dass ich dir gefalle. Ich habe es nicht mehr alleine ausgehalten und musste dich sehen. Bei dem Wetter steigen die Säfte und man meint, zu platzen.“ Grinsen huschte über ihr Gesicht und sie knipste ihm ein Äugchen. Sie schaute sich im Garten um. „Du hast ordentlich gewühlt. Es sieht toll aus.“ Eine unbestimmte Handbewegung umfasste den Pflaumen- und Apfelbaum ebenso, wie die anderen knospenden oder blühenden Pflanzen.
„Bei diesem Wetter macht es Spaß, die Gedanken im Garten schweifen zu lassen. Übrigens habe ich gerade an dich gedacht … kurz, bevor du aufgetaucht bist.“
„Und waren es schöne Gedanken?“, sie drehte sich kokett im Kreis.
„Ganz tolle“, er warf ihr lüsterne Blicke zu.
Kichernd schlang sie den Arm um ihn und nahm seinen Atem mit einem langen intensiven Kuss. Sie presste ihren Körper fordernd gegen ihn.
Martin wurde von seinen Gefühlen überschwemmt. Gierig sog er an ihren Lippen und seine Hände strichen ihren Rücken hinab, um dann kräftig die Pobacken zu umklammern. Er zog sie so fest gegen sich, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Heiße Erregung durchpulste sie.
Martin fummelte an ihrem T-Shirt, als ihn ein gewaltiger Schlag am Hinterkopf fast niederstreckte.
„Verdammt noch mal. Was ist los?“, er stieß Britta von sich. „Du wolltest es doch auch.“
Sie starrte ihn sprachlos an. Die Erregung stand noch in ihrem Gesicht.
„Warum hast du mir auf den Kopf geschlagen? Das tut doch höllisch weh.“ Mit einer kleinen Bewegung nach hinten knallte ihm der Stiel des Rechens wieder gegen den Schädel.
„Ich, und dir auf den Kopf schlagen. Das besorgst du dir doch selbst. Willst du dich umbringen?“ Britta lachte belustigt.
„Tut mir leid, Britta. Ich wollte dich nicht so anfahren. Aber der Schlag kam so überraschend aus dem Nichts.“
„Macht nichts. Wir haben ja nichts unterbrochen, was wir nicht nachholen können.“
Martin zog sie zum Haus. „Soll ich uns etwas Leckeres zum Essen machen?“
„Das wäre nicht schlecht. Ich habe einen Bärenhunger.“ Britta ließ sich gerne von Martin bekochen. Er hatte ein sagenhaftes Händchen für Soßen und konnte mit wenigen Zutaten ein schmackhaftes Essen zaubern. Während sie aßen, herrschte Stille am Tisch. Nach einiger Zeit meinte Britta beiläufig. „Was ist eigentlich aus deinem Stein geworden? Du hast nicht mehr darüber gesprochen, seit unserem Faststreit letztens.“
Erschrocken hob Martin den Kopf. „Darüber möchte ich im Moment nicht reden.“
„Komm schon. Fang nicht schon wieder an. Du kannst doch nicht ewig Verstecken spielen.“ Anmutig strich sie ihr Haar zurück und nickte ihm auffordernd zu.
Wolken zogen über sein Gesicht und der Blick verschleierte. Unverzüglich suchte er einen Weg, der Unterhaltung zu entgehen. Ihm fiel nichts ein. Also wählte er den Weg nach vorn..
„Kurz, nach unserem Gespräch neulich, habe ich den Stein wieder aus Berlin zurück erhalten. Aber es gab nichts Neues.“
„Fängt jetzt wieder das alte Spiel an? Ich denke, ich habe ein wenig mehr Vertrauen verdient. Nur mit Bumsen, und mag es auch noch so toll sein, erledigt sich eine Beziehung nicht. Ich will ganz einfach mehr darüber wissen.“ Ihre Augen blitzten ihn an.
„Mensch. Du bist heute aber gut drauf. Willst du Streit? Dann sage es doch gleich. Wir können sofort beginnen“, suchte er nochmals einen Aufschub.
