Читать книгу Die türkische Leine - Iris Bulling - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеAm nächsten Morgen erwachte Olga ziemlich unausgeschlafen, weil sie bis tief in die Nacht noch gearbeitet und auch danach lange keine Ruhe gefunden hatte. Seufzend kämpfte sie sich aus dem Bett und versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu blinzeln. Immerhin versprach es ein schöner sonniger Tag zu werden.
Als sie auf den Parkplatz der Schule fuhr, kamen gerade einige ihrer Schüler angelaufen. Sie begrüßten sie freudig beim Aussteigen und Olga musste wieder einmal staunen, wie viel Herzlichkeit ihr von Seiten der Kinder entgegenschlug trotz der Schwierigkeiten, die sie beim Unterrichten als erdrückend empfand. Aber vielleicht war das für den heutigen Vormittag ein gutes Omen. Lächelnd nahm sie ihre Tasche vom Rücksitz und zwang sich zur Zuversicht, denn sie hatte sich einen spannenden Einstieg für den heutigen Stundenbeginn ausgedacht.
Zunächst lief auch alles nach Plan. Die Schüler ließen sich alle motivieren und konzentrierten sich ganz auf das, was sie ihnen erklärte. Es entspann sich ein angeregter Austausch über Möglichkeiten, wie man etwas zum Schwimmen bringen könnte und die Spannung stieg, als Olga die kleine Wanne, die sie am Vortag schon ins Klassenzimmer geschmuggelt hatte, mit Wasser füllte. Sie forderte die Kinder auf, in kleinen Gruppen mit ihren Stühlen zu einem Stuhlkreis herauszukommen.
Plötzlich rief ein Junge: „Ralf hat ein Messer dabei!“
Sofort ging ein aufgeregtes Geschrei los, dem Olga trotz aller Mühe kaum ein Ende setzen konnte. Alle ließen ihre Stühle da nieder, wo sie gerade standen und drehten sich nach dem Übeltäter um, der selbst eher erschrocken um sich schaute.
„Ralf, ist das wahr?“ fragte Olga, als es endlich etwas ruhiger wurde. Der Junge versteckte die Hand hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf. Langsam bahnte Olga sich einen Weg durch das Gewirr von Stühlen und Kindern.
„Wenn du ein Messer hast, musst du es mir geben. Du weißt doch, dass du so etwas nicht mit in die Schule bringen darfst“, versuchte sie es noch einmal. Mit ausgestreckter Hand ging sie weiter auf Ralf zu, der seinerseits immer mehr zurückwich, bis die Wand ihn daran hinderte.
„Ich hole den Hausmeister!“ schrie Peter, ein Lausbub, der schon oft genug von diesem aus dem Klassenzimmer geholt worden war. Offensichtlich beflügelte ihn der Gedanke, dieses Schicksal heute einem anderen zukommen zu lassen. „Du bleibst hier!“ rief Olga und drehte sich nach ihm um, doch der Lausebengel hatte schon die Tür aufgerissen und war hinausgestürmt. „Ich gehe mit ihm“, brüllte Peters Freund Michi und rannte ebenfalls hinaus.
Hilflos schaute Olga hinterher. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Vor ihr stand noch immer Ralf ohne Bereitschaft zu zeigen, ihr das Messer zu geben, falls er überhaupt tatsächlich eines hatte. Wie ein summender Bienenhaufen kam ihr die Klasse vor, die jetzt darauf wartete, dass ihre Lehrerin das Richtige tun würde, während ihre beiden wildesten Schüler auf den Gang und wer weiß wohin noch rannten.
„Ralf, gib mir, was du da in der Hand hast!“ beschwor sie ihn noch einmal.
Da riss er blitzschnell seine Hand nach vorn und warf etwas in ihre Richtung. Es traf Olga am Arm und fiel herunter, ohne größeren Schaden anzurichten. Sie bückte sich danach, doch dann spürte sie einen Stoß, der sie leicht taumeln ließ. Ralf hatte sich gegen sie geworfen, sie zur Seite gestoßen und rannte jetzt so flink er konnte ebenfalls aus dem Klassenzimmer. Olga richtete sich schnell wieder auf, in der Hand ein klitzekleines zusammengeklapptes Taschenmesser. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es echt war oder nur ein Spielzeug.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte sie mühsam zu den anderen Kindern und versuchte ganz gelassen zu wirken. „Nehmt eure Stühle und geht zurück an eure Plätze.“
Einige wisperten sich noch aufgeregt etwas zu, aber im Großen und Ganzen verlief der Rückzug an die Tische friedlich. Olga legte ihre unliebsame Beute auf das Lehrerpult und atmete tief durch. Dann schrieb sie Peters, Michis und Ralfs Namen an die Tafel.
