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4.Passive Sterbehilfe (passive Euthanasie) und Behandlungsabbruch

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160In dieser Fallgruppe unterbleibt die Weiterbehandlung eines schwer kranken Patienten, um das Recht des Menschen auf seinen natürlichen Tod sowie ein Sterben unter Wahrung der Menschenwürde zu wahren, obgleich es angesichts des medizinischen und technischen Fortschritts durchaus möglich ist, auch schwerstkranke und nicht mehr heilbare Menschen für erhebliche Zeit am Leben zu erhalten. Aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts kann sich der Patient jederzeit eigenverantwortlich gegen seine weitere Behandlung entscheiden. Der Arzt darf dann die Behandlung nicht mehr fortsetzen, mag auch die Entscheidung des Patienten (medizinisch) unvernünftig sein447. Eine Zwangsbehandlung ist unzulässig; andernfalls würde sich der Arzt gem. § 223 wegen eigenmächtiger Heilbehandlung strafbar machen448.

161a) Nach bislang h. M. sollte das aktive Abschalten von medizinischen Geräten durch Ärzte nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des Verhaltens lediglich als Unterlassen zu werten sein449. Entscheidend für die Beurteilung ist demnach nicht der einzelne Handlungsakt des Täters – z. B. das Entfernen einer Magensonde oder Abschalten eines Beatmungsgeräts –, sondern im Wege einer Gesamtbetrachtung das Unterlassen der weiteren lebenserhaltenden Behandlung des Patienten450. Über diese Konstruktion wurde eine Beendigung der Verpflichtung des Arztes zur Weiterbehandlung angenommen (Erlöschen der Garantenpflicht451), wenn jede Aussicht auf Rettung erloschen ist und die unmittelbare Phase des Sterbens begonnen hat452. Auf eine tatsächlich erteilte Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten kommt es nach dieser Ansicht nicht an. Ist die Aussicht auf Rettung zwar erloschen, hat die eigentliche Sterbephase aber noch nicht begonnen, so sollte ein Behandlungsabbruch nur dann straffrei sein, wenn er im Einklang mit dem ausdrücklich erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen im Zeitpunkt der Tat steht453.

162Anders wurde mitunter schon bislang beim Abbruch der Behandlung durch Dritte entschieden und ein aktives Tun angenommen454. Ist der Dritte jedenfalls nicht zur Behandlung und Betreuung als Hilfsperson hinzugezogen, kann man dies schon damit begründen, dass der Schwerpunkt dann nach dem sozialen Sinngehalt nicht auf einer unterlassenen Weiterbehandlung, für die der Dritte gar nicht zuständig ist, sondern auf dem aktiven Abbruch der Behandlung beruht455. Ungeachtet dessen wurde jedoch selbst bei Annahme eines aktiven Tuns vertreten, dass der Tatbestand bei einem Behandlungsabbruch auf Veranlassung des Patienten aufgrund des Vorrangs des Selbstbestimmungsrechts zu verneinen456, jedenfalls aber eine Rechtfertigung gem. § 34 zu befürworten ist457. Dies entspricht zumindest im Ergebnis der neuen Rechtsprechung des BGH458. Soweit der Dritte allerdings gegen den Willen des Patienten handelt, so macht er sich auch nach diesen Grundsätzen nach § 212 (§ 211) strafbar.

Bsp.: T schaltet bei einem Besuch im Krankenhaus einfach das Beatmungsgerät des O aus, um so schneller an das Erbe zu gelangen; einen entsprechenden Patientenwillen gibt es nicht. – T hat sich durch aktives Tun nach §§ 212, 211 (Habgier) strafbar gemacht.

163b) Mit einer grundlegenden Entscheidung des BGH, die die bisherige Rechtsprechung ändert, ist die Diskussion in eine neue Phase getreten459.

Ausgangsfall (vereinfacht): Im Jahre 2002 hatte O gegenüber ihrer Tochter mitgeteilt, sie wolle für den Fall, dass sie einmal bewusstlos werde und sich nicht mehr äußern könne, keine lebensverlängernden Maßnahmen; sie wolle nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden. Kurze Zeit später fiel sie in Folge einer Hirnblutung ins Wachkoma und wurde nun in einem Altenheim über eine Sonde künstlich ernährt. T setzte sich im Einvernehmen mit dem behandelnden Hausarzt für die Entfernung der Magensonde ein. Im August 2007 wurde T zur Betreuerin ihrer Mutter bestellt. Nachdem sie im Einvernehmen mit der Heimleitung begonnen hatte, die Ernährung einzustellen, wies die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens jedoch die Heimleitung an, die Ernährung wieder aufzunehmen. Daraufhin trennte T Ende 2007 den Schlauch der Magensonde selbst ab; nachdem das Pflegepersonal dies bemerkte, wurde O auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in eine Klinik gebracht und erneut künstlich ernährt. Sie verstarb Anfang 2008 aufgrund ihrer Erkrankung.