„Los Junge. Raus damit.“ Sie lächelte und die Grübchen in ihren Mundwinkeln lockten. Liebend gerne hätte er sie jetzt in den Arm genommen. Aber, es war wohl der falsche Zeitpunkt.
„Also, gut. Du gibst ja sowieso keine Ruhe. Irgendwie hängt auch alles mit dem Gartenhaus zusammen. Du hast mich schon einmal danach gefragt. Nun. Es muss schon Jahrhunderte alt sein und es spukt darin.“
„Martin“, warnend hob sie ihre Stimme. „Willst du zu dem Stein ein neues Fass aufmachen. Ein Kiesel, der spricht, ein Geist namens Hein und ein Haus voller Gespenster. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, im dritten Jahrtausend. Was soll der Unsinn?“
„Jetzt hör‘ bitte zuerst einmal zu. Später kannst du alles zerreden. Aber jetzt bin ich an der Reihe. Diese Kate im Garten ist mein Zufluchtsort, meine Rückzugsmöglichkeit auf dieser Welt. Bisher hatte auch kein Mensch den Wunsch dort hineinzukommen. Als Kind, ich weiß nicht mehr in welchem Alter, bekam ich diesen Stein von meinem Vater. Als ich mir die Kette überstreifte, hatte ich sofort das Gefühl, nach Hause zu kommen. Der Stein gehörte mir. Ich wusste es sofort.“
Fasziniert lehnte Britta zurück und horchte mit glänzenden Augen.
„Von da an trug ich die Kette mit dem Stein am Körper. Von diesem Zeitpunkt an wurde ich mir zum ersten Mal der Kate bewusst. Sie war zwar schon immer da - aber ich nahm sie nicht wahr. Zwanghaft trieb es mich in dieses Gebäude. Und dann war es so weit. Ich war drinnen. Es stürmten Eindrücke auf mich ein, die ich nicht beschreiben kann. Mit mir geschahen Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. Danach begannen die Tagträume. Ich konnte mir so lebhaft die vergangenen Jahrtausende vor Augen führen, als wäre ich dabei. Jedoch lediglich in diesem Gebäude. Ich verspürte nie den Wunsch, jemandem davon zu erzählen.“
Er unterbrach sich und holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser. Ungefragt goss er Britta auch ein Glas ein. Nach einem tiefen Schluck fuhr er nachdenklich fort.
„Als ich älter wurde, wurden die Ereignisse in der Kate selbstverständlich. Ich benötigte den Stein zum Träumen und um in die Kate zu gelangen. Anders gesagt, ich habe nie bewusst versucht, den Stein zu überlisten. Denn … außerhalb dieser Hütte, verschwendete ich keinen Gedanken daran. Neben meinen Träumen und Tagträumen bemerkte ich Heins Anwesenheit. Du erinnerst dich sicherlich noch an deinen Heiterkeitsausbruch.“
Völlig unbefangen grinste er sie an und reichte seine Hand über den Tisch. Ihre Finger verschränkten sich ineinander.
„Und Hein ist ein Problem. Ich habe die Gewissheit, dass er irgendwo existiert. Vor einigen Tagen dachte er in meinem Gehirn. Ich habe Angst.“
Britta liefen Gänseschauer über den Rücken. Jemand der versucht, in ein Gehirn einzudringen? Unvorstellbar. „Wie kannst du nur ruhig dabei bleiben. In deinem Gehirn?“, schaudernd entzog sie ihm ihre Hand.
Gedankenverloren drehte er eine Zigarette. „Wenn ich nicht ruhig bleibe, komme ich auf die Psych. Dann drehe ich durch.“
„Wie kannst du eine solche Situation akzeptieren. Jemand spielt in deinem Gehirn herum. Liest deine geheimsten Gedanken. Sagt dir vielleicht auch noch, was du tun sollst. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.“
„Vor mehr als zehn Jahren habe ich aus einem inneren Gefühl heraus die Kate restauriert. Es machte unglaublichen Spaß, als wenn ich den Job schon einmal durchgeführt hätte. Alles war so vertraut. Ich habe versucht, es so zu erhalten, wie es in meinen Träumen aussieht.“
Britta sprang hoch und fasste nach seiner Hand.
