Читать книгу Die türkische Leine - Iris Bulling - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеAn einem Montagnachmittag kam sie wieder in ihrem Elternhaus an. Als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, wurde die Haustür von innen aufgerissen und sie stand ihrer Mutter gegenüber, die sie böse musterte.
„Olga, das kannst du mit mir nicht machen!“ sagte sie aufgebracht. „Du kannst nicht einfach wegbleiben, ohne uns irgendwie zu informieren. Wie soll ich denn schlafen können, wenn ich nicht weiß wo du steckst?“
„Du wusstest doch, dass ich übers Wochenende zu Richard fahre“, versuchte Olga sich zu verteidigen.
„Den ganzen Sonntagabend habe ich darauf gewartet, dass du nach Hause kommst“, fuhr ihre Mutter erbost fort. „Die ganze Nacht habe ich mir Sorgen gemacht! Also entweder du nimmst mehr Rücksicht auf mich oder du suchst dir ganz schnell eine eigene Wohnung!“
„Bitte entschuldige“, murmelte Olga zerknirscht. „Ich wollte dich nicht beunruhigen. Wirklich, Mutti, sobald ich eine Wohnung finde, ziehe ich aus. Ich schaue ja schon täglich nach, ob etwas Passendes angeboten wird. Aber heute noch gebe ich selbst eine Annonce auf – vielleicht ist das erfolgreicher.“
Doch innerlich rumorte es auch bei ihr. Nach ihrer Studienzeit, in der sie durch die damit verbundene Freiheit sehr viel an Selbstständigkeit gewonnen hatte, fiel es ihr schwer, sich wieder den Interessen ihrer Eltern unterzuordnen und in die mühsam abgestreifte Rolle der folgsamen Tochter zu schlüpfen. Dass sie im Moment so sehr auf ihre Unterstützung angewiesen war, missfiel ihr selbst wahrscheinlich am meisten!
So war sie froh, dass sich auf ihre Annonce hin sehr bald jemand meldete. Ein junges Ehepaar, das ganz in der Nähe der Schule wohnte und deutlich sichtbar bald Nachwuchs erwartete, war bereit, die obere Etage ihres Einfamilienhauses zu vermieten. Zusammen mit Ute schaute Olga es sich an.
Der erste Eindruck war positiv, doch im Prinzip war es keine richtige Wohnung. Olga hätte sich etwas Eigenständiges gewünscht, aber dieses Zimmer mit eingebauter Miniküche war zwar ganz geräumig, aber eben nur ein Raum innerhalb des gesamten Wohnbereichs. Bad und Toilette musste sie gemeinsam mit ihren Vermietern nutzen.
Sie ließ sich trotz eines unguten Gefühls darauf ein, weil sie die Abhängigkeit von ihren Eltern möglichst bald hinter sich bringen wollte. Wenigstens würde sie ihren Vermietern keine Rechenschaft über ihr Nachhausekommen ablegen müssen! Die Miete war erschwinglich und einem baldigen Einzug stand auch nichts im Wege.
Schon am nächsten Wochenende brachte sie ihre Habseligkeiten in ihr neues Zuhause. Trotz der Kompromisslösung fand sie es nun ganz gemütlich und ihre Laune hob sich, obwohl sie wieder einmal eine sehr anstrengende Woche hinter sich hatte. Aber nun nichts wie weg! Es war eine Studentenparty am Fluss angesagt, und die wollte sie nicht verpassen.
Nachdem sie sich umgezogen und noch ein bisschen zurechtgemacht hatte, rannte sie mit ihrer Reisetasche die Treppe hinunter. An der Haustür stand ihr junger Vermieter.
„Na, schon alles fertig, Fräulein Wessling? Sie haben es ja eilig!“
„Ja, ich habe noch etwas vor“, versetzte sie fröhlich.
