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Kapitel 18

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Doch es sollte alles anders kommen.

Am Freitag, dem letzten Ferientag, läutete schon früh morgens das Telefon. Herr Jesser war am Apparat.

„Gut, dass ich Sie gleich erwische“, dröhnte er in den Hörer. „Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie versetzt werden. Montag fangen Sie an der Friedrichschule an.“

Olga glaubte sich verhört zu haben.

„Was?“ stieß sie fassungslos hervor.

„Sie sind versetzt. Den Schulschlüssel können Sie heute Vormittag oder Montagnachmittag im Rektorat abgeben. Falls Sie sonst noch persönliche Dinge hier an der Schule haben, können Sie die dann gleich mitnehmen.“

„Aber meine Klasse! Es hieß doch, dass ich meine Klasse in der Vierten weiterführen kann.“

„Tja, manchmal läuft es halt anders. An der Friedrichschule werden Lehrer gebraucht und wir haben einen zu viel. Sie sind die Jüngste hier – Sie werden sich schnell dort einleben.“

„Meine Zulassungsarbeit ist doch ganz auf meine jetzige Klasse zugeschnitten…“

„Da gibt es bestimmt Möglichkeiten, sie einer anderen Klasse anzupassen. Sie haben ja noch ein bisschen Zeit damit.“

Es gab nichts mehr einzuwenden. Olga ließ den Hörer sinken und starrte erst einmal wie betäubt die Wand an. Befand sie sich in einem Albtraum? Nie wäre ihr so eine Veränderung der beruflichen Situation in den Sinn gekommen! Sie hatte auch noch nie von jemandem gehört, dem so etwas passiert war.

Schließlich löste sie sich aus ihrer Starre und rief Ute an. Mit tonloser Stimme berichtete sie von Jessers Anruf. Auch die Freundin war geschockt.

„Das ist wirklich die Höhe“, ereiferte sie sich. „Erst bekommst du als blutige Anfängerin diese Klasse, die keiner sonst freiwillig übernehmen wollte, und nun, wo du die Kinder so gut im Griff hast, wirst du versetzt. Was ist denn jetzt mit deiner Zulassungsarbeit? Kannst du dein Skript wenigstens weiter verwenden an der neuen Schule?“

Resigniert zuckte Olga die Schultern.

„Ich weiß doch gar nicht, was mich an der Friedrichschule erwartet. Auf jeden Fall versuche ich heute Morgen noch jemanden zu erreichen, aber…“, sie kämpfte mit den Tränen, weil sie sich plötzlich in ein tiefes Loch gestoßen fühlte, „wenn niemand an der Schule ist, muss ich bis Montag früh warten.“

„Du kannst da sofort anrufen“, bot Ute ihr an, „dann weißt du gleich, ob jemand da ist.“

Sie suchte gleich die Telefonnummer der Schule heraus und drückte Olga den Telefonhörer in die Hand. Tatsächlich erreichte sie den Rektor der Schule, der ihr vorschlug doch gleich zu einem kurzen Gespräch vorbeizukommen – der erste Lichtblick dieses Tages.

Herr Wilde machte einen sehr väterlichen Eindruck und nahm Olga viel von ihrer Beklemmung. Allerdings veränderte der Lehrauftrag, den er ihr zudachte, ihre ganze Planung. Sie sollte Klassenlehrerin einer fünften Klasse werden und Englischfachunterricht in den Klassen sieben und acht geben. Für sie ein total neues Aufgabengebiet. Es war ihr ein Rätsel, wie sie das mit ihrer zweiten Dienstprüfung in Einklang würde bringen können, doch Herr Wilde beruhigte sie und meinte, sie solle das erst einmal in Ruhe angehen.

Ziemlich deprimiert kam Olga zu ihrer Freundin zurück.

„Mein ganzer Aufwand für die Zulassungsarbeit war für die Katz`. Ich kann gerade wieder von vorne anfangen“, stöhnte sie.

Die praktische Ute suchte gleich die Möglichkeiten zur Schadensbegrenzung.

„Dein Konzept steht doch, das war nicht umsonst. Und die Testbögen lassen sich bestimmt auch bei Fünftklässlern einsetzen. Jetzt lerne erst einmal deine neue Klasse kennen und lass nicht gleich den Kopf hängen!“

*

Die ersten Wochen an der neuen Schule waren für Olga eine echte Herausforderung. In den neuen Räumlichkeiten musste sie sich erst zurechtfinden, Kontakt finden zu den Kollegen war ebenfalls nicht einfach, denn sie waren zwar nett, aber auch sehr distanziert, dazu kamen die verschiedenen Klassen, in denen sie unterrichtete und der Lehrstoff, in den sie sich einzuarbeiten hatte. Zum Glück lief es mit ihrer fünften Klasse recht gut, aber die Schüler der siebten und achten Klasse machten es ihr nicht leicht.

