Читать книгу Die türkische Leine - Iris Bulling - Страница 22
Kapitel 19
ОглавлениеDoch die Arbeit mit den pubertierenden Schülern in ihrem Englischunterricht frustrierte sie immer mehr. Wenn es besonders schlimm war, ging sie vor dem Nachhausegehen wieder bei Ute vorbei. Ihr konnte sie die neuesten Vorfälle erzählen und meist gelang es ihr dadurch, aus ihrem Tief zu kommen.
An diesem Mittwoch war auch so ein Tag. Als Olga sich in ihr Auto setzte, war ihr zum Heulen zumute. Es war ihr in der sechsten Unterrichtsstunde kaum gelungen, auch nur annähernd Disziplin in die achte Klasse zu bekommen und sie stellte sich mit Entsetzen vor, wie es wäre, in dieser eine Prüfungslehrprobe halten zu müssen.
Utes Auto stand schon auf dem Parkplatz vor dem Haus und Olga atmete auf. Sie wäre verrückt geworden, wenn sie jetzt gleich in ihre leere Wohnung gemusst hätte. Ja, dieses Gefühl der Leere überkam sie jedes Mal, wenn sie ihre Wohnungstür aufschloss. Immer öfter dachte sie in letzter Zeit wieder an Richard und quälte sich mit der Frage, warum diese Beziehung zerbrochen war und ob sie dem hätte entgegenwirken können.
Olga läutete und kurz danach ertönte der Summer. Sie drückte die Haustür auf und fuhr mit dem Aufzug in Utes Etage. Die Wohnungstür stand offen. Als Olga eintrat, hörte sie Stimmen. Nur zögernd ging sie weiter zum Wohnzimmer. Sie kam doch wohl nicht unpassend?
An Utes Tisch saß eine Kollegin, die auch Olga von ihrer ehemaligen Schule kannte, Isolde Braun. Sie war etwas älter als Ute, hatte aber eigentlich nie näheren Kontakt gesucht.
„Hallo“, sagte Olga überrascht. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du Besuch hast.“
„Du kennst Isolde ja“, meinte Ute fröhlich. „Sie unterrichtet die Parallelklasse und wir haben uns überlegt, einiges gemeinsam vorzubereiten.“
„Hallo Olga“, ließ Isolde sich vernehmen. „Wie geht`s denn so?“
Sie ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl sinken und seufzte.
„Frag lieber nicht. Ich bin gerade völlig ausgebrannt.“
Dann ließ sie sich aber doch dazu hinreißen, einiges von ihren Schwierigkeiten zu erzählen.
„Komm, iss erst eine Kleinigkeit“, schlug Ute schließlich vor und holte noch einen Teller und Besteck für sie. Spaghetti und Tomatensoße standen schon auf dem Tisch.
Während des Essens verstand Isolde es, das Gespräch zu dominieren und auf ziemlich banale Themen zu reduzieren. Bei Olga machte sich Frust breit. Sie wollte so gerne einiges mit Ute bereden, doch Isolde hatte anscheinend jede Menge Zeit. Auch schien Ute die Gesellschaft ganz angenehm zu finden. Deshalb erhob sie sich bald nach dem Essen.
„Ja, dann will ich mal nach Hause gehen. Vielen Dank für die Spaghetti und – na ja, vielleicht können wir abends mal wieder was machen.“
Ute ging mit ihr noch zur Wohnungstür.
„Melde dich einfach, wenn dir danach ist.“
Als Olga ihre Wohnungstür aufschloss, begannen mit unverminderter Heftigkeit wieder ihre Kopfschmerzen. Ihr erster Weg war ins Badezimmer an den Apothekenschrank, wo sie nach Schmerztabletten suchte.
*
Danach hatte sie keine große Lust mehr, nach der Schule bei Ute vorbeizuschauen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass diese sich besser mit Isolde verstehen würde als mit ihr. Kein Wunder, schließlich waren sie an der gleichen Schule und sahen sich automatisch jeden Tag! Bei ihr dagegen nahm das Gefühl der Isolation stetig zu. Und dann auch noch diese Kopfschmerzen, die langsam ihr ständiger Begleiter wurden! Meist trank sie mittags jetzt ein Glas Wein und schluckte dazu wahllos irgendwelche Schmerztabletten, um danach erst einmal auf ihre Liege zu sinken und zu schlafen.
