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Kapitel 20

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Abermals eine Woche später stand Olga auf dem großen Parkplatz einer psychosomatischen Klinik. Der Komplex thronte majestätisch über dem malerischen Schwarzwaldstädtchen, doch Olga hatte keinen Blick für die Schönheit der Umgebung. Sie bangte einem Termin bei Dr. Trothe, dem Chefarzt, entgegen.

Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, stieg sie schließlich aus und ging die Anhöhe zu dem Haupteingang hinauf. Am Empfang meldete sie sich an und setzte sich dann ins Wartezimmer. Sie musste nicht lange warten, bis sie in ein helles, edel eingerichtetes Zimmer gerufen wurde. Der ältere Herr, der am Schreibtisch saß, erhob sich sofort und bot ihr einen Platz in einem gemütlichen Sessel an. Er selbst setzte sich ihr gegenüber und musterte sie forschend.

„Nun, was führt Sie zu mir?“ wollte er wissen.

Olga schluckte, dann begann sie zu erzählen von der Kälte und Dunkelheit, die sie in ihrer Wohnung empfand, ihrer Panikattacke und ihrer verzweifelten Flucht vor scheinbar einstürzenden Wänden. Er hörte ihr geduldig zu, doch als sie geendet hatte, schwieg er, als müsse sie noch mehr erzählen. Unter seinem bohrenden Blick rutschte sie unsicher in ihrem Sessel hin und her und wusste nicht so recht, was er von ihr erwartete. Nach einem schier ewig andauernden Schweigen fragte er unvermittelt: „Haben Sie einen Freund?“

Darüber hatte sie eigentlich nicht sprechen wollen! Was hatte das denn mit ihren Ängsten und Gefühlen zu tun? Sie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten und die Stimme zu versagen drohte. Tapfer wollte sie diese Gefühlsregung unterdrücken, doch es gelang ihr nicht so recht. Schließlich schüttelte sie den Kopf und flüsterte: „Meine Beziehung – sie ist vor etwa einem Jahr auseinandergegangen.“

„Und Sie sind noch nicht darüber weg?“

Jetzt flossen die Tränen wirklich und sie konnte nichts dagegen tun. Verzweifelt suchte sie nach einem Taschentuch und war äußerst dankbar, als ihr plötzlich eines vor die Nase gehalten wurde. Dr. Trothe wartete geduldig, bis sie sich wieder etwas gefasst hatte.

„Wir können Ihr Problem schon in den Griff bekommen“, meinte er bedächtig. „Aber nicht heute und auch nicht in kurzer Zeit. Eigentlich sehe ich nur eine Möglichkeit: Sie müssen sich auf einen mindestens vierwöchigen Klinikaufenthalt einlassen. Raus aus Ihrem gewohnten Umfeld.“

„Das geht nicht“, wehrte sie erschrocken ab. „Ich stecke mitten in der zweiten Dienstprüfung und…“

„Mein liebes Kind, so, wie Sie gerade vor mir sitzen, schaffen Sie keine Prüfung. Sie müssen sich erst wieder festigen – und das kann nur durch einen längeren Aufenthalt hier mit einer entsprechenden Behandlung gelingen.“

*

Olga fügte sich in ihr Schicksal. Da nicht sofort ein Zimmer in der Klinik frei war, lebte sie auf Abruf bei ihren Eltern und versuchte, in dieser Zeit noch so viel wie möglich zu regeln. Ein Gespräch mit Herr Wilde musste getätigt werden und er zeigte sich erstaunlich verständnisvoll. In diesem Moment war sie dankbar, dass nicht mehr Herr Jesser ihr Chef war. Der hätte sie mit seiner sardonischen Art garantiert noch tiefer hinabgezogen.

Schon nach drei Tagen kam der erwartete Anruf. Nun gab es kein Zurück mehr. Tapfer lud sie ihren Koffer ins Auto, verabschiedete sich von ihren Eltern und fuhr los.

Die Aufnahmeformalitäten waren schnell erledigt und eine nette Schwester führte sie in ihr Zimmer. Es war recht groß, aber karg eingerichtet mit einem Bett, Nachttischchen, Schrank, Schreibtisch und Stuhl, hatte aber immerhin ein eigenes Badezimmer. Bedrückt schaute Olga sich um.

„Sie können es sich richtig wohnlich einrichten“, lächelte ihre Begleiterin. „Unsere Patienten verstehen es innerhalb kürzester Zeit, diesen Räumen ihre individuelle Prägung zu verpassen. Manche entdecken erst hier den Künstler in sich und haben wahre Kunstwerke geschaffen. So, jetzt ist es elf Uhr. Gehen Sie doch hoch in den Gesellschaftsraum, da werden Sie gleich einige unserer Patienten kennen lernen. Um zwölf gibt es dann Mittagessen im Speisesaal. Und um vierzehn Uhr haben Sie einen Termin bei Dr. Trothe, der Ihnen alles Weitere erklären wird.“

Das bisschen Gepäck war bald verstaut. Olga warf einen Blick auf die Uhr: Viertel nach elf. Eigentlich hatte sie keine Lust, anderen Patienten zu begegnen, aber was sollte sie tun bis zum Mittagessen? Schließlich suchte sie doch den Weg zum Gesellschaftsraum.