„Sie werden alle drei bestraft dafür“, versicherte sie dem Rest der Klasse, dabei war sie sich selbst nicht im Klaren darüber, wie diese Strafe aussehen sollte, um ein richtiges Signal zu setzen. Doch sie hatte auch keine Zeit sich darüber noch Gedanken zu machen, denn die Klassenzimmertür wurde geräuschvoll aufgestoßen und Herr Jesser stand im Türrahmen, links und rechts flankiert von Peter und Michi, die er jeweils am Genick gepackt hatte.
„Warum rennen diese beiden unbeaufsichtigt auf den Fluren herum?“ wollte er in bedrohlichem Ton wisse. „Sie wollten den Hausmeister holen“, sagte Olga kleinlaut, „aber erlaubt hatte ich es ihnen nicht.“ „Die sitzen heute Nachmittag zwei Stunden nach“, beschied er polternd. „Die müssen lernen, wie sie sich zu benehmen haben. Und Sie, Fräulein Wessling, müssen lernen, sich Respekt zu verschaffen! Schreiben Sie ihnen ins Heft, was sie angestellt haben. Morgen sehe ich dann die Unterschrift der Väter darunter.“ Er schubste die beiden ins Klassenzimmer und setzte noch dazu: „In die große Pause lassen Sie die beiden auch nicht!“
Dann schlug er die Tür hinter ihnen zu. Wie belämmert schlichen sie an ihre Plätze, aber auch Olga fühlte sich nicht besser. Der Gedanke an Ralf, der sich immer noch irgendwo herumtrieb, ließ ihr die Knie weich werden. Der Schreck saß allen Schülern noch in den Knochen, weshalb sich eine lähmende Stille ausbreitete. Doch an die Fortsetzung des geplanten Versuchs war auch nicht mehr zu denken. Deshalb ließ Olga die Bücher und Hefte herausholen und die Kinder einen Text zu dem Experiment abschreiben, während sie Peter und Michi mit ihren Heften herauskommen ließ, um ihnen den geforderten Vermerk einzutragen. Als es zur großen Pause läutete, entließ sie die Klasse in den Schulhof und hieß Peter und Michi eine Seite aus dem Lesebuch abschreiben. Ralf war nicht wieder aufgetaucht. Zum Glück hatte Ute mitbekommen, dass etwas nicht stimmte und streckte kurz danach den Kopf herein.
„Was war denn los?“ wollte sie wissen. „Ich habe Herrn Jesser draußen rumbrüllen hören.“ Olga kämpfte mit ein paar vorwitzigen Tränen, als sie ihr leise erzählte, was alles vorgefallen war. Dabei zeigte sie ihr das Taschenmesser, das sich bei genauerem Hinsehen tatsächlich als echt herausstellte. „Wenigstens hat er es nicht mitgenommen, als er weggelaufen ist“, meinte die pragmatische Ute. „Damit kann er nun keinen Unsinn mehr machen. Ich sage dem Hausmeister Bescheid, vielleicht hat er eine Idee, wo er stecken könnte."
Die Unterstützung durch die Freundin tröstete Olga, war sie doch durch die Forderung des Rektors ziemlich eingeschränkt. Wenn Peter und Michi nicht in die Pause durften, musste sie notgedrungen ebenfalls im Klassenzimmer bleiben, um sie nicht ohne Aufsicht zu lassen. So saß sie missmutig am Pult und blätterte in ihrem Schulbuch, um die Zeit wenigstens nicht ganz nutzlos verstreichen zu lassen. Der Nachmittag war ja auch schon festgelegt: Sie würde auf die Nachsitzer aufpassen müssen. Ute kam nach ein paar Minuten wieder zurück.
„Ralf hat sich in der Toilette eingeschlossen“, berichtete sie leise. „Der Hausmeister will warten, bis die große Pause vorbei ist, damit es kein großes Aufsehen gibt. Dann holt er ihn heraus und setzt ihn erst mal in sein Zimmerchen. Das ist sicherlich besser, als wenn er ihn gleich wieder in die Klasse bringt.“
Olga nickte zustimmend, doch glücklich war sie mit der Lösung nicht. „Wie soll das bloß weitergehen?“ fragte sie mutlos. „Nächste Woche kommt der Schulrat, und ich weiß nicht, wie ich allein mit dieser Klasse zurechtkommen soll!“
„Lass uns später darüber reden“, flüsterte Ute mit Blick auf Peter und Michi, die mit roten Ohren dasaßen und wohl auch bemüht waren mitzukriegen, was die Lehrerinnen zu besprechen hatten. Laut sagte sie: „Jetzt schreibt mal schön weiter, sonst lässt Herr Jesser euch noch länger nachsitzen!“