Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 88

c) Die Entscheidungen über präjudizielle Fragen

Оглавление

175

Im Rahmen präjudizieller Fragen kann der Gerichtshof eine Norm nicht für nichtig erklären, sondern nur deren Verfassungswidrigkeit feststellen. Anders ausgedrückt – und in Ermangelung einer Nichtigkeitserklärung durch den Verfassungsrichter – bleibt die Norm in der belgischen Rechtsordnung bestehen und entfaltet ihre Wirkung. Die Rechtslehre hat diesen Zustand wiederholt kritisiert und nachdrücklich auf den Widerspruch hingewiesen, dass der Gerichtshof die Verfassungswidrigkeit einer Norm feststellen kann, ohne jedoch mit der Möglichkeit ausgestattet zu sein, die Rechtsordnung von dieser Norm zu befreien.[269]

176

Gewisse Konsequenzen hat die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm jedoch, insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen inter partes.[270] Denn die Antwort des Gerichtshofes im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ist für den vorlegenden Richter sowie für alle anderen Gerichte, die nachfolgend über dieselbe Rechtssache befinden müssen, bindend.[271] Wird ein Verstoß festgestellt, darf der vorlegende Richter die fragliche Bestimmung also nicht anwenden. Zudem entfaltet eine Entscheidung im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auch insofern Rechtswirkung, als Art. 26 § 2 Abs. 2 Nr. 2 und § 4 Abs. 2 Nr. 4 SGVerfGH die ordentlichen Gerichte von der Vorlageverpflichtung befreien, wenn der Gerichtshof bereits über eine Frage oder eine Klage mit identischem Gegenstand befunden hat.[272]

177

Im Übrigen hat der Kassationshof entschieden, dass „der Richter in allen Rechtssachen, deren Gegenstand mit einer bereits entschiedenen präjudizielle Frage identisch ist, die vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärte gesetzliche Bestimmung nicht anwenden darf“.[273]

178

Gegenüber Privatpersonen und Verwaltungsbehörden kommt die relative Wirkung der Urteile jedoch grundsätzlich voll zum Tragen. Bezüglich der Verwaltungsbehörden gilt jedoch eine Einschränkung. Denn diese dürfen einen Rechtsakt, der offensichtlich rechtswidrig ist, etwa weil seine Rechtsgrundlage für verfassungswidrig erklärt wurde[274], nicht anwenden. Zudem schafft Art. 4 Abs. 2 SGVerfGH die Möglichkeit, innerhalb einer weiteren sechsmonatigen Frist[275] eine Nichtigkeitsklage gegen eine auf eine Vorabentscheidungsfrage hin für verfassungswidrig erklärte Norm einzureichen. Die Norm kann auf diese Weise also vollständig vernichtet werden. Antragsbefugt sind der Ministerrat und die Regierungen der Gemeinschaften und Regionen.

179

Schließlich differenziert der Gerichtshof auch im Vorlageverfahren, ebenso wie im Rahmen von Nichtigkeitsentscheiden, seine Feststellungen der Verfassungswidrigkeit, indem er sich gewisser Sprachwendungen bedient.[276] Der vorlegende Richter muss diesen Differenzierungen Rechnung tragen und darauf achten, dass die dem Urteil zugemessene Wirkung nicht darüber hinausgeht.[277]

180

Außerdem hat der Gerichtshof eine ganz besondere Art der Tenorierung bei Vorabentscheidungsverfahren entwickelt. Die Urteile werden mit einem doppelten Tenor versehen (auch bipolare Urteile genannt[278]). Mit dieser spezifisch belgischen Technik ist man vor allem darum bemüht, nicht die Zuständigkeit der vorlegenden Gerichte hinsichtlich der Auslegung der angefochtenen Norm anzutasten. So entwickelt der Gerichtshof eine alternative Tenorierung, die es ihm erlaubt, die fragliche Norm nach einer Auslegung für verfassungskonform und gleichzeitig nach einer anderen Auslegung für verfassungswidrig zu erklären, wobei es sich bei letzterer Auslegung meist um die des vorlegenden Richters handelt.[279]

181

Zum Abschluss dieses Abschnitts ist noch auf die rechtlichen Wirkungen einzugehen, die solche Feststellungen der Verfassungswidrigkeit einer Norm auf den Gesetzgeber haben können. In Betracht kommt insofern die Verpflichtung zu einer Gesetzesänderung, um der im Rahmen des Vorlageverfahrens festgestellten verfassungswidrigen Rechtslage ein Ende zu bereiten. Auch wenn es keine gesetzliche Bestimmung gibt, die den Gesetzgeber zur Änderung einer für verfassungswidrig erklärten Norm verpflichtet,[280] und eine solche Verpflichtung bis zum heutigen Tage durch kein Urteil des Gerichtshofes ausdrücklich bestätigt wurde, nimmt die Rechtslehre ihr Bestehen dennoch an.[281] Auf diese Auslegung lässt sich überdies aus den vom Gerichtshof verwendeten Formulierungen schließen. So bekräftigt er beispielsweise im Urteil Nr. 121/2000 vom 29. November 2000, der Gesetzgeber müsse einer Verfassungswidrigkeit innerhalb einer angemessenen Frist ein Ende setzen. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass eine solche Aussage verbindlich ist.[282]

§ 96 Der belgische Verfassungsgerichtshof › III. Die Beziehung zu den anderen Gerichten

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх