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3.1.2. Die karolingische Zeit
ОглавлениеKarl Martells Sohn Pippin III. konnte das merowingische Gebiet dank einem Sieg über die Friesen 734 ausdehnen. Er liess sich 751 nach Absetzung Childerichs III. zum König der Franken ausrufen. Von Papst Stephan II., der auf seine Unterstützung gegen die Langobarden angewiesen war, wurde er mit seinen Söhnen drei Jahre später gesalbt. Im Jahr 768 folgten der 742 oder 748 geborene Karl und sein Halbruder Karlmann dem Vater nach, nach dem plötzlichen Tod Karlmanns wurde Karl zum Alleinherrscher des Frankenreiches. Dieser bedeutendste Fürst des frühen Mittelalters führte über 50 Feldzüge, u.a. gegen die Langobarden, die Mauren, die Sachsen und die Bayern, um sein Gebiet zu erweitern und die Grenzen zu sichern. Das Rhein-Maas-Schelde-Delta wurde nun Teil eines Reiches, das sich von der Nordseeküste bis zur Mitte der Apenninen-Halbinsel und von den Pyrenäen bis zur Donau erstreckte. Der 800 von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönte Imperator hielt sich vorzugsweise in Aachen auf, wo er zirka 793 die Pfalzkapelle bauen liess, auch kam der reisende König oft nach Nimwegen, das damals Numaga hiess. Hier bekräftigte Karl der Grosse 806 die Reichsverteilung unter seine Söhne Karl, Ludwig und Pippin. Der Bau einer Königspfalz auf den Mauern des römischen Kastells Nimwegens soll 777 begonnen haben, Karls Sohn Ludwig der Fromme hat sich später oft in dieser villa regia aufgehalten. Auch den Nordwesten seines Reiches hatte Karl zu verteidigen, so als Dänen, die zuvor schon die aufständischen Sachsen unterstützt hatten, in Flandern, Friesland und Gegenden an der Ostseeküste einfielen. Der Kaiser zog nach Friesland, liess eine Flotte bauen, konnte dann 811 mit den Dänen Frieden schliessen, die Eider bildete fortan die nördliche Grenze des Imperiums.
Karls Bemühungen um die Kultur sollten die Zivilisation Europas prägen. Der Hof, wo Gelehrte aus verschiedenen Gegenden des Kontinentes, namentlich auch aus Italien und England, verkehrten, förderte Kunst und Wissenschaft. Auch trieb er die Christianisierung seiner Gebiete voran. So unterstützte er den in Utrecht geborenen Friesen Liudger (zirka 742–809), der an der Utrechter Domschule, später an der Domschule zu York, wo Alkuin lehrte, seine Ausbildung erhalten hatte, bei seiner Missionierungsarbeit u.a. in Friesland. Der Gründer und Leiter des Werdener Klosters wurde erster Bischof von Münster, Jahrhunderte sollte die Diözese Münster Landstriche in den heutigen Provinzen Groningen und Friesland umfassen.
