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1. Der Weg zum „leading court“: Vorläufer und Vorbilder

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Das Bundesverfassungsgericht ist ein Gericht mit großer Strahlkraft. Seine Vorbildfunktion ist Legende und die Besuche zahlloser ausländischer Delegationen lassen es bisweilen als „Popstar“ unter den Gerichten erscheinen.[1] Aufgrund der starken Rolle des BVerfG sehen manche das Grundgesetz inzwischen als das „leading model of democratic constitutionalism“.[2] Anderen gilt das BVerfG als „Bürgergericht par excellence“.[3] Die großen Attribute, mit denen das Gericht bisweilen bedacht wird, lassen es fast selbstverständlich wirken, dass das BVerfG im Nachkriegsdeutschland zu einem bedeutenden demokratischen Verfassungsgericht werden konnte. Zu naheliegend erscheint die Idee, das BVerfG sei die logische Antwort auf die Zerstörung jeder demokratischen Idee im nationalsozialistischen Deutschland. Doch diese Version der Erfolgsgeschichte des BVerfG verfehlt nicht nur die Bedeutung der großen Krisen, an denen sich das Schicksal des BVerfG besonders in den ersten Jahrzehnten seiner Arbeit entschied. Sie blendet auch aus, dass das BVerfG keineswegs als deus ex machina in die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte kam und beraubt die Analyse des Gerichts damit der notwendigen Tiefe und Kontextualität. Die heutige Bedeutung des BVerfG ist geprägt durch deutsche Geschichte vor 1945. Die Entwicklungspfade reichen zurück bis ins Spätmittelalter.[4]

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Elemente der späteren Verfassungsgerichtsbarkeit kannte man bereits im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Obgleich das Reichskammergericht und der Reichshofrat kaum als artverwandte Vorläufer der heutigen Verfassungsgerichtsbarkeit betrachtet werden können,[5] markieren sie aufgrund der von ihnen erfüllten Funktionen doch eine wichtige Etappe der „Verrechtlichung des politischen Lebens“.[6] Diese Verrechtlichung setzte zeitgleich mit der „Verwissenschaftlichung des Rechtswesens“ und einer intensiven Publikationstätigkeit über die Arbeit der beiden Gerichte ein.[7] Obwohl gegen die Entscheidungen dieser Gerichte der Reichstag, und damit ein politisches Organ, angerufen werden konnte,[8] veränderte die Möglichkeit der juristischen Verarbeitung politischer Konflikte die öffentliche Auseinandersetzung grundlegend. Es entspricht der Tradition in verschiedenen europäischen Staaten, dass die zentrale Funktion dieser Gerichte zunächst in der Kontrolle der Exekutive lag.[9] Aus der Perspektive heutiger Verfassungsgerichtsbarkeit bemerkenswerter war aber, dass das Reichskammergericht reichsunmittelbaren Untertanen Rechtsschutz wegen Rechtsverweigerung durch die territorialen Gerichtsbarkeiten bot.[10] Überdies oblag den Reichsgerichten die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit von Reichsgesetzen und sie verfügten über eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz hinsichtlich der Vereinbarkeit der Gesetze der Territorien mit Reichsgesetzen.[11] Beide Funktionen erinnern an die moderne Verfassungsgerichtsbarkeit. In ihrem historischen Kontext muss man sie jedoch eher als spezifische Form der Verrechtlichung der Bundesstruktur des damaligen Reiches verstehen.[12] Nicht der Vorrang der sogenannten Fundamentalgesetze des Reiches,[13] sondern die Sicherung der kaiserlichen Hoheitsbefugnisse und des inneren Friedens bildeten den Grund für die entsprechenden Beschwerdeverfahren. Konsequenter Weise unterlagen daher Maßnahmen des Kaisers und Reichsgesetze nicht der gerichtlichen Kontrolle.[14]

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Angesichts dieser zentralisierenden Funktion der Reichsgerichtsbarkeit, verwundert es nicht, dass die gerichtsförmige Entscheidung von Verfassungskonflikten im föderalistisch organisierten deutschen Bund keine Entsprechung fand.[15] Die Streitentscheidung wurde stattdessen auf ein politisches Organ, die Bundesversammlung, übertragen.[16] Die prägende Wirkung der Reichsgerichtsbarkeit äußerte sich aber gleichwohl in politischen Konflikten um die Einrichtung eines entsprechenden Bundesgerichts sowie in der starken Rolle, die fortan die Staatsgerichtsbarkeit der Gliedstaaten einnahm.[17]

