Читать книгу Die türkische Leine - Iris Bulling - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDie nächsten Wochen dümpelten gleichmäßig, doch für Olga endlos dahin. Die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz empfand sie weiterhin als erdrückend, die Flucht zurück ins Studentenleben wurde immer existentieller. Richard hatte allerdings nicht immer Zeit für sie, aber da sie genug andere Leute kannte, störte sie das nicht so sehr. Sie hatte trotzdem das Gefühl, dass er eine feste Stütze in ihrem Leben war.
An einem Samstag machte er ihr, kaum dass sie bei ihm angekommen war, einen überraschenden Vorschlag: „Ich muss mich unbedingt mal wieder bei meiner Familie sehen lassen. Warum fährst du mich nicht einfach hin? Meine Schwester ist gerade auf einer Klassenfahrt, du könntest in ihrem Zimmer übernachten.“
Olga war sofort einverstanden. Sie hatte Richard schon öfter mit zu ihren Eltern genommen, aber seine Familie kannte sie bisher nur vom Hörensagen. Und da er selbst kein Auto besaß war es nur natürlich, dass sie fahren würde.
Er packte seine schmutzige Wäsche und ein bisschen Gepäck zusammen, sie ihres erst gar nicht aus, und so fuhren sie bei herrlichem Wetter die Strecke von rund 90 Kilometer zu seinem Wohnort. Auf der Fahrt erzählte sie ihm von der hinter ihr liegenden Woche und den Problemen, die sie wieder gehabt hatte.
„Du übertreibst“, stellte er kühl fest. „So chaotisch kann es doch gar nicht zugehen. Du müsstest einfach mehr auf die schwierigen Kinder eingehen. Ich hatte letzte Woche eine Lehrprobe und alle waren begeistert, wie ich das aufgezogen habe. Dabei habe ich von Anfang an mein Augenmerk auf die Problemfälle gerichtet.“
Olga schluckte. „Du warst doch mit in meiner Klasse“, setzte sie heftig dagegen. „Was würdest du denn anders machen? Gib mir doch einen Tipp, damit es kein Fiasko gibt, wenn der Schulrat sich die Situation anschaut.“
„Du machst dir noch in die Hosen vor diesem Schulratsbesuch! Geh ein bisschen gelassener an die Sache heran. Mit einem selbstbewussten Auftreten steckst du den doch in die Tasche.“
„Bei dir funktioniert das bestimmt!“ brauste sie auf. „Ich bin davon überzeugt, wenn du mal so weit bist, wirft die Behörde nur einen Blick auf dich und ist so begeistert, dass sie sogar auf die zweite Dienstprüfung verzichtet!“
Er warf ihr einen bösen Blick zu. „Du brauchst jetzt nicht so giftig zu werden. Ich weiß schon, was noch alles auf mich zukommt und werde dazu mein Bestes geben. Also mach dich nicht über mich lustig.“
Er schien wirklich verletzt zu sein durch ihre Aussage und das tat ihr augenblicklich leid. „Entschuldige“, murmelte sie zerknirscht. „Ich habe es doch nicht böse gemeint. Aber wenn man wie ich Tag für Tag …“
„Lass uns nicht mehr darüber sprechen“, unterbrach er sie. „Genießen wir doch einfach das Wochenende.“ Sie schwieg, obwohl sie noch einiges auf dem Herzen gehabt hätte. Aber es war ihr vor allem ein Anliegen tatsächlich ein harmonisches Wochenende zu verleben, das ihr hoffentlich wieder Kraft geben würde für die folgende Woche!