„Komm mein Freund. Ich will in diese Hütte. Es wäre doch gelacht, wenn wir dem Geheimnis nicht auf die Spur kämen.“
„Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Ich möchte nicht, dass du nachher auch noch an deinem Verstand zweifelst.“ Martin zierte sich.
„Ein bisschen verrückt sind wir doch alle und ein wenig mehr kann ich sicher vertragen. Also los komm. Wir gehen jetzt in deine Kate.“ Sie wandte sich ab und stapfte todesmutig in Richtung Garten. Je näher sie jedoch dem Gebäude kam, umso unsicherer wurde sie, ob ihr Ungestüm wohl doch nicht so gut war. Der Klumpen in ihrer Magengegend wurde dicker und dicker. Sie wollte sich nicht unterkriegen lassen und vor Martin blamieren.
Energisch ging sie weiter, bis ihr Schritt langsamer und langsamer wurde. Schweiß brach aus allen Poren. Angst packte sie, wie eine Klammer. Ungefähr drei Schritte vor der Türe kapitulierte sie. Es ging einfach nicht mehr weiter.
Martin, der ihr langsam folgte, beobachtete interessiert, wie sich ihre Schultern versteiften, der Schritt hölzern wurde und zum Stillstand kam.
„Was ist los? Hat dich dein Mut verlassen?“
Britta drehte sich ihm zu. Er erschrak. Pure Angst flehte um Hilfe. Jegliche Farbe war aus dem Gesicht gewichen. Er fasste sie bei den Schultern und wollte sie schütteln. Sie war schweißnass. Das Wasser schoss ihr aus der Haut.
Bei seiner Berührung fiel ihre Anspannung mit einem Schlag ab und Farbe kroch wieder langsam ihre Wangen empor.
„Etwas in mir versuchte, mich umzubringen. Meine Pumpe wurde von einer Klammer zusammengepresst. Ich konnte kaum atmen. Jetzt will ich erst recht hinein. Gib mir deine Hand. Deine unmittelbare Nähe hilft mir.“ Entschlossen nahm sie seine Hand und zog ihn mit Elan in Richtung Türe. Sie griff den Holzriegel und zog sie auf. Halbdunkel empfing sie. Langsam bildeten sich Konturen heraus und Britta machte roh gezimmerte Möbel aus sowie einen offenen Durchgang, hinter dem ein zweiter Raum lag.
„Kannst du für ein wenig Licht sorgen“, flüsterte sie ehrfürchtig und mit verhaltener Stimme, als wenn sie Angst hätte, jemanden zu stören. Und tatsächlich spürte sie unsägliche Beklommenheit.
Martin griff die Petroleumleuchte. Wenige Sekunden später flackerte die Flamme. Einem Ritual folgend, entzündete er auch gleich das Feuer in der Herdstelle.
Brittas Atem stockte. Sie stand alleine inmitten des Raumes. Ihr blieb fast das Herz stehen. Kam die Angst wieder? … aber nichts geschah. Wahrscheinlich war die Schwelle überschritten, die sie aufzuhalten versuchte. Fröstelnd kreuzte sie die Arme über der Brust und ging zur Feuerstelle. Dort umfasste sie Martin von hinten.
„Wärme mich … ich friere von innen. Es ist bitterkalt hier drinnen.“
„Hier ist es nie kalt, selbst im tiefsten Winter nicht. Das Feuer mache ich automatisch an, wegen der Gemütlichkeit.“ Er drehte sich um und nahm sie fest in seine Arme. Sie schmiegte sich gegen ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter.
„Siehst du mein Schatz, es war gar nicht so schlimm. Jetzt sind wir beide hier. Wir werden den seltsamen Dingen auf die Spur kommen. Wo fangen wir am besten an?“, Britta war schon wieder praktisch bei der Sache. „Was tust du sonst immer? Mache das Gleiche wie sonst auch.“
Martin zog einen Stuhl vom Tisch und bedeutet Britta, Platz zu nehmen und setzte sich ihr gegenüber, nestelte an seinem Hemd und hob die silberne Kette über den Kopf. Er legte das Behältnis auf den Tisch. Ein Druck seines Fingers und der Deckel sprang auf. In der Halbschale der Fassung lag der matte schwarze Stein.