Es war ein heller lichtdurchfluteter Raum mit bequemen Cocktailsesseln und kleinen Tischen. Überall saßen kleine Grüppchen von ganz normal wirkenden Leuten aller Altersstufen, die sich munter unterhielten. Olga entdeckte einen leeren Tisch in der Ecke, auf den sie zusteuerte. Von hier aus hoffte sie das Ganze übersehen zu können. Allerdings blieb sie nicht lange allein. Von einem der anderen Tische erhob sich ein nicht mehr ganz junger Mann und setzte sich ohne Umstände ihr gegenüber.

„Hallo, ich bin Georg. Bist du neu?“

Sie musterte ihn unangenehm berührt und wusste nicht so recht, ob sie ihn unsympathisch finden sollte oder nicht. Eigentlich sah er ganz gut aus, doch er entblößte beim Lächeln schiefe Zähne und das stieß sie ab. Auch seine vertrauliche Art war ihr unangenehm.

„Ich heiße Olga“, meinte sie schließlich. „Ich bin gerade erst angekommen.“

„Und was hast du für ein Problem?“

„Wie bitte?“

„Na ja, warum bist du hier? Es kommt doch keiner ohne Grund hierher!“

„Äh – darüber möchte ich eigentlich nicht mit jedem reden.“

„Ach so, du traust dich noch nicht. Na warte mal ab, in einigen Tagen bist du bestimmt aufgetaut. Früher oder später reden alle hier, selbst die, die am Anfang keinen Ton herausbringen.“

„He Georg, wandelst du schon wieder auf Freiersfüßen?“ ließ sich von einem der anderen Tische jemand vernehmen. „Kannst du die junge Dame nicht erst einmal sich vorstellen lassen?“

Dankbar schaute Olga den Unterbrecher an und stellte sich kurz vor. Daraufhin erfuhr sie jede Menge Namen und wurde eifrig ins Gespräch verwickelt. So verging die Zeit bis zum Mittagessen rasend schnell und es war ganz einfach, den anderen in den Speisesaal zu folgen. Ihren Platz fand sie ebenfalls sofort, denn er war mit ihrem Namen gekennzeichnet, wie ihr von ihren Begleitern erklärt wurde. Zwei ältere Herren, die sich als Gunther und Hans vorstellten, und eine schon recht betagte Frau Haug hatten sich bereits an dem Tisch niedergelassen. Erleichtert stellte Olga fest, dass der aufdringliche Georg weit weg von ihr saß. Trotz des Altersunterschieds entwickelte sich ein angenehmes Gespräch mit ihren Tischnachbarn und sie merkte, wie sie immer mehr entspannte. Dann wurde das Essen serviert. Eine ältere Dame im Kellnerdress servierte an dem Tisch, an dem sie saß und stellte sich als Frau Schmitz vor.

„Ich sorge hier mit meiner Mannschaft für Ihr leibliches Wohl“, erklärte sie mit einer etwas aufgesetzten Freundlichkeit. „Wenn Sie irgendwelche Anliegen in dieser Richtung haben, dürfen Sie mich gerne kontaktieren.“

„Ja, vielen Dank. Das Essen sieht ja sehr gut aus.“

„Frau Schmitz ist die Chefin hier“, erklärte Gunther amüsiert, nachdem sie sich wieder entfernt hatte. „Ihre Mannschaft hat sie ganz schön im Griff. Servieren tut sie nur, wenn jemand neu hier ist. Ansonsten lässt sie ihre Leutchen die Arbeit machen.“

In diesem Moment rief Frau Schmitz mit lauter Stimme Olgas Namen. Irritiert drehte sie sich um, doch anscheinend war sie nicht gemeint, denn durch die Klapptür, die augenscheinlich zur Küche führte, kam eilig ein junger Mann, auf den sie einredete. Olgas Herz begann plötzlich zu klopfen. Diese schlanke Gestalt im weißen Hemd mit der schwarzen Hose, dem vollen, ordentlich frisierten Haar, dem kleinen Oberlippenbart und den feurigen Augen – so ein schöner Mann war ihr noch nie begegnet!

„Das ist Tolga“, meinte Frau Haug, die ihrem Blick gefolgt war. „Schon lustig, dass er fast den gleichen Namen hat wie Sie. Sein Bruder Ali arbeitet auch hier.“

Verlegen wandte Olga sich ihr zu.

„Ja, ich hatte wirklich geglaubt, Frau Schmitz hätte mich gerufen. Tolga – diesen Namen habe ich noch nie gehört!“

„Tolga und Ali sind aus der Türkei. Sie machen ihre Arbeit hier sehr gut. Auf jeden Fall sind sie beliebter als Frau Schmitz und Leni, die auch hier arbeitet. Aber Sie werden das alles bald selbst feststellen.“

Da Olga mit dem Rücken zum Saal saß, konnte sie sich nicht so gut einen Überblick verschaffen, zumal sie nicht neugierig wirken wollte. So erhaschte sie nur kurze Blicke auf die jungen Leute, die an den anderen Tischen bedienten. Trotzdem machte die blutjunge Leni einen etwas naiven Eindruck auf sie, während die beiden Brüder sich sehr gewandt zu bewegen verstanden. Ali war etwas größer, wirkte maskuliner, sah auch interessant aus, aber wenn sie es nicht gesagt bekommen hätte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass sie Geschwister sein könnten.

Die türkische Leine

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