Читать книгу KYRA - Herbert Weyand - Страница 22

Kapitel 19 1997

Оглавление

Britta saß über den Dokumenten. Seit einigen Tagen verbrachte sie mit Martin viele Stunden in der Höhle, die sie zur Vereinfachung Stammbaumnische nannten. Im weitesten Sinne arbeiteten sie an einer Chronik zu Martins Familie. In den Papieren ging es hauptsächlich um die Mulde, in der das Dorf lag und die Menschen, die dort gelebt hatten.

Sie war sicher, dass noch vieles mehr auf sie zukam. Nicht nur die Hütte, die etwas abseits von der Quelle stand, barg ein Geheimnis. Diese gigantische Höhle mit den vielen Mysterien war vielleicht die Antwort auf die drängenden Fragen, die sie mittlerweile hatte.

Britta nahm ein Blatt vom Stapel. In feiner gestochener Schrift berichtete ein Mann namens Andy. Er lebte so um 250 n. Chr. in dieser Gegend.

Vor knapp 1800 Jahren, dachte sie. Ein Name, der nicht in diese Zeit passte. Sie richtete sie sich hastig auf und rieb ungläubig die Augen. Keine Veränderung … sie täuschte sich nicht. 1800 Jahre? Der Text, in reinstem Hochdeutsch, stach ins Auge. Unmöglich. Sie schob das Blatt hin und her. Tatsächlich. Sie waren in der Ausdrucksweise ihrer Zeit verfasst. Sie las Martins und ihren Namen sowie den, von einer jungen Frau namens Kyra. Wie konnte zu Zeiten, als die Menschen noch durch die Wälder streiften, von ihnen berichtet werden? Ihre Gedanken überschlugen sich.

„Martin“, rief sie gedämpft zu ihm hinüber, als wolle sie keine Geister herauf beschwören.

Er lag bequem in einem Fell und studierte eine Pergamentrolle.

„Ja. Was gibt es?“

„Hier … in den Unterlagen … da stehen unsere Namen.“

„Das kann nicht sein.“

„Ich bin doch nicht blind. Jetzt guck mal. Hier stehen unsere Namen.“

Gelangweilt erhob er sich und schlendert betont langsam zum Tisch. Nach einem kurzen desinteressierten Blick wurde er aufgeregt. „Du hast recht.“

„Ich sag’s doch“, Triumph schwang in ihrer Stimme.

Langsam, als müsse er erst lesen lernen, fuhr sein Zeigefinger unter den Zeilen entlang und nahm auf, was dort stand. Nach unendlich langer Zeit, zumindest kam es Britta so vor, streckte er seinen Rücken und schaute mit einem unendlichen Blick in die Runde. Er sammelte seine Gedanken, während er einige Schritte auf und ab ging.

„Von einem Andy habe ich noch nichts gehört oder gelesen. In meinen Träumen kenne ich viele Personen. Von Knut, der in seinem Bericht erwähnt wird“, er deutete auf den Tisch, „steht etwas in den Unterlagen. Aber, von Andy nicht – ebenso nicht von Kyra. Eine Frau namens Kyra scheint diesen Andy, in die Vergangenheit verbannt zu haben.“ Er strich die Haare von der Stirn und kniff die Augen zusammen. „Was rede ich mir einen Blödsinn zusammen. Wie kann jemand, jemanden in die Vergangenheit verbannen?“

„Wie kommen diese Berichte überhaupt hier hin?“ Hoffnungsvoll erwartete Britta eine Antwort von ihm.

„Papier wird erst im 12. Jahrhundert hergestellt. Aber nicht in dieser Qualität. Also tausend Jahre später, als dieser Mensch gelebt haben will. Aber wieso weiß er von Knut? Und vor allen Dingen, wie kommen diese Papiere in die Kate? Das ist unmöglich. Weißt du, als ich erstmals in die Stammbaumnische kam, habe ich mich schon über die Pakete Office Papier gewundert. Und auch noch in der Vergangenheit beschrieben. Ich bin mir absolut sicher, dass niemand außer uns in den Hügel kommt.“

„Schön, dass du dir so sicher bist“, sagte sie kurz und schnippisch.