164Der BGH nimmt nunmehr in Fällen des Behandlungsabbruchs für Ärzte, Betreuer, Bevollmächtigte und Dritte ein aktives Tun an460. Die Annahme eines Unterlassens beim Abschalten von Geräten, Entfernen von Sonden usw. laufe auf eine Umdeutung hinaus, die sich als dogmatisch unzulässiger Kunstgriff darstelle. Ein Behandlungsabbruch erschöpfe sich regelmäßig nicht in bloßer Untätigkeit, sondern umfasse zahlreiche aktive und passive Handlungen. Diese seien unter dem Oberbegriff des Behandlungsabbruchs zusammenzufassen. Anders als bei der Annahme eines Unterlassens, bei der man in Fällen der Sterbehilfe ein Erlöschen der Garantenstellung annehmen kann461, ist nach dieser Lösung der Tatbestand eines Tötungsdelikts verwirklicht, so dass Rechtfertigungsfragen in den Blick geraten. Was eine Nothilfe der T zugunsten der O nach § 32 anbelangt, so liegt zwar ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff seitens der Heimleitung auf das Selbstbestimmungsrecht vor, wenn O gegen ihren Willen behandelt wird; jedoch richtet sich die Verteidigungshandlung nicht allein gegen den Angreifer (Heimleitung), sondern auch gegen das Leben der angegriffenen O selbst, was nach h. M. von § 32 nicht gedeckt ist462. Auch § 34 soll – freilich entgegen der h. M. – nach Ansicht des BGH nicht anwendbar sein, wenn das Erhaltungsgut (menschenwürdiges Sterben) und das verletzte Gut (Leben) jeweils derselben Person zustehen463. Vielmehr sei die Lösung über die Figur der (mutmaßlichen) Einwilligung zu suchen. Dabei seien aus dem Begriff der „Sterbehilfe“ und des „Behandlungsabbruchs“ die Kriterien der Rechtfertigung zu entwickeln464. Voraussetzung ist demnach, dass einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf gelassen wird und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist. Aus § 1901a Abs. 3 BGB folge dabei, dass der Wille des Patienten unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung verbindlich ist; anders als früher kommt es also nicht mehr darauf an, ob bereits jede Aussicht auf Rettung erloschen ist und die unmittelbare Phase des Sterbens begonnen hat. Die Sterbehilfe muss jedoch objektiv und subjektiv unmittelbar früher auf eine medizinische Behandlung bezogen sein. Gerechtfertigt werden nur das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung oder ihr Abbruch sowie Handlungen der indirekten Sterbehilfe465. Hingegen seien vorsätzliche lebensbeendende Maßnahmen, die keinen Zusammenhang zur medizinischen Behandlung aufweisen bzw. vom Krankheitsprozess abgekoppelt sind, nicht gerechtfertigt466; selbst bei einem Tötungsverlangen verbleibt es hier bei § 216. Die Bestimmung des (mutmaßlichen) Willens soll unter Berücksichtigung der betreuungsrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB zu bestimmen sein, die zugleich verfahrensrechtliche Absicherungen enthalten467; hierbei kann auch eine Patientenverfügung zu beachten sein. Weil O eine Weiterbehandlung für einen solchen Fall nicht mehr wünschte, lag eine mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch vor468; die Rechtfertigung wirkt hierbei nach BGH für Ärzte, Betreuer und Bevollmächtigte sowie von diesen hinzugezogenen Hilfspersonen469.

165In einer weiteren Entscheidung hat der BGH dann die Grenzen des Behandlungsabbruchs aufgezeigt470.

Fall: O wird infolge einer Sepsis im Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt; ihr Zustand ist aus medizinischer Sicht nicht hoffnungslos. Schwiegersohn T verlangt, die Behandlung abzubrechen, weil O laut einer Patientenverfügung keine lebensverlängernden Maßnahmen wünsche. Die Patientenverfügung wurde dem Krankenkaus von der Tochter per Fax übermittelt. Während die behandelnden Ärzte die Patientenverfügung noch prüfen wollten, schaltete T eigenmächtig die Geräte ab. Diese wurden von den Ärzten sogleich wieder eingeschaltet; O starb später, wobei hierfür das Abschalten durch T nicht ursächlich war. Laut Patientenverfügung wünschte O lediglich dann keine lebensverlängernden Maßnahmen, falls diese keinen Erfog versprechen und sie sich im unmittelbaren Sterbeprozess befindet. Dem T war dies bewusst, jedoch wollte er nicht, dass die Schwiegermutter ihm und seiner Familie nach einem Krankenhausaufenthalt zur Last fällt.

