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3.2.3. Quellen und Anwendungsbereiche des Altniederländischen
ОглавлениеVom Altniederländischen wurden bedeutend weniger Texte als vom Althochdeutschen oder Altenglischen überliefert, was nicht nur Zerstörungen und Überflutungen in einem von Kriegen und Naturkatastrophen geprägten Zeitalter zuzuschreiben ist, sondern sich auch mit der ursprünglich dünnen Besiedlung des Deltagebietes in karolingischer Zeit und seiner bescheidenen Oberfläche erklären lässt. Zudem begann hier die Christianisierung, die eine Verwendung geschriebener Sprache förderte, später als in England oder in anderen Teilen des europäischen Kontinents, vgl. 3.1.1.
Sieht man von den frühen Vorboten des Niederländischen (vgl. 2.3.1., 2.3.2.) ab, so enthalten die Malbergse Glossen aus dem 6. Jh., die im Pactus legis Salicae vorkommen, die ältesten überlieferten Sätze in der Volkssprache, die das Altniederländische einläuteten. So ist in diesem auf Antrag des Merowingerkönigs Chlodwig I. (vgl. 3.1.1.) 507–511 verfassten lateinischen Gesetzestext eine Glosse wie Maltho, thi ātōmeo, theo! (‚ich sage, ich lasse dich frei, Sklave‘) zu finden, die als ältester niederländischer Satz aufgefasst werden kann. Aus dem letzten Viertel des 8. Jh. stammt die Utrechtse Doopbelofte (‚Utrechter Taufgelübde‘) mit Sätzen wie ec gelobo in got alamehtigan fadaer (‚ich glaube in Gott, dem allmächtigen Vater‘). Der Text, der abhängig von der Interpretation seiner sprachlichen Merkmale ebenfalls als altniederländisch gelten darf, ist in einer Handschrift der Bibliothek des Vatikans in Rom enthalten (Codex Palatinus Latinus 577, folio 6 verso, folio 7 recto). Ebenfalls sind aus dem 8. Jh. altniederländische Namen in Urkunden und Chroniken, so aus dem Kloster Sithiu erhalten, Sprüche, die bei der Heilung von Pferden geäussert wurden, stammen aus dem 9. Jh. Auch Namen wie Schermer, zusammengesetzt aus schier (‚klar‘) und meer (‚See‘) von Anfang des 11. Jh. stammen aus altniederländischer Zeit. Weiter enthalten lateinische Urkunden und Register niederländische Wörter, wie aus Veröffentlichungen lexikalischen Materials aus der Zeit bis 1250 von Forschern wie B.H. Slicher van Bath hervorgeht. In lateinischen Quellen lassen sich namentlich altniederfränkische Wörter finden für Sachverhalte, die keine lateinischen Bezeichnungen kannten, als Beispiel erwähnen Quak und Van der Horst ein Wort wie dunos (‚Dünen‘). Weiter enthält das mittellateinische Lexikon latinisierte germanische lexikalische Elemente wie weregeldum. Zu den aus verschiedenen Quellen überlieferten altniederländischen Wörtern zählen zudem die Namen der Monate und Himmelsrichtungen in einer vermutlich in Utrecht verfassten Handschrift von Einhards Vita Karoli Magni aus dem 11. Jh. Von dem von Gysseling veröffentlichten ältesten lexikalischen Material dürften die aus Sint-Omaars stammenden Glossen ebenfalls altniederländisch sein.
Eine wichtige Quelle des Altniederländischen bildet ein Psalter aus einer Handschrift, die der Äbtissin von St. Amor in Munsterbilzen gehört hatte, die Justus Lipsius (vgl. 5.1.2.1.) 1598 vom Kanoniker Arnold Wachtendonck aus Lüttich geliehen hatte, danach aber verloren ging. Laut einem Brief Lipsius’ an den Antwerpener Gemeindeschreiber Henricus Schottius umfasste die Handschrift einen in Lateinisch verfassten Psalter mit Übersetzungen in der Volkssprache oberhalb der Texte: Germanica interpretatione superscripta. Es betrifft eine altniederländische Bearbeitung von vermutlich mittelfränkischen Glossen, die vielleicht in der niederländisch-deutschen Grenzgegend, eventuell in Xanten niedergeschrieben wurde und aus dem 9. oder 10. Jh. stammt. Lipsius’ Brief enthält zahlreiche Zitate aus der verschollenen Handschrift mit fast 500 altniederländischen Wörtern. Eine Kopie der Handschrift, die Lipsius hatte anfertigen lassen, ging ebenfalls verloren. Lediglich Psalm 18, den Abraham van der Myle 1612 in seinem Lingua Belgica in lateinischer Sprache ergänzt von einer neuen Übersetzung übernommen hatte, geht mit Sicherheit auf Lipsius’ Kopie zurück. Sodann wurden noch weitere Textfragmente überliefert, die auf der Handschrift oder auf Lipsius’ Kopie basieren, so in einer Handschrift der Universitaire bibliotheek Leiden (Signatur Ms. Lips. 53) mit über 800 Glossen, weiter in Handschriften der Staatsbibliothek Berlin (Signatur Ms. Diez. C. Quart. 90) und der Provinciale en BUMA-bibliotheek Leeuwarden (Signatur Ms BH 149), schliesslich vereinzelt in sonstigen Quellen. Insgesamt umfasst die Überlieferung der Wachtendonckse Psalmen die Psalmen 1,1–3,6, 18 und 53,7–73,9 sowie vereinzelte Wörter. Das Buch der Psalmen zählte zu den meistgelesenen Bibeltexten im Kloster, anl. und mnl. Beispiele werden in 3.3.1.2. beziehungsweise 4.3.4.4. zitiert.