„Britta hör auf“, antwortete er müde. „Vielleicht haben wir etwas erlebt, was wir nicht wissen. Nein, nein“, er wehrte ab. „Das ist Blödsinn. Wir müssen weiterlesen … in der Hoffnung, eine Erklärung zu finden.“

„Ich habe keine Lust mehr.“

„Ich auch nicht. Wir sehen uns noch ein wenig um. Ich habe bisher so wenig gesehen, weil ich ständig über diesen Dokumenten hänge.“

„Dann los“, er fasste sie bei der Hand. „250 n. Chr., das muss Knuts Nische sein.“

„Ja. Ich weiß. Ich habe ihn gesehen. Aber du hast recht. Vielleicht finden wir dort etwas.“ Sie schauderte ein wenig.

„Da vorne ist noch eine Nische“, wies Britta, seitlich von Knuts Lagerstatt, zur Wand.

„Dort möchte ich nicht hingehen.“ Martin schüttelte vehement den Kopf.

„Musst du ja nicht. Ich gehe alleine.“

„Nein. Das ist gefährlich.“

„Wie gefährlich? Warst du schon einmal dort?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich werde zumindest dort hineinsehen.“ Britta war schon auf dem Weg, bevor er sie festhalten konnte. „Martin, das musst du dir ansehen“, rief sie ihm kurze Zeit später zu. „Unglaublich.“

Missmutig folgte er ihr. Mit jedem Schritt wuchs sein Unbehagen. Er ahnte, was Britta begeisterte. Die Berichte zu dem Gemälde waren in den Erzählungen dokumentiert. Auch die Gefahr, die davon ausgehen könnte. Er trat hinter sie und schaute über ihre Schulter. Fast unwirsch schob er sie zur Seite. Falls er eine Vorstellung hatte, wurde sie übertroffen. Fast automatisch zog er die Kette mit dem Kiesel über den Kopf und reichte sie Britta.

„Hier. Der Stein darf nicht dort hinein.“ Traumwandlerisch trat er zwei Schritte nach von vorn und stand im Zentrum des Gemäldes. Gemälde war der falsche Ausdruck. Er stand inmitten einer Landschaft und wurde zu einem Teil davon. Eine Holografie, wie er noch nie eine gesehen hatte. Mit dem Schritt ins Zentrum veränderte sich die Welt. Er glaubte die Gräser zu riechen, den Wind zu spüren und Stimmen zu hören. Wirklich unglaublich. Zu seinen Füßen stieg eine Menschenspirale in unglaubliche Höhen empor. Er reckte den Kopf nach oben, konnte jedoch kein Ende ausmachen. Weit in der Ferne, fast jenseits des Horizonts schwebte, in einem Nebel, ein bösartiges Gesicht und drohte. Fast wäre er zurückgeschreckt. Der gemeine Blick bannte ihn. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, löste er die Verbindung und nahm die anderen Eindrücke auf. Mit jeder Augenbewegung veränderte die Landschaft ihr Bild. Lediglich die Spirale und das Böse waren beständig. Bevor er lange rätseln musste, ging ihm auf, was er sah: die Evolutionsgeschichte der Erde. Welche Technik hatte dieses Bild geschaffen? Welchen Schmerzen musste der Erschaffer ausgesetzt gewesen sein? Kendric, wenn er sich richtig erinnerte. War dies die Anderwelt der keltischen Druiden? Martin wurde erschlagen von der Kraft und Ausstrahlung des Gemäldes, das keines war. Er war bedeutungslos. Weniger als ein Staubkorn in der Geschichte. Müde und zerschlagen wandte er sich ab.

„Geh‘ du hinein“, sagte er tonlos zu Britta und nahm den Stein an sich.

*

Britta ging schwerfällig und unförmig durch den Garten, auf die Kate zu. Martin sah vom Gewächshaus zu ihr hinüber. Sie winkte ihm kurz zu.

„Mach‘ Pause, Martin“, rief sie.

„Noch ein paar Minuten. Dann komm‘ ich nach.“

In der Kate fielen alle Spannungen und Depressionen von ihr ab. Unverständlicherweise kam ihr das selbstverständlich vor. Warum auch nicht, schließlich wurde ihr Baby hier gezeugt. Weshalb blieb sie während der Schwangerschaft nicht einfach hier. Keine Schwerfälligkeit, keine Depressionen … einfach zu schön.

Die fortschreitende Schwangerschaft machte sie launisch. Noch nie hatte sie eine Frau gesehen, die im Frühstadium der Schwangerschaft so unförmig aufgegangen war, wie sie. Sie konnte sich selbst nicht mehr leiden.

