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e) Die deutsche Perspektive in Europa: Europäisierung und Internationalisierung

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Die größte Herausforderung des BVerfG lag und liegt in seiner Positionsbestimmung angesichts der Europäisierung und Internationalisierung des Verfassungsrechts.[114] Bereits seit den siebziger Jahren kämpft das Gericht in diesem Kontext um den Erhalt seiner Entscheidungs- und Definitionsmacht und die Neuausrichtung seiner Rolle im Zusammenspiel mit den beiden großen europäischen Gerichten, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Die große Herausforderung des Gerichts bestand und besteht darin, seine national kaum umstrittene Autorität als Hüter von Verfassungsrecht unter der veränderten Bedingung zu verteidigen, dass das klassische Verständnis staatlicher Souveränität zunehmend an Bedeutung verliert.[115] Die Erosion dieses Grundprinzips, auf dem das Projekt der verfassungsgerichtlichen Konstitutionalisierung aufbaute,[116] kann nicht ohne Folgen für das BVerfG bleiben. Das Gericht reagierte auf die Herausforderungen der Europäisierung und Internationalisierung mit grundsätzlicher Bereitschaft zur Öffnung des Grundgesetzes gegenüber europäischem und internationalem Recht. Zugleich blieb es stets bemüht, die Kontrolle über den Umfang dieser Öffnung nicht preiszugeben.

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Nachdem das Gericht zunächst 1974 in der berühmten Solange I-Entscheidung unter Verweis auf das hohe deutsche Grundrechtsniveau die Prüfungskompetenz für die Anwendbarkeit unionsrechtlicher Vorschriften beanspruchte,[117] erkannte es zwölf Jahre später ein vergleichbares Schutzniveau auf europäischer Ebene an und suspendierte sein prinzipielles Prüfungsrecht einstweilen.[118] Entschieden war damit gleichwohl nichts. Praktisch jede große Vertragsänderung rief das Gericht, getrieben von europakritischen politischen Kräften, erneut auf den Plan. Der Grundton blieb dabei stets der gleiche: Die Vertragsänderungen sind zulässig, aber…[119] In dieses „Aber“ legte das Gericht alles, was es hatte, um sein Verständnis nationaler demokratischer Souveränität zu verteidigen. Im Maastricht-Urteil[120] betonte es 1993 die Notwendigkeit einer „vom Volk ausgehenden Legitimation und Einflussnahme innerhalb eines Staatenverbundes.“[121] Dabei meinte das Gericht vor allem die Einflussnahme durch das als homogen verstandene deutsche Volk, dessen Souveränität nicht untergraben werden dürfe.[122]

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Das große Thema der Europarechtsprechung des BVerfG blieb die Frage der Prüfungskompetenz.[123] Schon im Maastricht-Urteil war es darum gegangen, ob die Demokratiekompatibilität des Unionsrechts am Maßstab des Grundgesetzes und durch das BVerfG geprüft werden könne. Geschult in der Kunst der Selbstermächtigung nahm sich das Gericht dieses Recht, indem es das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG in einer beispielslos weiten Interpretation so auslegte, dass es eine Beschwerdebefugnis für jedermann zum Schutz der demokratischen Ordnung begründete.[124] Trotz Referenzen zur Notwendigkeit demokratischer Strukturen in Europa[125] stand hier wie selbstverständlich die demokratische Ordnung in Deutschland im Zentrum, die das Gericht mit der Entdeckung eines Prinzips souveräner Staatlichkeit in Art. 79 Abs. 3 GG noch zu verstärken suchte.[126]

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Auch gegenüber den Einflüssen des EGMR war das BVerfG zunächst zurückhaltend.[127] Legendär ist die Justizserie um Caroline von Monaco[128] und wegweisend das Görgülü-Urteil, in dem das BVerfG schließlich anerkannte, dass die Interpretation der EMRK-Rechte durch den EGMR auch bei der Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes zu beachten sei.[129] Spätestens seit dem Urteil zur Sicherungsverwahrung lässt sich von einem tatsächlichen Kooperationsverhältnis sprechen.[130]

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Die Ambivalenz, mit der das BVerfG seinen europäischen Kollegen begegnete, hält sich bis heute. Im Lissabon-Urteil entwickelte das BVerfG 2009 eine Liste von „integrationsfesten“ Bereichen, die als Kern der verfassungsrechtlichen Identität nicht der Europäischen Integration preisgegeben werden konnten und bekräftigte seine eigene Kompetenz zur ultra-vires-Kontrolle gegenüber Unionsrechtsakten.[131] Konnte man kurz darauf im Honeywell-Beschluss2010 die Tendenz erblicken, diese Kontrolle nur sehr zurückhaltend auszuüben,[132] ließ das BVerfG im Vorlagebeschluss zum OMT-Programm Anfang 2014 durchblicken, dass es sich eine strengere Kontrolle im Einzelfall durchaus vorstellen kann. In deutlichen Worten legte es seine eigene Interpretation der Kompetenzen der Europäischen Zentralbank dar und kündigte an, dem EuGH nötigenfalls die Gefolgschaft zu verweigern, wenn dieser sich der Interpretation des BVerfG nicht anschließe.[133] Ob es am Ende zu einem offenen Konflikt kommen wird oder die Vorlage tatsächlich einen konstruktiven direkten Dialog zwischen EuGH und BVerfG einleiten wird, ist noch offen.

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Diese hier auf die Grundzüge beschränkte Geschichte der verfassungsgerichtlichen Europarechtsprechung dokumentiert eine grundlegende Herausforderung des Gerichts: Die eigene Rolle im europäischen Verfassungskontext[134] neu zu bestimmen und dabei nichts von dem Glanz zu verlieren, den es gerade durch die entschlossene und wirkungsvolle Gestaltung der deutschen Demokratie nach 1945 erworben hat. Das BVerfG löst diese Aufgabe trotz der Beteuerung einer Öffnung des Grundgesetzes, ohne eine wirkliche transnationale Perspektive zu entwickeln. Ein tieferes Verständnis der Einbettung des Gerichts im europäischen Rechtsraum[135] ist kaum erkennbar. An der Entwicklung einer Konzeption demokratischer kollektiver Selbstbestimmung, die über ein nationales Volksverständnis hinausreicht, beteiligt sich das Gericht nicht. Dabei gebe es gerade hier eine große Lücke zu füllen. Aller europäischen Richterdialoge zum Trotz,[136] vermag das Gericht europäische Konflikte nur selten als solche zu begreifen, sondern verwechselt das Hüten des Grundgesetzes nur allzu oft mit dem Hüten der „deutschen“ Perspektive und souveränen Nationalstaatlichkeit, wie nicht zuletzt der Vorlagebeschluss im OMT-Verfahren dokumentiert.[137] Das Gericht steht im Bann seines Entstehungskontextes.[138] Es ist das Gericht des Grundgesetzes. Sein großes Verdienst ist es, die demokratische Verfassungsordnung im Nachkriegsdeutschland aufgebaut und ermöglicht zu haben. Sogar vom Verfassungspatriotismus ist angesichts dieser Leistungen die Rede gewesen.[139] Als Gericht des Aufbaus tut es sich jedoch schwer, wenn die Einbettung in einen neuen politischen Rahmen auch Zurückhaltung verlangt.[140]

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › II. Das aktuelle rechtliche Setting: Kammergericht – Bürgergericht – Maßstabsgericht

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