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b) Konstitutionalisierung und Vergangenheitsbewältigung

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Die zweite große Herausforderung der ersten Jahre war der Konkurrenzkampf mit der Fachgerichtsbarkeit, insbesondere mit dem Bundesgerichtshof.[71] Dieser wies im Vergleich zum BVerfG am Beginn der Bundesrepublik größere personelle Kontinuitäten mit der Zeit des Nationalsozialismus auf. Auch das BVerfG war allerdings nicht frei solchen Kontinuitäten. Ausgerechnet Willi Geiger, der die Gesetzgebung zum BVerfG mitprägte und dann ab 1951 für 27 Jahre Richter am BVerfG wurde, hatte bereits im Nationalsozialismus Karriere gemacht, mit einer antisemitischen Doktorarbeit promoviert[72] und als Staatsanwalt an mindestens fünf Todesurteilen mitgewirkt.[73]

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Institutionell manifestierte sich die Konkurrenz zwischen Bundesgerichtshof und BVerfG im Streit um das sogenannte Stellungnahmeverfahren, das § 80 BVerfGG in den Anfangsjahren noch vorsah. Nach diesem Verfahren mussten Normenkontrollanträge der Fachgerichte durch die jeweiligen Bundesgerichte an das BVerfG weitergeleitet werden. Die Rechtsprechung verstand die Norm zunächst einhellig so, dass die Bundesgerichte die Normenkontrollanträge jeweils mit einer eigenen Stellungnahme versehen durften. Nachdem der Bundesgerichtshof von dieser Möglichkeit umfangreich Gebrauch gemacht hatte, entschied das BVerfG schließlich 1955, dass ein Recht zur Abgabe einer solchen Stellungnahme explizit gesetzlich geregelt sein müsse und die bisherige Praxis nicht verfassungskonform sei.[74] Der anschließende heftige Wortwechsel zwischen den Präsidenten beider Gerichte wurde schließlich durch die gesetzliche Neuregelung 1956 beendet, nach der nunmehr alle Fachgerichte auch ohne Einschaltung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der konkreten Normenkontrolle vorlageberechtigt waren.[75] Das BVerfG konnte nun seinerseits die obersten Gerichtshöfe um Stellungnahme bitten, wenn es dies für nötig hielt, wovon es in einigen wichtigen Normenkontrollverfahren auch Gebrauch machte.[76]

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Der Konflikt zwischen BGH und BVerfG in der Nachkriegszeit war zugleich ein inhaltlicher Konflikt um den richtigen Modus der Vergangenheitsbewältigung. Dies manifestierte sich im Beamtenurteil 1953. Es ging um die Frage, ob die Rechtsverhältnisse der Beamten 1945 erloschen waren oder fortbestanden, was u.a. für die Frage der Pensionszahlungen relevant war. Das BVerfG entschied kurz und bündig, dass „alle Beamtenverhältnisse am 8. Mai 1945“ erloschen seien und legte ausführlich dar, wie das deutsche Beamtentum im Nationalsozialismus umgebaut und zu einem Träger des Systems geworden war.[77] Mit dieser radikalen Form der Vergangenheitsbewältigung rief das Gericht seine Gegner im juristischen Establishment auf den Plan[78] und dokumentierte, dass es nicht gedachte, ein unpolitisches Gericht zu werden. Der Bundesgerichtshof reagierte prompt und sprach in einem ähnlich gelagerten Fall fünf Monate später davon, dass das BVerfG ein „geschichtliches Werturteil“ abgegeben habe.[79] Daran, dass der Bundesgerichtshof dieses Werturteil für falsch hielt, ließ er keinen Zweifel. Deutlicher hätte kaum werden können, dass es um die Interpretationshoheit über die jüngste Vergangenheit und das deutsche Selbstverständnis ging. Der BGH attestierte den Beamten auch im Nationalsozialismus, doch „in erster Linie dem Staate und seinen legitimen Aufgaben verpflichtet“ gewesen zu sein.[80] Gerade weil das Beamtenverhältnis im Kern unpolitisch sei, habe es fortbestanden. Das BVerfG blieb unbeeindruckt. 1957 verteidigte der erste Senat des BVerfG sein Beamtenurteil und wies die Beschwerde eines Gestapo-Mannes zurück.[81] Argumentativ legte es noch einmal nach und stellte klar, dass die Beamten im Nationalsozialismus doch in einem „beachtlichen Umfang“ gesetzliche Gehorsamspflicht gegenüber dem Nationalsozialismus „auch von sich aus ernst genommen und bejaht“ hätten.[82] Das BVerfG setzte gesellschaftspolitisch das zentrale Zeichen, dass eine neue demokratische Ordnung nur in radikaler Abkehr vom Nationalsozialismus wachsen könne. In dieser radikalen Form der Vergangenheitsbewältigung sind dem BVerfG später nicht alle Verfassungsgerichte gefolgt, die aus politischen Umbruchsituationen entstanden sind.[83] Das BVerfG bot dem BGH damit die Stirn und untermauerte erfolgreich seinen Autoritätsanspruch. Auf einem anderen Blatt steht, dass das Gericht die beamtenrechtliche Pflicht zur Grundgesetztreue 1975 zur Rechtfertigung von Berufsverboten heranzog.[84] Pikanter Weise war es ausgerechnet Willi Geiger, der diese Rechtsprechung als Berichterstatter forcierte.[85]