Während sie mit beiden Händen über ihren gewölbten Bauch fuhr, wurde der Wunsch übermächtig, dass es doch endlich so weit sein möge. Schwanger sein war nicht so schön, wie die Machart. Sie musste grinsen. Immer noch arbeiteten sie an der Perfektion ihres werdendes Kindes. Es brauchte Fingerchen und kleine Zehen. Die Öhrchen mussten gesäumt werden und … all das hatte Martin mit viel Zeit und Spaß in Angriff genommen. Sehr zu ihrem Vergnügen. Doch im Moment lief fast nichts mehr. Ihre unförmige Figur verhinderte die Restarbeiten an dem Baby.

Britta versuchte auf dem Stuhl eine bequeme Stellung zu finden, als Martin schon hereinkam. Schweren Schrittes betrat er den Raum und wischte die Hände an den Hosenbeinen ab.

„Na, mein Schatz. Wie geht es dir?“, fragte er besorgt und drückte einen feuchten Kuss auf ihre Wange.

„Wie immer. Bis auf meine besch … eidene Figur habe ich keine Probleme. Das weißt du doch. Nur meine schlechte Laune, die bekomme ich eben nur hier in den Griff.“ Sie lächelte ihn an und strich einige Haarsträhnen aus der Stirn. „Setz dich. Leiste mir Gesellschaft. Aber vorher kannst du mir ein Glas Wasser geben.“

Er sah sich um, nahm den Krug vom Bord und reichte ihr den Becher. Während dessen zog er einen Stuhl heran und nahm ihr gegenüber am Tisch Platz.

Die Sonne schien durch die kleinen Luken in den Raum und warf bizarre Bilder an die Wände. In den Strahlen tanzten Schwebstoffpartikel, die ansonsten nicht auszumachen waren. Hier in der Kate war alles normal. Da gab es Staub, im Gegensatz zur Höhle.

„Gestern war der Pastor bei mir“, sagte Britta.

„Schon wieder. Hat der nichts zu tun? Seitdem die Pfarren zusammengelegt sind, hat der doch normalerweise keine Zeit mehr.“ Er sah sie fragend an.

„Du hast recht. Was ich bisher für Fürsorge hielt, scheint einen Hintergrund zu haben. Du erinnerst dich … in den Aufzeichnungen ist von einem Markus die Rede, und zwar, in verschiedenen Zeitabschnitten.“

„Das glaubst du selbst nicht?“, fragte er entsetzt.

„Was soll ich sonst tun? Vielleicht sprichst du selbst mit ihm. Er machte Andeutungen zu den Geschichten, die deine Familie betreffen. Klugerweise ist dein Geheimnis so eingerichtet, dass ich außerhalb der Höhle nicht mehr als eine Ahnung habe, was hier drinnen ist. Ich kann mich also nicht verplappern.“

„Das hat mir noch gefehlt, einen Kleriker am Hals zu haben. Die machen aus einem Furz einen Elefanten.“ Er lehnte sich nach hinten und schaltete die Augen auf unendlich. „Soll denn tatsächlich die Kirche an unserem Geheimnis interessiert sein?“ Er furchte nachdenklich die Stirn. „Klar. Irgendwann, irgendwie muss mit der Zeit etwas durchgesickert sein“, beantwortete er seine Frage selbst. „Stell‘ dir mal vor, die Untoten in dem Berg dort stehen plötzlich auf. Dann bin ich Jesus. Wir müssen den Typen loswerden. Ich hab‘ keinen Bock darauf.“

Martin nestelte an seinem Hemd und zog die Fassung mit dem Stein heraus. Vorsichtig öffnete er sie und ließ den Kiesel in die Hand plumpsen.

Britta beobachtete ihn. Martin war mit den Gedanken ganz weit weg. Seine Bewegungen wirkten routiniert. Er hatte den Pastor abgehakt.

„Was machst du da?“, fragte sie vorsichtig.

„Ich weiß es nicht. Seitdem ich hier hinein gekommen, bin ich nicht mehr ich selbst“, er sah blicklos durch sie hindurch. Seine Stimme klang monoton und entfernt. „Komm, wir versuchen es noch einmal.“

Britta lehnte sich abrupt zurück und wurde vorsichtig. „Welches Spiel spielst du jetzt. Erkläre es mir.“

„Das ist kein Spiel. Gib mir deine Hand. Uns wird nichts passieren.“ Martin veränderte weder Haltung noch Stimme.

