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Die neuen Staaten
ОглавлениеNach dem Ende der Zhou wurde das radiale System, in dem die wesentlichen Kommunikationslinien zwischen König und einzelnen Regionalfürsten verliefen, ersetzt durch ein dichtes Geflecht zwischenstaatlicher Beziehungen. Über 1500 Fürstentümer soll es in der Chunqiu-Zeit gegeben haben, von denen aber nur wenige große – Jin, Qi, Chu, Qin, Lu, Song, Wei, Chen, Cai, Cao, Zheng und Yan – die Politik bestimmten. Nun begannen die Stadtstaaten der Zhou-Zeit, deren Herrschaftsgebiet sich auf wenige hundert Quadratkilometer beschränkte, zu expandieren und Souveränität über große Gebiete durchzusetzen. So entstanden ausgedehnte Territorialstaaten, die ihre Grenzen nicht mehr punktförmig, sondern linear definierten und flächendeckenden Anspruch auf das Land innerhalb dieser Grenzen erhoben.
Durch ihre territoriale Expansion gerieten die Staaten der Chunqiu-Zeit in immer engeren Kontakt. Sie begannen, diplomatische Beziehungen zu pflegen, gingen geregelte Eheverbindungen ein und schlossen wechselnde Allianzen unter der Führung sogenannter »Hegemonen«. Die Tradition spricht – parallel zu den »Fünf Kaisern« – von Fünf Hegemonen, die als herausragende Persönlichkeiten der Chunqiu-Zeit gelten: Herzog Huan von Qi (reg. 685–643 v. Chr.), Herzog Xiang von Song (650–637), Herzog Wen von Jin (635–628), Herzog Mu von Qin (659–621) und König Zhuang von Chu (613–591). Sie [43]waren die Garanten einer neuen, dezentral angelegten Staatenordnung, die nicht durch Hofaudienzen und Edikte dirigiert wurde, sondern sich durch Konferenzen und Bundesschwüre regelte. Die Hegemonen waren Verteidiger der chinesischen Grenzen gegen Fremdvölker im Norden, und sie garantierten den Zusammenhalt des Staatensystems innerhalb dieser Grenzen.
Wie sich die neue Ordnung bildete, verdeutlicht die wohl berühmteste Erzählung der Chunqiu-Zeit, die des Prinzen Chong’er, des späteren Herzogs Wen von Jin. Als Sohn des Herzogs von Jin geboren, wurde er das Opfer einer Frau, Li Ji, die sein Vater im Krieg geraubt hatte. Diese femme fatale beförderte ihren eigenen Sohn durch rücksichtslose Arglist zum Thronfolger: dem Herzog mischte Li Ji Gift ins Essen, den Kronprinzen trieb sie in den Selbstmord, Chong’er konnte nur mit knapper Not einem Attentat entkommen und sich außer Landes retten. Jin versank daraufhin in Fememorden und Bürgerkrieg. Chong’er aber soll 19 Jahre auf Reisen verbracht haben und dabei in vielen Staaten mit gebührenden Ehren empfangen worden sein. Bei den nicht-chinesischen Di, in Qi, Chu und Qin war er zu Gast, bevor er nach Jin zurückkehrte, den Thron eroberte und als Herzog Wen zum mächtigsten Hegemonen der chinesischen Welt aufstieg.
Die Vertreibung des Chong’er ist einerseits charakteristisch für die Ruchlosigkeit der Zeit, andererseits symbolisieren seine Reisen das Zusammenwachsen der chunqiu-zeitlichen Staatenwelt. Die Oberschichten dieser Staaten kannten und respektierten einander. Die Kommunikation zwischen ihnen lief nicht mehr über den Königshof und machte nicht an Staatsgrenzen halt, sondern orientierte sich an den Strukturen einer weitaus größeren Gesellschaft »unter dem Himmel«.
Die Stationen von Herzog Wens Reise verdeutlichen zugleich eine Verschiebung der Schwerpunkte vom Zentrum an [44]die Peripherie. Nach dem Verfall der Zhou-Macht übernahmen nicht die zentral gelegenen Staaten der Nordchinesischen Ebene – Zhou, Zheng, Lu und andere – die politische Führung, sondern die äußeren, in denen sich neue Wirtschafts- und Herrschaftsformen zuerst entwickelten.