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Vergangenheitsbewältigung betrieb das BVerfG auch im Lüth-Urteil 1957. Der Entscheidung ging ein Boykottaufruf des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth bezüglich Veit Harlans Film „Die unsterbliche Geliebte“ voraus. Lüth rief zum Boykott auf, weil es sich bei Harlan um einen „Prestigeregisseur“ des Nationalsozialismus handelte.[86] Die gegen den Boykottaufruf gerichtete Unterlassungsklage hatte vor den Zivilgerichten Erfolg, woraufhin Lüth 1951 Verfassungsbeschwerde einlegte. Sechs Jahre brauchte das Gericht für den Fall, dann präsentierte es seinen großen Wurf in wenigen, aber gezielt gesetzten Worten.[87] Das BVerfG nutzte den Fall, um einerseits seine Autorität gegenüber der Fachgerichtsbarkeit zu bekräftigen und legte zugleich einen zentralen Grundstein für die Grundrechtsrechtsprechung unter dem Grundgesetz, indem es die Grundrechte als Ausdruck einer „Wertordnung“ verstand.[88] Die Meinungsfreiheit als zentraler Baustein einer solchen Wertordnung verlange eine grundrechtskonforme Auslegung des einfachen Rechts, mit der die Untersagung des Boykottaufrufs nicht vereinbar war. Rückblickend lässt sich das Urteil als zentrale Leitentscheidung der deutschen Grundrechtsdogmatik qualifizieren, die durch die weitreichende Wirkung der Grundrechte im einfachen Recht der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung den Weg bereitete.[89] Aus der zentralen Bedeutung, die das Gericht der Meinungsfreiheit im post-nationalsozialistischen Deutschland beigemessen hat, erklärt sich auch der Einfluss der im Lüth-Urteil begründeten Rechtsprechungslinie auf andere europäischen Verfassungsordnungen.[90] Dass das Lüth-Urteil aber nicht nur grundrechtliche Leitentscheidung war, sondern auch ein weiteres Stück Vergangenheitsbewältigung, belegt die scharfe zeitgenössische Kritik, die vorrangig von Vertretern vorgetragen wurde, die der nationalsozialistischen Ideologie nicht allzu fern gestanden hatten.[91] Das Lüth-Urteil markierte „die (Wieder)Geburt der Rechtsordnung aus dem Geist der Grundrechte“[92] und den vorläufigen Schlusspunkt einer bemerkenswerten Selbstermächtigung des BVerfG.[93] Dem BVerfG gelang die Quadratur des Kreises: Einerseits brach es radikal mit den autoritären Traditionen der Vergangenheit. Andererseits stellte es der demokratieskeptischen und verunsicherten deutschen Nachkriegsgesellschaft eine neue Autorität zur Verfügung, mit der sie sich identifizieren durfte, und (re-)etablierte mit dem Wertordnungsgedanken zugleich ein gemeinschaftsorientiertes Denken mit gleichfalls großem Identifikationspotential.[94]

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