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Kapitel 6

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Der Vormittag schien für Olga kein Ende zu nehmen. Als der Hausmeister nach einer halben Stunde Ralf ins Klassenzimmer brachte, nahm sie ihn schweigend in Empfang und setzte ihn hinter ihr Pult, damit es keine Berührungsmöglichkeiten mit anderen geben konnte. Endlich war dann der Unterricht zu Ende und sie schärfte Peter und Michi ein, pünktlich um zwei Uhr wieder an der Schule zu sein. Erst nachdem die beiden immer noch ziemlich kleinlaut abgezogen waren, wandte sie sich Ralf zu.

„Was hast du dir nur dabei gedacht, ein Messer mitzubringen?“ fragte sie ihn leise.

Zuerst druckste er noch herum, aber dann stieß er zornig hervor: „Ich wollte mich nicht verprügeln lassen! Immer wollen die anderen mich verprügeln!“

„Wer will dich verprügeln?“

„Alle!“

„Warum hast du mir denn nie etwas gesagt?“

„Dann verprügeln sie mich erst recht, weil ich petze!“

„Das ist kein Petzen, Ralf. Aber wenn die Lehrer nicht Bescheid wissen, können sie dir doch auch nicht helfen.“

Er presste die Lippen zusammen, sagte aber nichts. Olga seufzte.

„Ich bringe dich heute selbst nach Hause. Aber heute Nachmittag musst du nachsitzen wie Peter und Michi auch. Ich werde deiner Mutter alles erklären.“

Sie war froh, dass er ihr widerspruchslos folgte und sich in ihr Auto setzte. Bei Widerstand hätte sie nicht gewusst, wie sie hätte reagieren sollen.

Es war das erste Mal, dass sie einen Schüler direkt zu Hause ablieferte. Als sie in die Straße mit den grauen Wohnblocks einbog, überkam sie ein mulmiges Gefühl. Im Dunkeln hätte sie hier nicht allein sein wollen!

Vor Ralfs Wohnhaus parkte sie ein und stieg dann mit ihm zusammen aus. Gemeinsam gingen sie zur Haustür. Sie überließ es dem Jungen zu läuten und wunderte sich, dass es so lange dauerte, bis jemand den Türöffner betätigte. Oben an der Treppe stand eine verhärmte ungepflegte Frau. Erstaunt blickte sie Olga entgegen.

„Guten Tag, Frau Kipper“, sagte Olga höflich.

Misstrauisch schaute diese von ihr zu Ralf und wieder zurück.

„Was ist los? Hat er schon wieder etwas angestellt? Mein Mann ist nicht da, der würde es ihm gleich besorgen!“

Olga war geschockt über diesen Ausbruch. Plötzlich wurde ihr bewusst, unter was für einem Druck der Junge stand und weshalb er so oft in Schwierigkeiten kam. Sie spürte das Taschenmesser in ihrer Jackentasche und beschloss, nicht die ganze Wahrheit zu sagen.

„Es hat –äh - Schwierigkeiten mit einigen Schülern gegeben, deshalb bringe ich ihn selbst nach Hause. Aber Ihr Mann muss nichts tun. Ralf soll heute Nachmittag nachsitzen, dann ist er genug bestraft. Ich erwarte ihn um zwei Uhr an der Schule.“

„Ist das alles? Ja, ich schicke ihn pünktlich wieder weg, da können sie sich drauf verlassen.“

Damit packte sie ihren Sohn unsanft am Arm, zog ihn in die Wohnung und schlug die Tür zu. Olga stand da wie ein begossener Pudel und lauschte auf die Stimme, die dahinter wieder laut wurde. Dann wandte sie sich mit einem unguten Gefühl um und machte sich auf den Nachhauseweg.

Nach einem mehr als hastigen Imbiss packte sie einige Schulbücher und Arbeitsmaterialien ein in der Hoffnung, wenigstens einen Teil ihrer Vorbereitungen im Klassenzimmer erledigen zu können. Dann fuhr sie erneut zur Schule. Sie wartete am Eingang, um Streitereien und daraus resultierenden Kämpfen zwischen den drei Jungen zuvorzukommen. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht: Peter und Michi hatten Begleitung von drei Klassenkameraden, die ihr auch immer wieder Probleme bereiteten. Als sie ihre Lehrerin vor der Tür stehen sahen, unterhielten sie sich aufgeregt und zogen sich dann schnell zurück. Die beiden Nachsitzer kamen allein heran getrottet. Olga musterte sie forschend, worauf sie ihrem Blick auswichen.

„Ist der Ralf noch nicht da?“ wollte Peter schließlich wissen. „Was machen Sie, wenn er gar nicht kommt?“

„Er wird kommen“, versetzte Olga fest, wobei sie sich genau die Frage auch schon gestellt hatte. Sie spürte, wie ihre Hände vor Aufregung feucht wurden, denn diese Situation würde ihre Lage noch mehr verschärfen. Doch dann bog Ralf um die Ecke, langsam und mit gesenktem Kopf. Erleichtert atmete sie auf.

„Na, dann wollen wir mal“, sagte sie betont lässig und schloss die Eingangstür auf. Gemeinsam gingen sie ins Klassenzimmer, wo Olga jedem von ihnen einen Platz anwies, in jeder Ecke einen und weit voneinander entfernt. Der Text, den sie ihnen zum Abschreiben ausgesucht hatte war so lang, dass diese zwei Stunden wahrscheinlich nicht ausreichen würden. Aber sie wollte die drei auf jeden Fall für den ganzen Zeitraum beschäftigt haben.

Nach einer halben Stunde stand Ralf plötzlich neben ihr. Überrascht schaute sie ihn an. Er streckte ihr etwas entgegen, was sich bei näherem Hinsehen als fünf zerdrückte Gänseblümchen entpuppte. Er legte sie ihr verlegen aufs Pult.

„Danke, dass du mich bei meiner Mama nicht verpetzt hast“, sagte er leise, drehte sich um und ging unauffällig zurück an seinen Platz. Olga schaute zu den beiden anderen, aber sie waren so mit Schreiben beschäftigt, dass sie anscheinend nichts bemerkt hatten. Dann nahm sie die Blümchen und lächelte Ralf zu, der wieder an seinem Tisch saß. Schüchtern lächelte er zurück, bevor sein Kopf sich wieder über sein Heft neigte.

Die türkische Leine

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