Er warf einen Blick auf ihre Tasche. „Das sieht nach etwas Größerem aus. Als wenn Sie verreisen wollten.“ „Eine Kurzreise, wenn Sie es so nennen wollen“, gab sie lachend zurück. „Montag fängt die Arbeit an, da muss ich schon wieder zurück sein.“
„Ach ja, dann eine gute Fahrt!“
„Danke, Herr Rieder, Ihnen auch ein schönes Wochenende!“
Sie huschte an ihm vorbei und lief zu ihrem klapperigen VW. Als sie abfuhr, stand Herr Rieder immer noch an der Tür und schaute ihr nach. Offensichtlich hätte er gerne mehr erfahren.
*
Das restliche Wochenende empfand sie als ausgesprochen schön. Dabei zu sein bei dem unbeschwerten Studentenleben, das Gefühl, immer noch dazu zu gehören belebte Olga außerordentlich. Lebhaft erzählte sie von den zum Teil problematischen Erlebnissen in der Schule, und nun erschienen die meisten nur noch lustig und gar nicht so unlösbar wie in der Realität. Das Interesse ihrer ehemaligen Kommilitonen, die diesen Einstieg noch vor sich hatten, war ihr auf jeden Fall gewiss.
„Heute bist du so gelöst“, meinte Richard, als sie spät nachts zu seinem Zimmer gingen. „So habe ich dich wirklich lange nicht mehr erlebt.“
Sie hängte sich übermütig an seinen Arm. „Eigentlich komisch. Aber die Tatsache, dass ich meine eigenen vier Wände habe, gibt mir richtig Auftrieb. Jetzt kann`s nur noch besser werden!“
Mit diesem Gefühl genoss sie auch die Nacht in Richards Armen, obwohl dabei der Schlaf etwas zu kurz kam. Am nächsten Morgen machte er ihr einen Vorschlag.
„Diese Woche läuft nicht viel an der PH. Ich könnte mit dir fahren. Dann lerne ich dein neues Heim kennen und kann dich auch mal in die Schule begleiten. Oder stört es dich, wenn ich bei dir hospitiere?“
„Wie kannst du nur fragen! Das wäre toll. Vielleicht kannst du mir sogar einen guten Tipp geben, wie ich mit meinen Rabauken besser klarkommen kann.“
„So schwierig kann ich mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen.“
Sie ging auf seinen überheblichen Ton nicht ein, obwohl er sie ärgerte. Aber die Aussicht auf ein paar gemeinsame Tage machte alles andere nebensächlich, darüber war sie einfach nur glücklich.
So fuhren sie am späten Nachmittag gemeinsam los. Nachdem sie ihr Gepäck in ihr Zimmer gebracht hatten, zeigte Olga ihm zunächst einmal ihre neue Heimat und das alte Schulhaus, ehe sie unterwegs noch in ein Gasthaus einkehrten, um eine Kleinigkeit zu essen. Dann spazierten sie zurück zu dem kleinen Haus. Am Gartentor trafen sie auf ihre Vermieter, die Richard neugierig musterten. Olga stellte ihn vor.
„Ach“, sagte Frau Rieder freundlich, „dann haben Sie also Besuch. Aber Ihr Freund kann natürlich jederzeit hier übernachten, das hatte ich vorher vergessen zu sagen."
Olga und Richard tauschten einen raschen Blick. Da sie in ihrer Universitätsstadt schon an eine sturmfreie Bude gewohnt waren, war ihnen gar nicht der Gedanke gekommen, dass es hier ein Problem geben könnte. „Äh – ja – vielen Dank“, murmelte Olga unangenehm berührt.
Herr Rieder fand die Situation offenbar sehr erheiternd, legte seiner Frau den Arm um die Schulter und tätschelte liebevoll ihren Bauch. „Ja, das ist doch klar! Meine Frau und ich haben vor unserer Hochzeit auch immer Wege gefunden, um zusammenzukommen. Wir haben volles Verständnis für Ihre Bedürfnisse.“
Dabei lachte er wiehernd, was Olga geradezu abstoßend fand. „Wir haben noch einiges zu tun“, sagte sie rasch. „Ihnen einen schönen Abend.“
Richard folgte ihr die Treppe hoch. „Für eine eigene Wohnung hast du aber eine ganz schön eingeschränkte Privatsphäre“, meinte er, als sie oben waren. Sie zuckte missmutig die Schultern. „Ich hoffe, dass sich das legt. So viel Aufmerksamkeit brauche ich wahrhaftig nicht!“
Richard blieb zwei Tage. Er begleitete sie in den Unterricht, setzte sich im Lehrerzimmer mit zu Ute, unterhielt sich mit einigen der Kollegen und genoss dieses Dabeisein sichtlich. Über die offensichtlichen Probleme in der Klasse verlor er kaum ein Wort. Und Olga, nach dem täglichen Kampf mit den ständigen Störungen mehr als genervt, hielt sich mit negativen Äußerungen zurück, um die schöne Idylle dieser wenigen Stunden nicht zu stören.