Die Politik Karls, um sein Reich auf schriftlicher Grundlage zu verwalten, begünstigte zudem eine Schreibkultur, die eine Bildungsreform nötig machte: Bischöfe und Äbte erhielten den Auftrag, Schulen zu führen, jedes Bistum hatte über eine Schule zu verfügen, die Laien, insbesondere Kinder von Adligen ausbilden sollte. Ein Dokument wie die Lex Frisionum, das von der entstandenen schriftlichen Kultur zeugt, gibt Einblick in die Verwaltung des Deltagebietes in dieser Epoche. Sie enthält unter Berücksichtigung alter Stammesrechte Rechtsvorschriften für die einzelnen friesischen Regionen zwischen dem Zwin und Vlie, also die heutigen Niederlande südlich des IJsselmeers bis Brügge und zwischen Lauwers und Weser, d.h. das nördliche Deltagebiet bis zur Weser. Sie unterscheidet vier Stände, nämlich Edle, Freie, Diener und Sklaven, und sieht die Wahl eines friesischen Podestes vor. Der Kaiser, der seinen Namen kaum schreiben konnte, beherrschte mehrere Sprachen, so neben Latein ebenfalls eine Form des Niederfränkischen, das auch eine der Grundlagen des entstehenden Niederländischen bildete (vgl. 3.2.1.). Für die Förderung der Schreibkultur ist die Wirkung des Gelehrten Alkuin aus York zu nennen, der die Hofakademie und das Skriptorium in Aachen leitete. Von hier aus verbreitete sich die Anwendung der karolingischen Minuskelschriftart, einer gut lesbaren Schrift, die sich leicht kopieren liess und so zur Verbreitung von Wissen beitrug. Wie umfangreich die karolingische Schriftkultur war, die auch andere Zentren wie u.a. Klöster in Tours und Reims pflegten, bezeugen die 500 aus Karls Zeit sowie die 7000 aus der Epoche bis 900 stammenden Handschriften. Erst gegen Ende des 11. Jh. sollte die frühgotische Minuskel, die in den südlichen Niederlanden und Nordfrankeich entstand, die karolingische Schrift verdrängen (vgl. 4.1.3.1.). Übrigens führte die Erforschung alter Kodizes durch italienische Humanisten dann zu einer Renaissance der karolingischen Schrift, wovon die Antiqua in gedruckten Büchern der frühen Neuzeit zeugt (vgl. 5.1.2.2., 5.4.1.4.).
Auch die früheste mittelniederländische Literatur zeigt, wie sehr Karl der Grosse, der zu Lebzeiten bereits Carolus Magnus genannt wurde, in der europäischen Kultur fortlebte. So haben Jahrhunderte später zahlreiche epische Bearbeitungen französischer Vorlagen wie Ogier van Denemarken, Renout van Montalbaen oder der in den Niederlanden entstandene Karel ende Elegast phantasievolle Heldentaten zum Gegenstand (vgl. 4.2.4.), welche die Verfasser dem Kaiser zuschrieben. Das Roelantslied, eine teilweise überlieferte Bearbeitung aus dem 13. Jh. des Chanson de Roland, handelt von der Niederlage von Karls Truppen gegen die Basken bei Roncevaux-Pas im Jahre 778. Der Verfasser der niederrheinischen Karlemeinet-Texte aus dem 14. Jh. benutzte neben lateinischen und französischen Vorlagen auch mittelniederländische Quellen für seine Kompilation.
Da Ludwig der Fromme als einziger Sohn seinen Vater überlebte, folgte er ihm 814 nach. Die wirtschaftlich bedenkliche Lage, die vielen Kriege und die Einfälle der Wikinger förderten insbesondere im Nordwesten seines Reiches das Feudalsystem: als Gegenleistung für eingegangene Verpflichtungen wie Treue und Kriegsdienste erhielten Vasallen Grundeigentum als Lehen. Die Wikinger, deren Raubzüge bereits um 800 an der friesischen Küste eingesetzt hatten, plünderten trotz der von Karl dem Grossen errichteten Küstenwacht stromnahe Städte wie Antwerpen, Gent, Doornik, Utrecht oder Dorestad. Nach dem Tode Ludwigs wurden ihre Fahrten zu umfangreichen militärischen Unternehmen, die erst dank Verstärkung der Stadtmauer und dem Bau von Festungen entlang der Küste aufgehalten werden konnten. Der Sieg des römisch-deutschen Kaisers Arnulf von Kärnten über die Normannen bei Löwen 884 oder 891 setzten ihren Raubzügen bald ein Ende.
