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c) Die Neutralitätskrise in den siebziger Jahren
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Das BVerfG hatte seine Autoritätsgewinne in den Anfangsjahren nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass es die Angst vor parteipolitisch motivierten Entscheidungen von vorneherein entschlossen zerstreut hatte. Umso ernster war die Krise, in die das Gericht in den siebziger Jahren geriet, als es eine Reihe sozialliberaler Prestigeprojekte mit der Mehrheit der CDU-nahen Richter kippte. Zunächst entschied das Gericht 1975, dass die neu eingeführte Fristenlösung, die einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate generell von der Strafbarkeit nach § 218 StGB ausgenommen hätte, verfassungswidrig sei, weil sie den Schutz des Lebens nicht ausreichend berücksichtige.[95] Dann erklärte es 1978 das ebenfalls von der Koalition aus SPD und FDP eingeführte sogenannte Postkartenverfahren für verfassungswidrig. Dieses Verfahren sah die Möglichkeit vor, sich durch einfache Berufung auf das Grundgesetz und ohne gesonderte Prüfung der Beweggründe vom Wehrdienst befreien zu lassen. Das BVerfG hielt diese Regelung für unvereinbar mit dem Grundgesetz, da dieses eine Kriegsdienstverweigerung nur ausnahmsweise bei Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 3 GG zulasse, die entsprechend geprüft werden müsse.[96] Beide Urteile ließen die Kritik an einer parteipolitisch motivierten Entscheidungspraxis in einem Moment hochkochen,[97] in dem auch die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um eine künftige Liberalisierung härter wurden. Das Gericht wandelte sich plötzlich vom gesellschaftlichen Modernisierer zum Bewahrer.[98]
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Das Gericht aber hatte in den ersten Jahren seiner Rechtsprechung ein so großes Kapital an Autorität und Integrität aufgebaut, dass es in diesen Auseinandersetzungen keinen größeren Schaden nahm. Auch als seine parteipolitische Neutralität in den neunziger Jahren – nun von anderer Seite – in Zweifel gezogen wurde, meisterte Karlsruhe die Krise. Im Kruzifix-Beschluss stellte das Gericht 1995 fest, dass die Pflicht zum Anbringen von Kreuzen in Klassenräumen nicht mit dem von der Verfassung gebotenen schonenden Ausgleich zwischen Religionsfreiheit und elterlichem Erziehungsrecht in Einklang zu bringen sei.[99] Es bestimmte das Verhältnis von Staat und Religion damit grundlegend neu und stieß auf deutliche Kritik christlich-konservativer Vertreter.[100] Ähnliche Kritik traf bald darauf ein Urteil, in dem das Gericht entschied, dass die Wiedergabe der von Kurt Tucholsky stammenden Äußerung „Soldaten sind Mörder!“ von der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt sei und daher nicht strafbar sein dürfe.[101]