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Kapitel 10

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Die nächsten Tage und Wochen verliefen für Olga wie in Trance. Irgendwie funktionierte sie, aber sie war vollkommen antriebslos und hatte an allem die Freude verloren. Ute versuchte sie aus ihrer Lethargie zu reißen, indem sie sie immer wieder zu diversen Aktivitäten zu überreden versuchte. Darauf ließ sie sich auch ein, weil sie sich selbst sagte, dass sie etwas gegen ihre Depressionen unternehmen musste, doch der Erfolg stellte sich nicht ein. Sobald sie alleine war überkam sie das heulende Elend, und um dies nicht bis zu den Vermietern durchdringen zu lassen, flüchtete sie sich regelrecht zu ihren Eltern und ließ sich vor allem von ihrer Mutter verwöhnen wie früher. Ihr Vater hielt sich mit seinen Kommentaren zurück. Dafür war Olga ihm sehr dankbar, zumal sie schon lange wusste, dass Richard nicht der Typ Mensch war, mit dem er sich gut verstanden hätte.

Die Sommerferien waren angebrochen. Die meiste Zeit davon verbrachte Olga bei ihren Eltern, vierzehn Tage nutzte sie, um ihre beste Freundin Kathi zu besuchen, die schon während des Studiums ihre Sandkastenliebe Fred geheiratet hatte und mit ihm mittlerweile in einem kleinen Ort nahe Hamburg lebte.

Als das neue Schuljahr begann, hatte sie sich einigermaßen gefangen. Ihr war klar geworden, dass sie sich auf ihr neues Leben als Lehrerin in einer Kleinstadt einstellen musste und dass die unbeschwerte Studienzeit endgültig vorbei war. Auch die Kommilitonen, die im Sommersemester noch an der PH waren, hatten inzwischen ihre erste Dienststelle antreten und sich einer neuen Realität stellen müssen. Nur Richard hatte noch einige Semester vor sich – aber der war endgültig Vergangenheit. Anfänglich hatte sie gehofft, er würde sich noch einmal bei ihr melden, doch da nichts dergleichen geschah, musste sie das Scheitern dieser Beziehung wohl oder übel akzeptieren.

Deshalb stürzte Olga sich mit Feuereifer in die Arbeit mit ihrer Klasse und gewann das Gefühl, mit der gestellten Aufgabe viel besser klar zu kommen als noch einige Wochen davor. Tatsächlich schienen die Kinder gereift und ihren Anstrengungen gegenüber sehr viel empfänglicher zu sein. Mit Ute verbrachte sie einen großen Teil ihrer Freizeit, konnte sie mit ihr doch wirklich sämtliche Probleme besprechen. Außerdem nahm sie auf diese Weise direkt teil an den Herausforderungen, die die zweite Dienstprüfung für die Junglehrer bereithielt. Ute schrieb gerade ihre Zulassungsarbeit und es war für beide eine Hilfe, deren Inhalte gemeinsam zu erörtern. Denn auch Olga musste sich langsam ein entsprechendes Thema überlegen. Bisher hatte sie durch die Seminare, die für die Junglehrer jede Woche verpflichtend waren, noch keine zündende Idee bekommen.

Als sie an diesem Morgen in ihr Auto stieg, um zur Schule zu fahren, gab dieses nur noch ein Krächzen von sich, als sie den Zündschlüssel drehte. Sie versuchte es ein zweites und drittes Mal, doch der Motor sprang nicht an.

„So ein Mist!“ fluchte sie leise vor sich hin, denn ausgerechnet heute hatte sie eine Menge zu schleppen und war außerdem spät dran. Noch einmal versuchte sie es, dann gab sie seufzend auf. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig als die ganzen Materialien zu Fuß zur Schule zu schleppen. Gerade wollte sie aussteigen, als zwei junge Männer neben dem Auto stehen blieben.