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Dokument dieser stetigen Auseinandersetzung um die Verrechtlichung politischer Prozesse ist der Entwurf einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der gescheiterten sogenannten Paulskirchenverfassung von 1849. Vorgesehen war ein Reichsgericht, das nicht nur über föderale Streitigkeiten entscheiden sollte, sondern zudem ein Organstreitverfahren und ein individuelles Beschwerdeverfahren wegen Verletzung der von der Reichsverfassung gewährten Rechte, die den späteren Verfahrensarten vor dem BVerfG ähnlich waren.[18] Der Vorschlag, ein Reichsgericht einzurichten, entsprang jedoch nicht nur den früheren Erfahrungen mit der Reichsgerichtsbarkeit und den politischen Bedürfnissen der Zeit. Er war vielmehr maßgeblich beeinflusst durch das Vorbild des US-amerikanischen Konstitutionalismus und der starken Position, die der Supreme Court dort inzwischen einnahm.[19] Dies traf in besonderer Weise auch auf die Idee zu, dass die Grundrechte fortan auf juristischem Wege durchsetzbar sein sollten.[20] Die Frankfurter Reichsverfassung trat nie in Kraft und so verebbten die weitreichenden Vorschläge für eine substanzielle Verfassungsgerichtsbarkeit. Dementsprechend kannte die Reichsverfassung von 1871 keine Verfassungsgerichtsbarkeit auf Reichsebene und auch Preußen als größter Teilstaat verfügte nicht über eine Verfassungsgerichtsbarkeit.[21] Dies lässt sich auch aus der starken und hegemonialen Rolle Preußens erklären, die durch die Unterordnung unter ein zentrales Gericht unterminiert worden wäre;[22] die Machtbalance zwischen Monarchie, Reichsorganen und Organen der Einzelstaaten galt als genuin politische Frage.[23]

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Wichtige Impulse erhielt die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa aus Österreich.[24] Dort war unter dem Einfluss der Ideen Hans Kelsens[25] mit dem Bundesverfassungsgesetz von 1920 der Verfassungsgerichtshof eingeführt worden. Er wurde mit umfangreichen Kompetenzen, einschließlich der Normverwerfungskompetenz, ausgestattet und etablierte den Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit.[26] In Deutschland sah die Weimarer Verfassung den Staatsgerichtshof vor, dessen Kompetenzen im Vergleich zum österreichischen Modell aber beschränkt blieben.[27] In den zwanziger Jahren setzte sich zwar auch in Deutschland der Gedanke richterlicher Kontrolle legislativer Akte langsam durch und es etablierte sich der Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit als Inbegriff dieser Kontrolle.[28] Auf die vor dem Staatsgerichtshof vorgesehenen Verfahren schlug sich dies allerdings nicht nieder.[29] Weder ein Organstreit zwischen Verfassungsorganen des Reiches, noch die Verfassungsbeschwerde und die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Reichsgesetzen fanden Eingang in die Weimarer Verfassung.[30] Hier wirkten der föderale Ursprung der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Angst vor einer politischen Gerichtsbarkeit nach.[31] Der starke Einfluss der Entwicklungen in Österreich zeigte sich jedoch in der rechtswissenschaftlichen Debatte dieser Jahre. Intensiv wurde die Frage nach dem Umfang und den Möglichkeiten des gerichtlichen Schutzes der Verfassung[32] unter Weimarer Juristen diskutiert.[33] Das Reichsgericht entschied schließlich 1925, dass die Bindung der Richter an das Gesetz nur solche Gesetze umfasse, die auch materiell verfassungsmäßig seien.[34] Die richterliche Normkontrolle blieb in der Praxis aber die Ausnahme. Bis eine entsprechende Prüfungskompetenz sich schließlich im Verfassungstext niederschlug, sollte es noch rund 25 Jahre dauern.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › I. Kontinuitäten und Kontextualität: Die Entwicklung der Verfassungsgerichtbarkeit in Deutschland › 2. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht des Neuanfangs?

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