Am Dienstagabend brachte sie ihn zum Bahnhof. Danach fiel es ihr schwer, in ihre Bleibe zurückzukehren. Sie beschloss bei Ute vorbeizufahren und zu schauen, ob sie Zeit für ein Gespräch hatte. Ute saß noch an ihren Vorbereitungen, war aber gerne bereit zu einem kleinen Plausch.
"Ich bin gleich fertig“, meinte sie. „Setz dich doch schon mal!“ Olga schaute sich in dem gemütlichen Zimmer um und seufzte bei dem Gedanken an ihre Notwohnung. Was hätte sie darum gegeben, auch so ein Appartement zu finden!
Schließlich packte Ute ihre Sachen ein und setzte sich zu ihr. „Hat Herr Jesser eigentlich irgendwas zu dir gesagt?“ wollte sie wissen.
Olga schüttelte verwundert den Kopf. „Wie kommst du auf die Idee? Ich habe immer den Eindruck, er will mich am liebsten gar nicht sehen. Dabei könnte ich ein paar aufmunternde Worte von ihm ganz gut gebrauchen!“
„Darauf kannst du sicher lange warten. Ich denke, er ist ganz froh, dass es im Moment mit dieser Klasse so gut läuft.“ „Gut läuft“, schnaubte Olga böse. „Jeden Tag komme ich fix und fertig aus dem Klassenzimmer!“
„Es läuft trotzdem ganz gut“, beharrte Ute. „Du weißt ja nicht, wie es bei Frau Rot zugegangen ist! Wenn sie nicht in die Nervenklinik gekommen wäre – man weiß nicht, was das für ein Ende gefunden hätte. Aber er hat sich darüber aufgeregt, dass du jemanden mit in die Klasse genommen hast, ohne ihn zu fragen. Von mir wollte er wissen, wer das ist.“
„Und was hast du ihm gesagt?“„Lediglich, dass es ein PH-Student ist, der mal einen Einblick in die Praxis gewinnen wolle. Ich dachte halt, er wolle mit dir noch darüber sprechen. Falls er damit auf dich zukommt, weißt du jetzt Bescheid.“
„In was für eine kleinkarierte Welt bin ich hier bloß geraten, über alles muss man Rechenschaft ablegen!“ stöhnte Olga und erzählte von dem Erlebnis mit ihren Vermietern. „Klar, es ist schon anders als während des Studiums“, stimmte Ute zu. „Aber sie meinen es ja nicht böse. Schlimmer wäre es doch, wenn sie Herrenbesuch untersagen würden. Was hat dein Freund denn zu deiner Situation in der Schule gesagt?“
„Nicht viel. Eigentlich haben wir gar nicht darüber gesprochen.“ „Überhaupt nicht? Ich hätte gedacht es tut dir gut darüber zu reden, nachdem er es jetzt so miterlebt hat.“ „Das stimmt schon. Aber ich wollte die gemeinsame Zeit auch nicht zu sehr damit belasten. Ich jammere ihm viel zu viel den Kopf voll, das mag er nicht so.“
Ute zog etwas irritiert die Brauen hoch, sagte aber nichts dazu. Schließlich war es an der Zeit, dass Olga sich auf den Nachhauseweg machte. Richards Anwesenheit hatte ihr wenig Gelegenheit gelassen, sich gründlich vorzubereiten. Deshalb gab es für den nächsten Tag noch einiges zu tun.