Die umfangreichste Quelle des Altniederländischen bildet der Egmondse Williram, auch Leidse Williram genannt und hier weiter als Leidener Williram bezeichnet, eine Handschrift, die 214 folia mit zirka 9500 Wörtern umfasst und sich ebenfalls in der Leidener Universitätsbibliothek befindet (Signatur BPL 130). Als während des Achtzigjährigen Krieges die Geusen (vgl. 5.1.2.) 1573 die Abtei Egmond besetzten, gelang es dem Abt zusammen mit dem Rektor der lateinischen Schule in Alkmaar, die Handschrift zu retten. In der Zeit des Humanismus veröffentlichte Paullus Merula 1598 die Texte bei Plantin in Leiden (vgl. 5.1.2.2.), Hoffmann von Fallersleben gab im Zeitalter der Romantik den Williram 1827 erneut heraus, W. Sanders besorgte dann 1971 eine wissenschaftliche Edition. Der Text ist eine altniederländische Bearbeitung der hochdeutschen Glossen, die Williram, Abt des bayrischen Klosters Ebersberg, zwischen 1059 und 1065 neben seiner in Latein gedichteten Version des Hohen Liedes und dem entsprechenden Vulgata-Text niedergeschrieben hatte. Der Leidener Williram, der möglicherweise ein Autograf ist, entstand wohl kurz nachdem der Abt seine Arbeit vollendet hatte und gilt als einer der ältesten und als altniederländische Übersetzung freiesten Texte in der ansonsten konservativen Williram -Überlieferung. Zwar hat der wahrscheinlich aus Holland stammende Bearbeiter Althochdeutsches aus seiner Vorlage übernommen, dennoch deuten u.a. Wortwahl und Flexion darauf hin, dass er bestrebt war, den Text in die Muttersprache zu übersetzen. Für über hundertdreissig niederländische Wörter gilt, dass sie zum ersten Mal in seinem Text erscheinen, so Zahlwörter wie zestig (‚sechzig‘), vgl. seszogh bitherua kneghta (‚sechzig tapfere Soldaten‘ LWR 051, 02) und tachtig (‚achtzig‘), vgl. aghtzhogh sint thero keuese (‚es sind achtzig Nebenfrauen‘ LWR 103, 1), Adverbien wie dus (‚folglich‘) und gaarne (‚gern‘), die Artikel een (‚ein‘) und de (‚der‘, ‚die‘) und das Pronomen zulk (‚solch ein‘).
Auch der häufig zitierte Satz Hebban olla uogala nestas hagunnan hinase hi enda thu uu … unbida…e nu (wahrscheinlich zu übersetzen als ‚haben alle Vögel angefangen Nester [zu bauen] ausser ich und du, was erwarten wir nun‘) datiert vom letzten Viertel des 11. Jh. Dieser Satz, der als probatio pennae auf dem Schutzblatt einer Handschrift der Bodleian Library in Oxford (Kodex 340 fol.169 v.) vorkommt, wie Kenneth Sisam 1933 zum ersten Mal darlegte, stammt vermutlich aus der Abtei von Rochester. Die Frage, ob ein flämischer, vielleicht verliebter Geistlicher, der in Kent verblieb, diese Worte in seiner Muttersprache niedergeschrieben hat oder ob der Text als altenglisch einzustufen ist, hat unter Sprachhistorikern eine Diskussion ausgelöst, die bis jetzt nicht endgültig abgeschlossen wurde. Allerdings dürften einige Merkmale des Textes, so die Form olla die küstenniederländische Herkunft des Satzes, wie Louwen darlegt, bestätigen.