„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich kann und will nicht Kopf und Kragen oder das Leben unseres Babys riskieren. Das, was du mir bis jetzt geboten hast, reicht für mehrere Leben. Mehr muss ich wahrhaftig nicht haben . . .“ Sie schreckte vor ihm zurück.

„Komm schon, Britta. Mir zuliebe.“

„Ich bin unentschlossen und im Widerstreit mit mir. Ach, was soll es. Dir hat das Ding bisher ja auch nichts getan. Warum gerade mir?“ Ihr war nicht wohl, als sie seine Hände nahm. Brittas Körper und Gedanken standen in voller Abwehr zu ihrem Tun. Die Muskeln verkrampften. Starr blickte sie auf die Mitte des Tisches und war bereit, ihre Hände jeden Augenblick zurückzuziehen. Aber es passierte nichts.

Langsam wich die Anspannung und sie hob den Blick zu Martins Gesicht. Er war entspannt und normal. In seinen Mundwinkeln kräuselten die kleinen Fältchen und wurden zu dem bekannten verschmitzten Lächeln.

„Was soll der Unsinn, Martin. Du hast mir einen Schrecken eingejagt.“ Sie war beleidigt.

„Das ist kein Unsinn. Spürst du denn nichts? Lass deine Gedanken frei und entspanne dich. Als wenn du im Bett liegst und einschlafen willst. Gleite weg und fühle.“

Ergeben baute Britta weiter Spannung ab. Dabei horchte sie auf ihren Herzschlag und auf ihr ungeborenes Kind. Nichts geschah. Sie wusste jedoch auch nicht, welche Erwartung sie hatte und wollte gerade wieder auf Martin losfahren, als er ihre Hände anders gruppierte. Er legte den Stein in ihre Hand und umschloss sie mit den seinen.

Sofort zog ein Strom warmen, angenehmen und entspannenden Gefühls durch ihren Körper. Sanftes mentales Streicheln, am Kopf beginnend, über ihre Brust in die Arme, den Unterleib und die Beine. Angenehme Entkrampfung bis in die Finger. Sie seufzte auf und der Oberkörper sank nach vorne auf den Tisch. Im letzten Moment stoppte sie die Bewegung und sah zu Martin. In ihren Augen schimmerte feuchter Glanz.

„Das ist wunderschön. Zieht dich dieses Gefühl hierhin? Ist das der Stein?“

Martin nahm Brittas Empfindungen emphatisch auf. Leicht knetete er ihre Handrücken.

„Das ist der Stein, Britta. Er ist wunderbar. Endlich kann ich meine Gefühle mit dir teilen. Es war so schwer, alles zu beschreiben, deshalb ist es mehrfach schön, dass du es selbst erleben kannst, obwohl ich nichts verstehe.“

Britta glaubte, zu schweben. Glücksgefühle ungeahnter Fülle und Art überwältigten sie. Sie hätte vor Freude weinen mögen. Sie konzentrierte sich auf ihr ungeborenes Baby, um es an ihrem Glück und Überschwang teilhaben zu lassen.

Hallo“, die gefühllose monotone Stimme dachte in ihren Kopf. „Wer ist da? Hein bist du es?“

Schreiend riss sie ihre Hände vom Tisch und sprang panisch auf.

„Martin. Da war eine Stimme in meinem Kopf. Was ist das?“, sie schrie mit Angst geweiteten Augen.

„Was ist los? Ich hab‘ nichts bemerkt. Weshalb hast du solche Angst? Dir kann nichts geschehen. Ich bin doch bei dir“, er gab seiner Stimme einen beruhigenden Klang.

„Spinnst du? Eine Stimme in meinem Kopf. Richtig unheimlich. Wie ein Automat. Vollkommen ohne Modulation. Sie sagte Hallo und stellte die Frage, wer da ist. Ich bin doch nicht verrückt. Ich will nichts mehr von diesem Stein wissen.“ Die Worte sprudelten aus ihr heraus.

