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2. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht des Neuanfangs?

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In der Rückschau erscheint der Erfolg des BVerfG in der Nachkriegszeit bisweilen als Konsequenz aus der Schwäche der Weimarer Verfassung und der nachfolgenden Zerstörung rechtsstaatlichen Denkens zwischen 1933 und 1945.[35] Der Erfolg des BVerfG war aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Vielmehr ist er eng verknüpft mit den frühen Krisen und Auseinandersetzungen nach der Arbeitsaufnahme des Gerichts im September 1951. In den Beratungen des Herrenchiemseer Konvents und des Parlamentarischen Rats zum Grundgesetz hatte das BVerfG zunächst keine zentrale Rolle gespielt.[36] Soweit es um die Einrichtung einer zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit ging, dominierte die Idee der Sicherung der Einheitlichkeit der Verfassung gegenüber den Ländern[37] und die vermeintlich strikte Trennung zwischen rechtlichen und politischen Fragen.[38] Beide Ideen fügten sich ein in die Tradition der früheren deutschen Höchst- und Staatsgerichtsbarkeit, in der der politische Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit stets kritisch beäugt wurde. Ausdruck der Unentschiedenheit, mit der der Parlamentarische Rat zwischen der Einrichtung eines „rein rechtlich“ agierenden obersten Bundesgerichts und einem „politischen“ Verfassungsgericht schwankte,[39] ist die systematische Position der Vorschriften zum BVerfG im Grundgesetz: Es steht in Art. 92 GG als erstes Gericht im Abschnitt zur Rechtspflege und damit zunächst einmal neben den übrigen Gerichten.[40] Hatte der Herrenchiemseer Konvent noch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem separaten Abschnitt zum BVerfG vorgeschlagen, um die zentrale Funktion des „Hüters der Verfassung im wahrhaften Sinne“ hervorzuheben,[41] ließ der Parlamentarische Rat dies fallen und bremste die Entwicklung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit zunächst.

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Das Grundgesetz ließ zudem wesentliche Fragen zunächst unbeantwortet: Lediglich die wichtigsten Kompetenzen und Verfahrensarten sowie die Wahl der Richter des BVerfG wurden in Grundzügen geregelt.[42] Zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen erteilte das Grundgesetz keine verbindliche Auskunft,[43] der Status und die innere Organisation des BVerfG blieben ungeregelt und auch die Verfassungsbeschwerde war zunächst nicht vorgesehen. Das BVerfG bedurfte also des parlamentarischen Gesetzgebers als Geburtshelfer und war im Grundgesetz von 1949 zunächst nur als Versprechen angelegt.

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Doch in den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik schien es drängendere politische Fragen zu geben als die nach einer effektiven gerichtlichen Absicherung des Grundgesetzes. Dem Inkrafttreten des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes sollte ein zweijähriger, konfliktreicher Gesetzgebungsprozess vorangehen,[44] bevor das BVerfG am 7. September 1951 seine Tätigkeit aufnehmen konnte. In diesem Gesetzgebungsprozess spiegelten sich grundlegende Konflikte zwischen der regierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP einerseits und der oppositionellen SPD andererseits. Bedeutsam war vor allem die Frage nach dem Umfang der Unabhängigkeit des Gerichts und den erforderlichen Quoren für die Richterwahl, in denen die wechselseitige Skepsis von Regierung und Opposition zum Ausdruck kam. Überdies trat die SPD für die Möglichkeit der Ernennung von Laienrichtern ein, um das Gericht stärker in der Gesellschaft zu verankern.[45] Die Regierung, die für ein Expertengericht plädierte, welches das Erfordernis der Befähigung zum Richteramt implizierte, setzte sich damit letztlich durch.[46] Das Ringen um diese prinzipiellen Fragen dokumentiert, dass den Beteiligten das Potenzial des neu geschaffenen BVerfG als zentraler Akteur in der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung langsam bewusst wurde. Umso erstaunlicher mutet daher die Überraschung an, mit der Konrad Adenauer im Dezember 1952 vor seinen Parteikollegen Fehleinschätzungen bei der Ausgestaltung des Wahlverfahrens beklagte. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit habe der Sozialdemokratie zu einer Sperrminorität verholfen, die dazu geführt habe, dass von den 23 gewählten Richtern des BVerfG nur zwei Mitglieder der CDU, aber 9 Mitglieder der SPD seien.[47] Die Angst vor einem parteipolitisch voreingenommenen Bundesverfassungsgericht sollte sich in den folgenden Jahren als unbegründet erweisen. Ein unpolitisches Gericht wurde das BVerfG aber nicht und bezog gerade daraus eine wesentliche Ressource für seinen Aufstieg.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › I. Kontinuitäten und Kontextualität: Die Entwicklung der Verfassungsgerichtbarkeit in Deutschland › 3. Krisen und Herausforderungen eines Gründungsgerichts

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