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Kapitel 1

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18 Monate davor…

Es war fast wie ein Aprilscherz: Die Vereidigung der Junglehrer fand tatsächlich am 1. April 1973 auf dem Schulamt statt. Zusammen mit 28 anderen Lehramtsanwärtern stand Olga Wessling in dem recht nüchternen Raum und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Einige ihrer Mitstreiter kannte sie schon vom Studium her, was ihr ein gewisses Gefühl der Beruhigung gab. Doch für alle war es ein großer Schritt ins Unbekannte – weg von der doch relativ unbeschwerten Studienzeit hinein ins geregelte Berufsleben.

Olga war zumindest mit ihrem zukünftigen Standort ganz zufrieden. Die Kleinstadt, in der sie ihre erste Dienststelle antreten sollte, war nicht weit weg vom Wohnsitz ihrer Eltern, wo sie zunächst auch wohnen konnte, bis sie eine eigene Wohnung finden würde. Aber vor allem war ihr Studienort von da aus leicht zu erreichen, wo noch immer einige Freunde lebten, vor allem Richard, mit dem sich zum Schluss trotz einiger Turbulenzen eine engere Beziehung entwickelt hatte.

Am Montag stand sie dann mit klopfendem Herzen vor dem alten ehrwürdigen Schulgebäude, in dem sie von nun an wirken sollte. Das Zimmer des Rektors lag gleich im ersten Stockwerk und nach einem tiefen Einatmen klopfte sie kräftig an die Tür.

Herr Jesser war schon recht betagt. Das Gespräch mit ihm war kurz.

„Sie bekommen eine zweite Klasse“, verkündete er dröhnend. „Damit werden Sie ja wohl fertig?“

Olga kam sich selbst vor wie ein kleines Schulmädchen bei diesem Ton. Sein stechender Blick verunsicherte sie. „Ich denke schon“, antwortete sie und hoffte, dass es selbstbewusster klingen würde als sie sich fühlte. Er musterte sie stirnrunzelnd.

„Im Moment ist eine Vertretung in der Klasse. Ich schlage vor, Sie schauen sich das erst einmal an. Aber jetzt ist gleich große Pause. Kommen Sie mit ins Lehrerzimmer, damit ich Sie den Kollegen vorstellen kann.“ Diese Vorstellung lief genauso zackig ab.

„Ich habe Ihnen ja schon mitgeteilt, dass wir eine neue Kollegin bekommen. Hier ist sie – Fräulein Wessling. Ah, Frau Müller, Sie sind doch nachher in der 2b. Nehmen Sie Fräulein Wessling bitte mit, damit Sie einen Einblick bekommt.“ Und an Olga gewandt: „Nun können Sie mit Ihren zukünftigen Kollegen reden.“

Dann hatte er sich schon zurückgezogen und Olga stand da und wusste nicht so recht was tun. Also grüßte sie erst einmal freundlich in die Runde und war froh, dass eine ziemlich junge Kollegin gleich auf sie zukam und ihr die Hand entgegenstreckte.

„Ich bin Ute Bard. Herzlich willkommen.“ Auch Frau Müller gesellte sich dazu und damit war das erste Eis gebrochen.

Nach der großen Pause folgte Olga ihr in das Klassenzimmer. In dem Gespräch hatte sie erfahren, dass die ursprüngliche Klassenlehrerin schon seit längerer Zeit erkrankt war - wobei die Art dieser Krankheit sehr geheimnisvoll umschrieben wurde - weswegen diese Klasse von mehreren Lehrern mitversorgt werden musste.

„Das ist eine ganz schlimme Klasse“, vertraute Frau Müller ihr an. „Es wird höchste Zeit, dass sie wieder eine richtige Bezugsperson bekommt. Dieser ständige Lehrerwechsel ist verheerend. Obwohl – nun ja, ein erfahrener Lehrer wäre hier besser!“

Mit einem komischen Gefühl wegen dieser Aussagen zog Olga sich im Klassenzimmer in die hinterste Ecke zurück und setzte sich auf einen der kleinen Stühle, die da standen. So beobachtete sie, wie die Kinder laut lärmend hereinstürmten und sich mehr oder weniger ordentlich an ihre Plätze setzten. Neugierige, aber auch freundliche Blicke streiften sie.

Frau Müller spulte ihren Unterricht ziemlich gleichmütig ab. Fassungslos beobachtete Olga die unruhigen Kinder, von denen einige sich fröhlich unterhielten und sich auch nicht scheuten, einfach aufzustehen und im Klassenzimmer herumzulaufen.

"Warum sagt sie denn nichts?“ dachte sie und nahm sich vor, die Störenfriede gleich hart ranzunehmen, wenn sie selbst unterrichten würde.

Ziemlich verwirrt und vollgepackt mit Schulbüchern kam sie an diesem Tag zu Hause an. Der Einstieg ins Berufsleben hatte begonnen.

*

Schon in kürzester Zeit musste sie feststellen, dass die Disziplinierung dieser Klasse nicht so einfach zu schaffen war. Die Kinder schlossen sie zwar sofort ins Herz, doch fünf Jungen waren einfach nicht zu bändigen und ließen sich weder durch Ermahnungen noch durch gute Worte in irgendeiner Weise beeindrucken. Jeden Tag verließ Olga der Mut ein bisschen mehr.

Zum Glück fand sie in Ute sehr rasch eine verständnisvolle Freundin, die sie nach den frustrierenden Vormittagen immer wieder aufbaute und den Start an einer Schule damit verglich, dass man ins kalte Wasser geschmissen wurde und sich erst einmal nach oben kämpfen müsse.

Eine weitere, eher unerwartete Hilfe bekam sie durch den Hausmeister. Nachdem er sie anfänglich als vermeintliche Schülerin morgens aus dem Hause hatte weisen wollen, weil sie es vor dem Klingeln betreten hatte, hörte er sich nun geduldig ihre Probleme an und meinte, wenn es zu schlimm würde, solle sie ihn holen lassen. Er würde sich der besonderen Rabauken gerne annehmen. Und er hielt Wort. Wenn er den einen oder anderen aus der Klasse holte, gaben die restlichen mehr Ruhe und diese Art der Strafe war die erste, die eine gewisse Wirkung hatte.

Trotzdem fragte sie sich Tag für Tag, ob sie wirklich für diesen Beruf geeignet war. Doch es war ihr auch klar, dass ihr Studium sie für nichts anderes qualifizierte. Jetzt hinzuschmeißen hätte bedeutet, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Und ihre Eltern hätten da sicher kein Verständnis dafür!

So kämpfte sie sich durch die Unterrichtszeiten und nutzte jede Gelegenheit und vor allem die Wochenenden, um dieser Situation zu entfliehen, indem sie einen Ausflug in ihre Universitätsstadt unternahm. Das Zusammentreffen mit den Noch-Studenten, allen voran Richard, stärkte sie etwas. Da nahm sie es auch in Kauf, dass sie frühmorgens von dort wieder losfahren und die ganze Strecke zurücklegen musste, um rechtzeitig in der Schule anzukommen.

Die türkische Leine

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