„Mein Schatz. Du weißt überhaupt nicht, was es für uns bedeutet. Seit Jahren versuche ich aus den Frequenzgeräuschen in meinem Kopf, eine vernünftige Nachricht zu entschlüsseln. Und du hast verständliche Wörter gehört. Mit Mühe und Not habe ich über Jahre herausbekommen, dass die Stimme sich Hein nennt. Ein einziges Mal gelang etwas, wie eine Unterhaltung. Und jetzt das.“ Er sprang auf und lief aufgeregt durch das Zimmer.

„Scheiß egal, was du all die Jahre versucht hast. Ich will niemanden in meinem Kopf haben.“ Britta trommelte wütend mit den Fäusten in die Luft und stampfte mit dem rechten Fuß auf den Boden. Sie vergaß ihre unförmige Figur und wäre gestolpert, hätte Martin sie nicht in den Arm genommen.

„Britta beruhig‘ dich. Dir wird niemand etwas zuleide tun. Ich habe den Stein schon mein ganzes Leben lang. Und vor mir hatten ihn andere. Keinem ist je etwas Schlechtes geschehen. Warum gerade dir? Bisher hat der Stein nur Gutes getan.“

„Hast du noch alle Tassen im Schrank. Du bist ja pervers. Ich muss das nicht haben.“ Sie wand sich aus seinen Armen. „Beruhig‘ dich Britta“, sie äffte ihn nach. „Dein Gesäusel geht mir auf den Keks. Wehre dich und handle nicht wie ein Lamm.“

„Jetzt ist aber Schluss“, er brüllte sie an. „Niemand ergibt sich. Zu allerletzt ich. Es ist einfach so, dass die Brechstangenmethode nicht hilft.“ Er wurde ruhiger. Wir … oder auch ich sollten erst einmal verstehen, was mit uns geschieht. Von einer normalen Situation sind wir weit entfernt“

„Für mich ist es ganz einfach eklig, wenn jemand versucht, meine Gedanken zu übernehmen. Ich will es einfach nicht“, fast leidenschaftslos kam die Feststellung über ihre Lippen.

„Bist du denn kein bisschen neugierig? Willst du nicht wissen, was da vor sich geht?“

„Nein“, sie blickte ihn trotzig an.

„Komm Britta. Mir zuliebe … versuchen wir es noch einmal. Ich muss wissen, wer oder was versucht, Kontakt mit uns aufzunehmen. Zu lange habe ich darauf gewartet“, er bettelte beschwörend auf sie ein.

„Du bist ein Egomane. Schon wieder dir zuliebe? Nein. Ich habe mich vorhin überreden lassen. Und was hatte ich davon? Irgendein – igitt – ich weiß nicht was, war in meinem Kopf, in meinen Gedanken. Danke. Mit mir nicht.“

„Britta mein Schatz habe ich jemals etwas von dir verlangt?“, seine Stimme wurde beschwörend. „Komm gib dir einen Stoß. Das ist die Chance für uns.“

„Nun gut. Nur dir zuliebe noch einmal“, gab sie widerstrebend nach. „Aber ich werde dem Spanner die Meinung geigen. Nur noch einmal, um klar zu machen, dass mein Kopf tabu ist.“

Vorsichtig und wieder ängstlich umfasste sie den Stein.

Hallo. Wer ist da?“

Verschwinde aus meinem Kopf“, dachte Britta.

Wer bist du?“, wiederholte die emotionslose Stimme.

Die Frage muss ich dir stellen. Wer bist du? Was machst du in meinem Kopf?“, Britta streifte ihre Angst ab und bewegte kämpferisch die Gedanken.

Wieso in deinem Kopf? Du bist hier bei mir. Nicht ich bei dir.“

Wie kann das sein? Du denkst in meinem Kopf“, sie war bereit, die Situation ein für alle Mal zu klären. „Noch einmal. Wer bist du?

Ich bin ungeborenes Leben.“

Was bist du?“, schrien Brittas Gedanken.

Ich bin ungeborenes Leben“, dachte der Eindringling ohne jegliche Modulation.

Und wo steckst du? Wo wohnst du?“ Brittas Gedanken und Gefühle irrten ziellos. Eine furchtbare Ahnung überfiel sie mit einem Schlag.

Ich bin in einem Wirtskörper und warte darauf geboren zu werden.“

In welchem Wirtskörper lebst du?“, sie wollte es auf keinen Fall wahr haben. Und im Grunde auch nicht wissen. Die Befürchtung wurde mehr und mehr Gewissheit.