„Hört sich an, als hätte die Batterie ihren Geist aufgegeben“, meinte einer von ihnen. „Haben Sie es sehr eilig?“

„Eigentlich schon“, seufzte Olga missmutig. „Ich sollte in 10 Minuten bei der Falknerschule sein. Zu Fuß schaffe ich das kaum.“

„Wir können Sie hinbringen“, schlug der zweite vor. „Unser Auto steht gleich da vorne. Wir müssen zur Fachhochschule, da liegt das fast auf dem Weg.“

„Oh, das wäre wirklich meine Rettung.“

Dankbar folgte Olga dem Größeren, während der Kleinere ihr einen Teil ihrer Taschen abnahm und zu einem ebenfalls recht bejahrten VW-Käfer trug. In der kurzen Zeit stellten sie sich vor als Karl und Eduard, Studenten im ersten Semester an der hiesigen Fachhochschule, und sie boten ihr auch an, am Nachmittag noch einmal nach ihrem Auto zu schauen. Vielleicht gäbe es ja eine einfache Lösung des Problems.

Dank dieser Fahrmöglichkeit kam Olga gerade noch pünktlich an und bedankte sich überschwänglich bei ihren Rettern.

„Wann bist du denn am Nachmittag zu Hause?“ fragte Karl. „Wir können dann gleich nachschauen, ob wir was tun können. Wir wohnen ja nur zwei Häuser weiter.“

Sie überlegte kurz.

„Ab drei bin ich sicher da.“

„Das passt bei uns auch. Wir können uns an deinem Auto treffen.“

„Super! Dann also bis heute Nachmittag!“

Ziemlich beschwingt ging Olga in ihren Unterricht. So unmöglich der Tag auch begonnen hatte, nun versprach er ein richtig gutes Ende zu nehmen. Als dann in der großen Pause auch noch Frau Müller auf sie zukam und sich lobend über ihre Klasse äußerte, ganz besonders auch noch ihre Leistung bei der positiven Veränderung hervorhob, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, an diesem Arbeitsplatz angekommen zu sein. Sie war richtig aufgekratzt, als sie Ute von dem Vorfall am Morgen und von Frau Müllers Lob erzählte.

Kurz vor drei nahm Ute sie im Auto mit nach Hause. Kaum waren sie in Olgas Wohnstraße eingebogen, sahen sie schon den VW von Eduard und Karl mit geöffneter Schnauze an dem von Olga stehen und sie selbst warteten auf dem Gehsteig mit einem Anlasserkabel in der Hand. Fröhlich begrüßte Olga sie und stellte ihnen Ute vor.

„Hoffentlich musstet ihr nicht zu lange warten“, entschuldigte sie sich und warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr, während sie die Motorhaube öffnete.

„Nein, wir waren etwas zu früh“, meinte Eduard und warf einen fachmännischen Blick in den Motorraum. „Nun mal sehen, ob wir deinen Motor wieder in Schwung kriegen. Setz dich mal ans Steuer und gib Gas, wenn ich dir das Zeichen gebe.“

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis der Motor ansprang und Olga eine kleine Proberunde drehen konnte, nachdem das Anlasserkabel entfernt war. Glücklich stieg sie aus ihrem wieder brauchbaren Gefährt.

„Ein paar Straßen weiter ist ein Cafe. Darf ich euch alle drei dahin einladen?“ schlug sie vor.

Weder Ute noch die zwei Helfer hatten etwas dagegen einzuwenden und stiegen gerne in Olgas Auto ein. Sie fanden auch gleich eine gemütliche Ecke in dem Cafe und unterhielten sich über die ersten Eindrücke der beiden an der Fachhochschule und einige Dozenten, die zufällig mit Kolleginnen von Olga und Ute verheiratet und deshalb gemeinsame „Bekannte“ waren. Auch die Freizeitmöglichkeiten, die in und um die kleine Stadt geboten waren, wurden diskutiert.

„Es ist schon ganz gut, wenn man gleich jemanden kennen lernt, der sich auskennt“, meinte Karl anerkennend. „Vielleicht treffen wir uns mal zu einer gemeinsamen Erkundung.“

„Gute Idee“, stimmte Eduard zu.

Olga und Ute warfen sich einen raschen Blick zu.

„Warum nicht?“ meinte Olga schließlich. „Wie wäre es am kommenden Sonntag?“

Jetzt waren es Karl und Eduard, die sich kurz anschauten.

„Sonntag geht nicht“, antwortete Karl zögernd. „Am Wochenende wollten wir nach Hause fahren. Wir dachten eher an einen Wochentag. Warum nicht morgen Abend?“

„Das lässt sich schon machen. Was meinst du, Ute?“

Sie hatte auch nichts dagegen einzuwenden und sie verabredeten sich auf 19.00 Uhr.

Die türkische Leine

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