Zwistigkeiten über Grundbesitz und Erbschaften zwischen Lehnsmännern, die ihre Macht im Kampf gegen die Eindringlinge vergrössert hatten, sollten auch im Deltagebiet immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen lokalen Machthabern führen und das Kaiserreich zerstückeln. Sodann brachten Machtkämpfe zwischen Ludwig und seinen Söhnen, die drei Jahre nach Ludwigs Tod mit dem Vertrag zu Verdun 843 beigelegt wurden, die Teilung des Reiches in ein West-, Mittel- und Ostreich. Der grösste Teil der Niederlande gehörte nun zu Francia Media, Kaiser Lothars I. Mittelreich mit den Kaiserstädten Rom und Aachen, das von der friesischen Nordseeküste bis zum Golf von Gaeta reichte. Mit dem Vertrag von Ribemont 880 wurden die Niederlande östlich der Schelde Teil Deutschlands, das Gebiet westlich der Schelde mit Flandern und Artesien sollte bis ins 16. Jh. unter dem Einflussbereich des französischen Königs stehen, Machtkämpfe zwischen den Bürgern und den Machthabern kündigten sich bald an (vgl. 4.3.3.1.).
Trotz dieser Zweiteilung des Delta-Gebietes entwickelte sich in den Niederlanden dank dem kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhalt im hohen und späten Mittelalter ein von den schwachen Verwaltungszentren in West- und Ostfranzien losgelöstes staatliches Gefüge. Da die zahlreichen Wasserwege im Delta den gegenseitigen Handel und Verkehr begünstigten, förderten sie ein Zusammenwachsen der verschiedenen Landstriche. Inzwischen strebten adlige Familien in Westfranzien auf Kosten der Karolinger nach Besitz und Macht. So erweiterte Balduin I. Eisenarm, erster Graf von Flandern, der die Tochter des westfränkischen Königs und späteren römischen Kaisers Karls des Kahlen entführt und geheiratet hatte, im 9. Jh. seine Gebiete in der Gegend Gents und Brügges. Dem Haus Flandern gelang es, den Besitz nach Süden bis zur Somme, nach Osten über die Schelde zu erweitern. So nahmen die Grafen Balduin IV. und V. Landstriche in Seeland in Besitz, Burggrafen vertraten ihre Macht in der Herrschaft Flandern. Die Machthaber legten Strassen und Kanäle an, sie förderten zudem den Städtebau. So gründete Balduin II. Ypern, das vermutlich nach dem kleinen Iepere-Fluss genannt wurde, unter Balduin V. entstand Rijsel (‚Lille‘), das seinen Namen dem lat. Ad insulam, afz. À lisle, mnl. Ter ijs(s)el mit diphthongiertem/i/verdankt.
Im Norden Niederlothringens bildeten sich nach der Jahrtausendwende ebenfalls Herrschaften, allerdings übte hier der deutsche König mit Unterstützung treuer Erzbischöfe in Lüttich, Utrecht und Kamerijk seine Macht weiter aus. So verwaltete der Bischof von Utrecht Landstriche in den heutigen Provinzen Utrecht, Drente und Overijssel sowie die Stadt Groningen. Erst als es dem deutschen Kaiser durch das Konkordat von Worms 1122 untersagt wurde, einen Bischof mit weltlicher Macht auszustatten, kam es im 12. Jh. zum Ende der deutschen Einmischung in den Niederlanden. Die Verbundenheit der einzelnen Gebiete des Deltas sollte trotz gegenseitiger politischer und kriegerischer Auseinandersetzungen der lokalen Herrscher im Spätmittelalter (vgl. 4.1.) zur Herausbildung der ‚Siebzehn‘ vereinten Provinzen führen (vgl. 5.1.).
Literatur zu 3.1.: Bauwhede 2012; Beck et al. 1998; Blok 1960; Blok 1979; Blom et al. 2003; Cornelissen 1989; Desmulliez et al. 1988; Einhard in: Pertz et al. 1911; Van Es 1981; Geyl 1948/59; James 1988; Joris 1966; Krause 1968; Lamarcq et al. 1996; Matzel 1970; Tausend 2009; Verhulst 1996.