Qi, im Norden der Shandong-Halbinsel gelegen, war der erste dieser Randstaaten, der in eine Vormachtstellung aufstieg. Grundlage seiner Stärke war eine neue Politik, die auf planmäßiger Ausbeutung regionaler Rohstoffe, Staatsmonopolen für Salz und Eisen sowie der administrativen Neuaufteilung des Landes in zentral verwaltete Bezirke beruhte. Qi repräsentierte den neuen Typus eines rational organisierten Staates, der nicht durch den persönlichen Einfluss eines charismatischen Herrschers zusammengehalten wurde, sondern durch unpersönliche Verwaltungsmechanismen und kühle Machtpolitik. Nun wurde das Recht von der Person des Herrschers gelöst, indem erstmals Gesetze geschrieben wurden. Chu und Jin sollen schon im 7. Jahrhundert v. Chr. Kodizes eingeführt haben, und Zheng soll 536 v. Chr. Gesetze in Metall gegossen haben. Sie sind Ausdruck einer neuen, unsentimentalen Gesellschaft, die nicht mehr auf verwandtschaftliches Vertrauen baute, sondern auf allgemeinverbindliche Regeln.
Diese Gesellschaft wurde zunehmend von den Staaten Chu und Qin, am nordwestlichen bzw. südlichen Rand des alten Zhou-Gebiets, geprägt, die andere ethnische und kulturelle Wurzeln hatten als die Staaten der Mittleren Ebene. Beide offenbarten schon früh machtpolitische Ambitionen, die eindeutig auf das alte Zhou-Königtum zielten. Vor allem Chu drängte mit Macht in die Nordchinesische Ebene. Im Jahre 598 v. Chr. brachte es Jin eine entscheidende Niederlage bei und beendete dessen Hegemonie. Jetzt begann die Vorherrschaft eines Staates, dessen Herrscher sich selbst kokett »Barbaren« nannten.
[45]Doch was bedeutete das Wort in einer Zeit, in der die Roheit überall grassierte: in der Kriegsgegnern die Ohren abgeschnitten, Gefangene ermordet und ganze Familien ausgerottet wurden? Die Grenze zwischen ›Chinesen‹ und ›Barbaren‹ verschwamm, und das politische Gewicht verlagerte sich weiter nach Süden. Zwei weitere Staaten betraten dort im späten 6. Jahrhundert v. Chr. die historische Bühne, Wu und Yue, deren Kultur sich grundlegend von der chinesischen unterschied. Die Leute von Wu und Yue, die am Unterlauf des Yangzi lebten, werden als tüchtige Seefahrer beschrieben, aber auch als tätowierte Wilde, die sich die Zähne schwarz färbten und in fremden Zungen sprachen. Ursprünglich dem südostasiatischen Kulturkreis zugehörig, bildeten diese Völker nun Staaten – und kamen damit auf Augenhöhe mit den Staaten der Nordchinesischen Ebene.
Die epischen Kämpfe zwischen Chu, Wu und Yue, mit ungeheurer Leidenschaft, Rachsucht und Grausamkeit geführt, bilden einen der großen Stoffe der historischen Literatur. Jeder Chinese kennt die Geschichte König Goujians von Yue, der nach seiner Gefangenschaft in Wu zwanzig bittere Jahre lang auf Rache sann. Noch heute gilt Xi Shi als Inbegriff weiblicher Schönheit: die Frau, die dem König von Wu derart den Kopf verdrehte, dass er seinen treuen Berater Wu Zixu zum Tode verurteilte. Und jeder kennt Wu Zixus dramatische letzte Worte: »Reißt meiner Leiche die Augen aus und legt sie auf das Osttor von Wu, damit sie den Einmarsch der Truppen von Yue sehen können.«
Dreihundert Jahre nach dem Ende der Zhou hatte sich die chinesische Welt grundlegend verändert. Das Gleichgewicht der Mächte hatte sich weit nach Süden verlagert, die Zhou-Könige spielten keine Rolle mehr im Kalkül der Politik. Aus Stadtstaaten der Nordchinesischen Ebene waren große Territorialstaaten geworden, die sich bis an den Yangzi [46]erstreckten und auch die Landbevölkerung innerhalb klar definierter Grenzen integrierten. Sie hatten ihr Gebiet weit ausgebreitet und zugleich ihre Ränder geschlossen. Doch eine politische Karte reicht nicht aus, um die Umwälzungen der Chunqiu-Zeit darzustellen; die wichtigsten Veränderungen betrafen die Gesellschaftsstruktur selbst.