Voller Erwartung sah Britta auf den Kiesel. Dieses Etwas sollte der Anstoß für alle Merkwürdigkeiten sein? Alles in ihr drängte, den Stein anzufassen. Sie nahm ihn in ihre Hände. Ein fremdartiges Gefühl überkam sie. Nicht in der Art, wie Martin es beschrieben hatte - da war Ehrfurcht. Wie bei einem kunstvoll gefertigten Familienerbstück.
Aber, das hier war ein Stein. Sie drängte den Gedanken machtvoll ins Bewusstsein. Ein Stein. Sonst nichts. Er fühlte sich wie ein Stein an. Warm von Martins Körper … aber ansonsten unterschied er sich in nichts von anderen Kieseln.
Die Arme leicht ausgebreitet trat Martin hinter sie und umfasste ihren Oberkörper. Er wühlte seinen Kopf in ihr Haar und sog ihren Duft in sich hinein. Verspielt umfasste er ihre Brüste und streichelte sie in kreisenden Bewegungen. Fast augenblicklich reagierten ihre Brustwarzen und ein Stöhnen drang über ihre Lippen. Sie beugte den Kopf nach hinten und saugte an seinem Kinn. Spielerisch fanden ihre Zungen zueinander. Britta wurde unruhig. Warm schoss die Spannung in den Unterleib.
Martins Verstand war schon weggeschaltet. Er war nur noch Körper. In einem kurzen Moment der Klarheit schob er Britta in das angrenzende Zimmer. „Ich leg‘ noch etwas auf das Feuer.“ Er packte rasch einige Holzstücke und legte sie in die Herdstelle, so, dass die Funken stoben. In der Bewegung auf das Zimmer zu sah er seinen Stein auf dem Tisch liegen. Gewohnheitsmäßig nahm er ihn und drückte ihn in die Fassung. Mit einer geübten Bewegung legte er die Kette über den Kopf. Schnell begab er sich in das angrenzende Zimmer.
„Das ist wohl dein Liebesnest.“ Britta lag schon im Bett und zeigte mit einer kreisenden Kopfbewegung in den Raum hinein.
An der herumliegenden Kleidung erkannte er, dass sie, bis vielleicht auf einen Ring oder eine Kette, unbekleidet war. Ungestüm befreite er sich aus seinen Klamotten und war mit einem Sprung im Bett. Sofort tauchte er unter die Decke und begann an ihr zu knabbern. Kichernd packte sie seine Haare und zog ihn hoch.
*
Während der Vereinigung mit Britta spürte Martin, am Rande, das Kribbeln in seinem Kopf. Es waren leichte Bewegungen, vorsichtiges Tasten.
„Verschwinde“, dachte der kleine Teil seines Gehirns, der dazu noch fähig war. „Verschwinde aus meinem Kopf.“ Jedoch – es war egal. Andere, elementare Empfindungen überlagerten seinen Einwand. Der Orgasmus kam als Schlag, wie es ihn ein zweites Mal nicht geben konnte. Mit Schmerzen, Lust und anderen Wohlgefühlen wischte er jedwede Bedenken weg, während sie mit Urlauten jeweils den anderen empfingen. Immer wieder trieben sie zum Höhepunkt und zurück, um das ewige Spiel von vorn zu beginnen. Irgendwann sanken sie erschöpft zusammen.
„Mein Gott, das war gewaltig“, Britta stützte schwer atmend auf ihrem Ellenbogen und sah mit glänzenden Augen zu Martin. „Was für eine Verzweiflungstat. Du hättest mich doch anrufen können. Warum hast du so viel Druck aufkommen lassen?“
„Ich wusste doch selbst nicht, dass ich so geladen war. Das bist du, mein Schatz. Du bringst meine Qualitäten zum Vorschein. Aber, du warst auch nicht ohne.“ Martin strich ihr das verschwitzte Haar aus dem Gesicht.