166Der Behandlungsabbruch war hier bereits nicht vom Willen der O gedeckt, weil ihr Zustand nicht hoffnungslos war. Zudem muss den Beteiligten hinreichend Zeit zur Prüfung des Patiententestaments gegeben sein; dieses darf nicht als Vorwand für einen Behandlungsabbruch aus unlauteren Motiven verwendet werden471. Die verfahrensrechtlichen Absicherungen des Betreuungsrechts wurden zudem nicht eingehalten, weil T weder Betreuer noch Bevollmächtigter war und nach § 1901b Abs. 1 S. 2 BGB zudem eine Zusammenwirkung mit den Ärzten erforderlich ist472. T hat sich daher nach §§ 212, 22, 23 strafbar gemacht.

167Stellungnahme: Ausgehend von den neuen betreuungsrechtlichen Vorschriften ist es zutreffend, dass es auf das Stadium der schweren Erkrankung nicht mehr ankommt473. Im Übrigen gelangt der BGH freilich weniger zu neuen Ergebnissen als zu einer neuen Begründung. Dabei mag die Annahme eines Tuns beim Abschalten von Geräten usw. im Einzelfall durchaus sachgerecht sein474. Allerdings muss man sehen, dass auch weiterhin reine Unterlassungsfälle – z. B. Verzicht auf das Legen einer Magensonde – denkbar sind; hier wird man bei einem entsprechenden Patientenwillen weiterhin bereits ein Erlöschen der Garantenstellung annehmen können475. Zudem wird man im Einzelfall zwischen unterschiedlichen Maßnahmen zu differenzieren haben, so dass aktive Maßnahmen neben ein bloßes Unterlassen treten können. Schon im Hinblick auf unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine Strafbarkeit und die Frage der Konkurrenzen wäre es wenig überzeugend, in einer Art Gesamtschau den gesamten Behandlungsabbruch, der sich möglicherweise über einen längeren Zeitraum erstreckt, undifferenziert zu würdigen476. Soweit die Voraussetzungen für einen Behandlungsabbruch vorliegen, wird man auch eine Strafbarkeit nach § 323c zu verneinen haben, weil es an der Zumutbarkeit der Hilfeleistung fehlt477.

168Hinsichtlich einer Rechtfertigung schiebt der BGH § 34 allerdings etwas vorschnell zur Seite478, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass die Einwilligungslösung dem Patientenwillen stärker Rechnung trägt als eine Abwägung der Rechtsgüter, in die freilich der Patientenwille eingestellt werden kann479. Sicherlich wird in Fällen eines Patiententestaments häufig nur eine mutmaßliche Einwilligung vorliegen, weil es an einer tatsächlichen Einwilligung in die konkrete Behandlungssituation fehlt480, es sei denn man anerkennt eine antizipierte Einwilligung481. Der dogmatische Gewinn bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen wird vom BGH dann aber im Hinblick auf § 216 „verspielt“, wenn er einerseits den Tatbestand des § 216 (Tötung auf Verlangen) bejaht, andererseits aber eine Rechtfertigung durch Einwilligung annimmt482. Begründen lässt sich die Verneinung des § 216 eigentlich nur damit, dass Fälle des Behandlungsabbruchs – wie auch die betreuungsrechtlichen Vorschriften belegen – außerhalb der Reichweite des Tatbestandes liegen483. Zu beachten bleibt allerdings, dass ein Verstoß gegen betreuungsrechtliche Vorschriften einer im Übrigen vorliegenden (mutmaßlichen) Einwilligung nicht ohne Weiteres ihre rechtfertigende Wirkung nehmen kann, weil ansonsten ein reiner Verfahrensverstoß pönalisiert würde484.

169Im Rahmen der rechtfertigenden Einwilligung ist insbesondere zu beachten, dass der Patient einwilligungfähig sein muss, kein rechtsgutsbezogender Irrtum vorliegen darf und die Maßnahme von der Einwilligungserklärung gedeckt sein muss. Solange der Patient zu einer Einwilligung fähig ist, muss er befragt werden; sein tatsächlicher Wille darf nicht über die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung überspielt werden. Für die Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens sind strenge Beweisanforderungen zu stellen; dies gilt insbesondere, wenn der Wille nicht in einem Patiententestament niedergelegt ist und nur mündlich geäußert wurde485. Hier sind insbesondere §§ 1901a, 1901b sowie § 1904 BGB zu berücksichtigen486. Nach § 1901a Abs. 1 BGB hat der Betreuer auch bei Vorliegen einer Patientenverfügung zu prüfen, ob die Festlegungen noch auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Betreuer, Bevollmächtigte und Ärzte haben dem Patientenwillen Geltung zu verschaffen. Diese wirken nach § 1901b Abs. 1 S. 2 zusammen. Einer Genehmigung des Betreuungsgerichts bedarf es nur, wenn Meinungsverschiedenheiten zwischen Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigtem über den Willen des Patienten oder die medizinische Indikation von Maßnahmen bestehen487.

Strafrecht - Besonderer Teil I

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