Richards Mutter war eine lebhafte, vielseitig interessierte Frau, die überhaupt kein Problem mit dem Überraschungsbesuch hatte. Olga fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. „Heute Abend habe ich aber schon was vor“, verkündete sie gleich. „Ich nehme an, dass ihr auch ohne meine Gesellschaft zurechtkommt.“
„Aber natürlich, Mutti“, versicherte Richard und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Deine kostbare Zeit wollten wir dir nicht rauben.“ Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. „Natürlich nicht, mein Lieber. Nur meine Waschkraft, aber die kann ich mir ja einteilen, wenn du wieder weg bist. Ich nehme an, wenn du die Gelegenheit hast, mit dem Auto gefahren zu werden, willst du die ganze frische Wäsche für den Rest des Semesters mitnehmen. Mit dem Zug wäre das ja schon beschwerlicher.“ Er lachte belustigt. „Du hast mich also gleich durchschaut! Aber ich wollte dir natürlich auch Olga vorstellen.“
Sie verbrachten einen kurzen vergnüglichen Nachmittag zusammen, bis Frau Kolz sich auf den Weg zu ihrer Verabredung machte. Richard zeigte Olga später seinen Wohnort, ehe sie in einem kleinen Lokal noch etwas zu sich nahmen. Dann brachte er sie in das Zimmer seiner Schwester. Amüsiert schaute sie sich um. „Ein typisches Teenagerzimmer! Da merkt man, dass man schon einer anderen Generation angehört.“
„Ja klar, was hast du erwartet? Ich hoffe, du kannst gut schlafen!“ „Werde ich sicher. Oder wolltest du mich noch ein bisschen davon abhalten?“
Ärgerlich runzelte er die Stirn. „Nicht in der Wohnung meiner Mutter! Ich gehe in mein eigenes Zimmer, außerdem bin ich richtig müde.“ Jetzt war Olga etwas verletzt. „Ich habe doch bloß Spaß gemacht! Musst du denn jedes Wort von mir auf die Goldwaage legen?“ „Schlaf gut“, gab er kurz angebunden zurück und verließ das Zimmer. Olga ließ sich auf das Bett sinken und schüttelte ratlos den Kopf. Was war er im Moment für eine Mimose!
Am nächsten Tag frühstückten sie noch mit Frau Kolz zusammen. Die Schatten vom Vortag waren wie weggeblasen. Richard wollte den Rest des Sonntags bei seinem Bruder und dessen Familie verbringen und Olga war damit einverstanden.
Nachdem sie zwei Kartons voller Wäsche ins Auto gepackt und sich von Richards Mutter verabschiedet hatten, kutschierte Olga sie beide gutgelaunt in den nächsten Ort, wo Heinz Kolz mit seiner Frau Miriam und zwei kleinen Töchtern ein schmuckes Einfamilienhaus bewohnte. Er hatte einen guten Job bei einer großen Bank, wie Olga schon erfahren hatte. Richard selbst hatte auch zunächst bei dieser Bank eine Lehre angefangen, doch daran wenig Freude gefunden. Deshalb hatte er nach zwei Jahren abgebrochen und sich in einem relativ reifen Alter für ein Lehrerstudium entschieden. Genau das hob ihn von den anderen PH-Studenten ab, was Olga von Anfang an fasziniert hatte.
Sie war angenehm überrascht von der jungen Familie und hatte nach kurzer Zeit den Eindruck ebenfalls dazu zu gehören. Viel zu schnell verging dieser Tag und sie mussten an die Heimfahrt denken.
„Übernachtest du bei mir?“ fragte sie, als sie im Auto saßen. „Du kannst morgen mit dem Zug weiterfahren und am Wochenende bringe ich dir die Wäsche mit, die du jetzt nicht gleich brauchst.“ Er überlegte kurz. „Nun ja, ich kann dir ja nicht zumuten, mich jetzt zu meinem Zimmer zu fahren und dann die ganze Strecke zurück bis zu deiner Wohnung. Das wäre ein gewaltiger Umweg für dich. Okay, ich mache Zwischenstopp bei dir.“
Olga warf ihm einen raschen Blick zu. Sie hätte sich ein bisschen mehr Begeisterung für ihren Vorschlag gewünscht, aber wenigstens ging er darauf ein. Tatsächlich hatte das Wochenende sie ziemlich angestrengt und selbst der Gedanke, dass sie eventuell bei ihm übernachten und dann am Montag früh morgens zurückfahren müsste, schreckte sie in diesem Augenblick.