Ob ich lebe, ist die Frage? Die einen sagen, ich lebe, wenn ich geboren bin. Die anderen wiederum gehen schon bei der Befruchtung von Leben aus. Ich kenne meinen Wirtskörper nicht. Aber er versorgt mich gut.“

Britta zwang ihre Hände um den Stein. Jede Faser in ihr schrie, den Kontakt zu lösen. Doch jetzt suchte sie Klarheit. Sie bekam ihre Panik unter Kontrolle.

Ungeborenes Leben passe auf, was jetzt geschieht.“ Sie nahm eine Hand und strich über den Bauch, dabei drückte sie mal hier und mal dort zu. „Hast du etwas bemerkt?“

Ja, mein Wirtskörper hat eben auf die Fruchtblase gedrückt.“

Britta schrie gedanklich auf. „Ich bin dein Wirtskörper. Ich bin deine Mutter“, sie legte unglaubliches Gefühl in ihr Denken.

Das ist schön. Aber meine Mutter bist du erst, wenn ich geboren bin“, dachte der Wirt gleichgültig.

Blödsinn. Lassen wir die Frage zunächst offen, was ich bin oder nicht. Mich interessiert, wieso wir uns unterhalten können. Das macht mich ganz konfus. Das ist doch nicht normal. Du bist noch nicht geboren. Wie kannst du denken?“

Ich denke, seit ich bin. Aus dem Nichts entstand ich und war plötzlich da … in einem Wirtskörper gefangen. Eine gründliche Analyse ergab, dass ich ungeborenes Leben bin. Die Informationsketten in mir weisen auf eine genetische Veränderung des männlichen Erbguts hin, aus dem ich entstanden bin.“

Diese Information ist einfach unmöglich. Von einer genetischen Veränderung hätte ich gewusst.“

Das mag sein. Im Augenblick der Ejakulation wurde ein genetischer Eingriff vorgenommen.“

Im Augenblick der Ejakulation? Da war doch niemand, außer deinem Vater und mir hier.“

Soweit mir bekannt ist, hat Hein die Veränderung vorgenommen.“

Mist. Gibt es den wirklich? Ich dachte, der ist ein Hirngespinst von Martin.“

Hein ist. Er kommuniziert häufig mit mir. Aber er ist nicht ergiebig. Mit dir kann ich mich interessanter austauschen.“

Es ist im Grunde unmöglich, dass ich mich mit dir unterhalten kann. Ich glaube, ich bin verrückt.“

Nein. Du bist nicht verrückt. Für mich ist der Zustand vollkommen normal. Ich habe Erinnerungen.“

Wie kannst du Erinnerungen haben? Im Grunde bist du mit mir verbunden. Wenn überhaupt, kannst du nur mein Wissen besitzen.“

Mein Gehirn hat alle Zellen aktiviert. Dein Gehirn wird nur zu einem Bruchteil genutzt. Du kannst nicht viel Wissen haben.“

Jetzt mache aber mal halblang.“ Ihr eigenes Fleisch und Blut sagte ihr, noch nicht einmal geboren, dass sie blöd sei. „Kommen wir noch einmal auf die genetische Veränderung zurück. Was ist eigentlich passiert. Erkläre es mir.“

Was soll ich dir erklären. Du wirst es kaum verstehen. Aber wir wollen es einmal versuchen.“ Die monotone Stimme schien einen Moment zu stocken.

Brittas Verbindung zu ihrem ungeborenen Kind wurde abrupt unterbrochen. Martin hatte sie bei den Schultern gepackt und schüttelte ihren Oberkörper wild hin und her. Sie sah in sein kalkweißes Gesicht.

„Aua. Du tust mir weh.“

„Britta. Gott sei Dank. Du warst bewusstlos. Was ist geschehen? Geht es dir gut“, er stammelte mühsam die Sätze zusammen.

„Ich habe mit unserem Kind gesprochen.“

„Mit unserem Kind gesprochen? Soll ich dir einen Arzt rufen?“

Verständnislos schaute Britta ihn an. Langsam dämmerte es ihr. „Glaubst Du, ich habe eine Macke“, fauchte sie. „Solange du gesponnen hast, war alles klar. Damit du es auch verstehst: Ich habe mit unserem Kind geredet. Und . . . und . . . jetzt frage mich nicht wieso . . . ich weiß es nicht.“

„Langsam, langsam mein Schatz. Beruhig‘ dich. Und jetzt ganz von vorne. Du hast also mit unserem Kind gesprochen. Wie soll ich das verstehen?“

„Mir ist, egal ob du es verstehst oder nicht. Nimm es hin. Scheinbar hast du nichts mitbekommen - was mich aber ein wenig verblüfft. Du hast mir doch immer den Kopf davon voll geschwafelt, dass der Stein spricht, einen Namen hat und was sonst noch alles.“ Sie hob anklagend die Hände und ließ sie gleich darauf wieder resigniert sinken.