Weiter enthalten die Texte der Middelfrankische Rijmbijbel aus dem Anfang des 12. Jh., insbesondere die A-Fragmente, die sich in der Universitäts- und Landesbibliothek Halle (Saale), (Sign. Yg4°34) befinden, neben mittelfränkischem auch altniederländisches Sprachmaterial. Die Texte, die wohl aus der Gegend des Niederrheins stammen, wurden anfänglich als Legendarium oder aber als Sammlung von Bibelerzählungen, später auch als eine Kollektion von Homilien aufgefasst.
Als letztes überliefertes altniederländisches Sprachmaterial gilt der Satz Tesi samanunga was edele unde scona (‚Diese [Kloster-]Gemeinschaft war edel und schön‘). Diese von 1130 datierte Inskription ist in einem Evangeliar enthalten, das vermutlich im 9. Jh. in Augsburg hergestellt wurde und sich in der Bibliothek der Bollandisten zu Brüssel (Hs. 299) befindet. Die Handschrift gehörte zu einer Sammlung religiöser Kodizes der ehemaligen Frauenabtei von Munsterbilzen, die auch ein Psalterium mit den oben erwähnten Wachtendonckse Psalmen umfasste.
Die schriftliche Anwendung des Altniederländischen beschränkt sich auf einige wenige Bereiche. Die Malbergse Glossen deuten darauf, dass die Volkssprache die Auslegung der Jurisprudenz unterstützte. Auch kam sie zum Einsatz bei der Bekehrung von Heiden, wie aus dem Utrechtse doopbelofte hervorgeht. Sodann fand die Muttersprache Verwendung in Beschwörungsformeln, welche die Heilung von Tieren zu begünstigen hatten. Das Altniederländische kam zudem in Urkunden bei der Namensgebung zum Zug, wie aus überlieferten Personen-, Orts- und Flurnamen hervorgeht. Weiter boten altniederländische Glossen Hilfe beim Verstehen von Texten, die in einer anderen Sprache verfasst waren, wie die Wachtendonckse Psalmen und der Leidener Williram zeigen, gleichzeitig dienten sie so religiösen Zwecken. Altniederländische Glossen mögen ebenfalls als Unterstützung beim Erlernen des Lateinischen gewirkt haben. Ausserdem griffen Gelehrte auf die Muttersprache zurück bei der Suche nach Bezeichnungen, die dem Latein fehlten. Texte der Middelfrankische Rijmbijbel deuten zudem auf den Gebrauch des Altniederländischen in der Glaubensunterweisung oder bei der Formulierung von Homilien während der Messe. Auch kam es zum Einsatz beim Verfassen von persönlichen Notizen, wie der Munsterbilzer-Satz und Hebban olla uogala nestas hagunnan hinase hi enda thu uu …unbida…e nu zeigen. Schliesslich zeugt letzter Satz nicht nur von einem praktischen Gebrauch der eigenen Sprache, nämlich um die Eigenschaften einer neuen Feder zu erproben, sondern auch von der Anwendung der Muttersprache für das Niederschreiben eines lyrischen Textes in altniederländischer Zeit. Zum ersten Mal hat ein Verfasser mit dieser Liebeslyrik einen Vorläufer der geschriebenen niederländischen Sprache in seiner ästhetischen Funktion verwendet, sieht man von möglichen ästhetischen Intentionen bei der Produktion beziehungsweise Rezeption anderer Texte, so der Wachtendonckse Psalmen ab. Schliesslich zeugt der Satz von einer raffinierten Spielerei mit der Muttersprache und der lateinischen Entsprechung, wie Caron überzeugend dargelegt hat. Der berühmte Schreibversuch zeigt so in mehreren Hinsichten, wie die Muttersprache zum Gegenstand einer sprachlichen Kultivierung wird. Diese ästhetische Verwendung der Sprache, welche die Kultivierung des Niederländischen stets begleitet, lässt sich in jeder weiteren Sprachstufe des überregionalen Niederländischen verfolgen.
Die aufgezählten Anwendungsbereiche des Altniederländischen blieben im Niederländischen erhalten. Im Zeitalter des Mittelniederländischen und in den verschiedenen Epochen des Neuniederländischen sollten sich die Anwendungsbereiche des überregionalen Niederländischen dann systematisch erweitern, vgl. u.a. 4.2.4. und 5.2.3., eine Entwicklung, die als äussere Grösse die Entfaltung des Standardniederländischen entscheidend mitbestimmte.
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