Nach den Schulvormittagen war sie völlig ausgepumpt und nachmittags oder abends war meist nicht im Traum daran zu denken, neben den Vorbereitungen für den nächsten Tag an der Zulassungsarbeit weiterzumachen. Um einigermaßen wieder zu sich zu kommen ging sie nach dem Unterricht meist zu Ute, die immer eine gute Zuhörerin und Ratgeberin war.

Inzwischen waren Karl und Eduard ebenfalls zum nächsten Semester eingetrudelt. Sie suchten gleich den Kontakt zu den beiden und gedachten ihre Freundschaft so weiterzuführen, wie sie es vor den Sommerferien gewohnt waren, doch Olga wurde plötzlich alles zu viel. Ute versuchte ihr klarzumachen, dass sie neben der Arbeit auch noch etwas Abwechslung bräuchte. Das wollte sie auch, aber wenn sie gemeinsam etwas unternahmen, plagte sie stets das schlechte Gewissen, weil sie nicht mit ihrer Arbeit vorankam, und so war sie alles andere als ein amüsanter Begleiter.

„Du gefällst mir überhaupt nicht“, hielt Ute ihr vor. „Wenn du so weitermachst wie bisher, klappst du eines Tages zusammen.“

„Was würdest du denn an meiner Stelle tun? Ich muss mich ganz neu in den Unterrichtsstoff einarbeiten und dazu den ganzen theoretischen Teil meiner Zulassungsarbeit umschreiben. Eigentlich müsste ich jede freie Minute weiterarbeiten!“

„Du übertreibst das alles“, erklärte Ute lapidar.

Olga war verletzt und fühlte sich unverstanden. Einige Zeit ging sie nach dem Unterricht nicht mehr bei der Freundin vorbei und vermied auch gemeinsame Unternehmungen. Doch sie kam mit ihrem Vorhaben nicht besser voran.

Nach einer Woche stand Ute vor der Tür. Sie erschrak bei Olgas Anblick.

„Wie siehst du denn aus? Du hast Augenränder, als hättest du jede Nacht durchgemacht!“

„Mir geht es nicht besonders“, gab Olga zu. „Ich kann nachts nicht schlafen und habe ständig Kopfschmerzen.“

Ute folgte ihr in das Wohnzimmer, wo der Esstisch mit Büchern und Schreibmaterial fast überlief. Auf dem Boden lagen unzählige Ordner und Blätter herum.

„Hast du hier denn überhaupt noch einen Überblick?“ fragte Ute zweifelnd.

„Ich packe es nicht“, stöhnte Olga. „Ich weiß einfach nicht mehr, wo ich anfangen soll. Und der Abgabetermin für die Zulassungsarbeit kommt immer näher!“

„Du solltest mit deinem Dozenten sprechen. In dieser Situation bekommst du bestimmt eine Verlängerung. Immerhin ist die Versetzung so etwas wie höhere Gewalt.“

„Wahrscheinlich hast du Recht. Aber das bedeutet, dass die ganze Prüfung sich um ein halbes Jahr verschiebt. Ich hatte so gehofft, am Ende diese Schuljahres alles hinter mir zu haben!“

„Lass uns erst einmal Ordnung in dieses Durcheinander bringen“, schlug Ute vor und griff nach den ersten Büchern. „Am besten machen wir hier verschiedene Stapel nach Themen geordnet.“

Sie arbeiteten sich eine Stunde lang durch das Chaos, doch danach sahen der Tisch und seine Umgebung sehr viel übersichtlicher aus. Dankbar schaute Olga ihre Freundin an.

„Das hätte ich allein nicht geschafft. Irgendwie fehlt mir im Moment für alles der Antrieb.“

„Du brauchst halt auch ein bisschen Abwechslung. Eigentlich bin ich gekommen, um dich für morgen Abend einzuladen. Es gibt überbackenen Toast und jeder bringt einen Salat mit. Eduard und Karl kommen auch.“

Olga war zunächst versucht abzulehnen, aber dann ließ sie sich doch überzeugen. Immerhin musste sie zugeben, dass ihr selbstverordnetes Einsiedlerleben sie bisher nicht voran gebracht hatte. Im Gegenteil!

Tatsächlich baute der gesellige Abend sie ein bisschen auf. Gleich am nächsten Tag setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an ihren Dozenten, in dem sie ihm die Situation schilderte. Es war kein Problem für ihn, den Abgabetermin zu verschieben. Das gab ihr neuen Auftrieb und sie legte sich einen Zeitplan zurecht, der sie nicht so unter Druck setzte. Mit einem kleineren Arbeitspensum am Tag ließ sich alles ganz gut bewältigen.

Die türkische Leine

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