Abermals war es Ute, die an einem Spätnachmittag vor ihrer Tür stand.
„Was ist denn los mit dir? Warum lässt du dich überhaupt nicht mehr blicken?“
„Ach, mir rennt die Zeit weg. Nach dem Unterricht schlafe ich meist ziemlich lange und dann reicht es gerade noch für die Vorbereitungen am nächsten Tag. Und du hast ja Isolde…“
Ute war fassungslos.
„Sag mal, spinnst du? Was hat Isolde denn damit zu tun?“
„Na, ja, letztes Mal, als ich bei dir war, hatte ich schon das Gefühl zu stören…“
„Meine Güte, Olga, jetzt kennen wir uns so lange und du denkst, du bist unwillkommen? Ich bin natürlich froh, dass ich mit Isolde zusammen arbeiten kann und wir uns inzwischen auch ganz gut verstehen, aber das ändert doch nichts an unserer Freundschaft! Allerdings bist du nicht die Einzige, die Probleme hat. Isolde hat im Moment ganz ordentlich an etwas zu knabbern.“
„Tatsächlich? Dieses Bündel an übersteigertem Selbstbewusstsein?“
„Alles gespielt. Wusstest du, dass sie seit drei Jahren eine Beziehung mit einem verheirateten Mann hat, der sich schon fast genauso lange scheiden lassen will? Und nun hat er ihr erklärt, dass er zu seiner Ex zurückgeht, weil diese ein Kind erwartet. Das nimmt sie ziemlich mit!“
„Das habe ich natürlich nicht gewusst“, sagte Olga betroffen.
„Du siehst, es ist keiner vor Schicksalsschlägen gefeit. Es wäre wirklich schön, wenn du dich uns ab und zu anschließen würdest, wenn wir was unternehmen. Eduard und Karl fragen auch andauernd nach dir. Wenn du dich weiterhin so einkapselst, ist dir bestimmt nicht geholfen!“
Wieder einmal nahm Olga sich vor, Utes Rat zu befolgen. Sie beteiligte sich häufiger an gemeinsamen Unternehmungen und betrachtete Isolde, die jetzt ebenfalls meist mit dabei war, mit anderen Augen. Eigentlich konnte man sich ja ganz gut mit ihr verstehen. Dass Eduard und Karl sich so offensichtlich über ihre Anwesenheit freuten, beflügelte sie ebenfalls.
Doch wenn sie wieder allein in ihrer Wohnung war, überkam sie das große Elend. Alles kam ihr so trostlos und dunkel vor, wobei die inzwischen deutlich kürzer gewordenen Herbsttage und der häufige Nebel das ihre dazu beitrugen. Und dann diese Kopfschmerzen, die sich auch durch eine gesteigerte Menge an Aspirin nicht mehr verjagen ließen!
Sie hätte gerne mit Ute mal darüber gesprochen, aber nur unter vier Augen. Da diese sich aber sehr oft mit Isolde traf, gab es kaum die Möglichkeit sie allein anzutreffen. Als es ihr endlich einmal gelang und sie ihr davon erzählte, schüttelte Ute hilflos den Kopf.
„Du solltest unbedingt zum Arzt gehen. So kannst du doch nicht weiter machen.“
„Ich kann es mir nicht leisten krank zu werden.“
„So kannst du aber auf Dauer auch nicht unterrichten. Du treibst Raubbau mit deinem Körper, aber das wird dir nie jemand danken. Wie willst du denn so deine Prüfung schaffen?“
Olga zuckte unglücklich die Schultern. „Es wird irgendwie gehen.“
Ute drang nicht weiter in sie ein. Eine Woche später läutete Olga bei ihr Sturm, weil die Wände ihres Zimmers auf sie zu stürzen drohten…