Martin stand sprachlos vor ihr und machte einen wahrlich, nicht intelligenten Eindruck.

„Als wir vorhin den Stein umfassten, hatte ich, genau, wie du mir erzählt hast, ein wunderbares entspannendes Hochgefühl. Und, du hattest es doch auch mitbekommen. Aber dann war da wieder diese fürchterliche monotone Stimme in meinem Kopf. Zuerst hatte ich nur Angst. Aber dann wurde ich neugierig. Und … unser Kind meldete sich“, erklärte sie ruhig und konzentriert, obwohl alles in ihr vibrierte.

Martin schritt im Zimmer auf und ab und fuchtelte mit den Händen durch die Luft. Dann blieb er mit hängenden Schultern stehen, um gleich wieder umherzuwandern.

„Ich kann es nicht glauben. Seit Menschengedenken haben wir diesen Stein. Nie hat er etwas unternommen. Durch Hunderte von Händen ist er gegangen - und jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Und dann auch noch, über ein ungeborenes Kind? Ich kann es nicht glauben“, wiederholte er sich.

„Nicht der Stein hat sich gemeldet. Unser Kind sprach mit mir. Und wie. In mir scheint ein superintelligentes Monster, ohne jegliches Gefühl, heranzuwachsen. Warum jammerst du herum? Jetzt werden wir erst einmal unsere analytischen Fähigkeiten zu Wort kommen lassen.“

„Also los. Fangen wir an.“ Martin unterbrach seine Wanderung und nahm ihr gegenüber Platz.

„Erstens: Wir beide hatten den unwiderstehlichen Zwang, in die Kate zu gehen. Richtig?“

„Richtig.“

„Zweitens: Du wurdest gezwungen, den Stein herauszunehmen. Richtig?“

„Richtig.“

„Drittens: Du hattest den Auftrag unserer beider Hände um den Stein zu schließen. Richtig?“

„Richtig.“

„Viertens: Ich hatte Visionen und du nicht. Richtig?“

„Stimmt.“

„Fünftens: Also bin ich verrückt und du nicht. Richtig?“

„Glas klar. Du bist verrückt.“

„Martin so kommen wir keinen Schritt weiter. Wir müssen als Erstes wissen, wer dich manipuliert.“

„Ich hab‘ nicht den Eindruck, manipuliert zu werden.“

„Sei doch einmal ehrlich zu dir selbst. Alles was du mir bisher über den Stein erzählt hast, legt den Schluss nahe, dass etwas Fremdes dein Leben vorbestimmt.

„Nein, nein Britta. Versuch‘ nicht, mir etwas einzureden. Ich hab‘ immer freiwillig den Kontakt zu dem Stein gesucht. Nie wurde ich dazu gezwungen. Es sei denn, du nennst Entspannung Zwang.“

„Genau das ist es Martin. Es ist wie ein Suchtmittel. Wie Rauschgift oder etwas Ähnliches. Als dein Stein in Berlin war, warst du nicht zu genießen und für nichts zu gebrauchen. Du bist süchtig und stehst unter Zwang.“

„Das mag ja richtig sein. Aber trotzdem kommen wir darüber nicht weiter. Du redest mit unserem Kind? Lassen wir meine Person mal außer Acht. Mütter reden immer mit ihren Kindern … auch, wenn sie noch nicht geboren sind … das finde ich vollkommen korrekt.“

Brittas Kopf lief rot an und drohte jeden Augenblick zu platzen. Sie schrie ihn an.

„Du hast mir keine Minute zugehört. Im Moment kannst du mich kreuzweise. Setz dich einmal mit dem auseinander, was ich dir erzählt habe. Ich verschwinde jetzt und will duschen.“

So schnell ihr unförmiger Körper es zuließ, verschwand sie durch die Tür und ließ einen belämmerten Martin zurück.

*

KYRA

Подняться наверх