„Ja ich weiß. Wir hätten vorher miteinander sprechen müssen. Wir haben heute möglicherweise den Grundstein für eine Familie gelegt. Ich habe meine fruchtbaren Tage.“ Etwas unsicher blickte sie ihn an. „Ich hoffe, du bist nicht sauer. Ich habe vorhin einfach nicht darüber nachgedacht.“
„Warum soll ich sauer sein. Es kommt, wie es kommen muss. Falls du schwanger wirst, werden wir mit äußerster Sorgfalt die Öhrchen säumen - dann die Fingerchen und Zehen machen, damit kein Monster zur Welt kommt.“ Er zählte die Punkte lachend an seinen Fingern auf.
Mit einem Jauchzer warf sie sich über ihn. „Oh Martin, Du bist ein Schatz. Ich liebe dich.“
Martin hob ernst seine Augen und versenkte sie tief in die ihren.
„Ich liebe dich auch. Ich habe die letzten Tage nur an dich gedacht. Alles andere war in den Hintergrund gerückt.“
Sie schlang ihre Arme um ihn und spielte gedankenverloren mit der kleinen Fassung in der der Stein lag.
„Sie ist warm.“ Britta öffnete das Behältnis. „Dein Kiesel ist wärmer, als die Verpackung und pulsiert wie ein Lebewesen. Vorhin war er nur ein Stein.“ Brittas Sensoren waren noch auf Empfang geschaltet und die Gedanken und Empfindungen lagen frei und offen.
„Das Gefühl habe ich auch oft. Aber Scheiße, ich weigere mich einfach, zu glauben, dass ein Mineral lebt. Du glaubst nicht, was ich in den letzten Wochen an unverständlichen Gedanken, Gefühlen und den anderen Quatsch durchgemacht habe. Ich möchte nicht darüber nachdenken.“ Er legte sich etwas zurück und starrte blicklos zur Decke. „Ich weiß auch nicht, was im Moment mit mir und mich herum geschieht. Klar … da war immer mein Stein, an den ich wenige Gedanken verschwendete. Jetzt schlägt alles über mir zusammen.“ Seine Zügen bekamen einen gequälten Eindruck. „Ich könnte aus der Haut fahren. Weshalb konnte ich nicht alles so lassen, wie es war?“
„Du hast richtig gehandelt. Schon allein der Gedanke daran, ein Zipfelchen von dem, was du sagst, könnte wahr sein, macht mich verrückt.“ Sie runzelte die Stirn. „Man sollte nur mit Dingen umgehen, die man versteht, die man begreifen kann. Dir bleibt nichts anderes, als der Sache auf den Grund zu gehen.“ Britta spielte nachdenklich mit dem Stein. „Auch, wenn ich Angst davor habe.“
„Du hast nichts damit zu tun“, stellte er fest und legte eine Hand auf ihre Brust, die sofort auf seine Berührung reagierte. „Ich habe schon oft gedacht, dass ich in einer Scheinwelt lebe. Ob sich die Probleme tatsächlich auflösen?“
„Ich denke nicht. Das steckt alles in dir.“ Sie rückte wieder näher an ihn heran. „Aber andererseits – du musst verstehen, dass ich Bedenken habe - unterstellen wir, deine Ausführungen sind richtig. Der Stein wirkt als Auslöser mit dir, besser in dir. Was willst du unternehmen? Du kannst doch nicht ständig mit einem Mann im Ohr durch die Gegend laufen. Würdest du ihn wegwerfen oder zerstören?“
„Nein. Auf keinen Fall.“ Martin lachte laut auf. Kleine Lachfalten bildeten sich um seine Augen. „Lass‘ es gut sein. Ich möchte jetzt etwas anderes tun.“ Er steckte seinen Kopf unter die Bettdecke. Kurze Zeit später wälzten sie lachend auf dem Bett, um den zweiten Anlauf zu starten. Diesmal mit weniger Verzweiflung und mehr Zärtlichkeit.
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