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Die neue Gesellschaft
ОглавлениеDie Chunqiu-Zeit fällt in eine weltgeschichtlich ungemein bewegte Epoche, die Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr., in der viele alte Kulturen parallel grundlegende Transformationen erlebten. Karl Jaspers hat sie die »Achsenzeit« genannt: das Zeitalter der Philosophen in Griechenland, der Propheten in Israel, die Epoche Buddhas und der Upanishaden in Indien sowie der klassischen Denker in China. Es war die Zeit, als der Logos den Mythos ablöste und sich die Vorstellung einer transzendenten Ordnung durchsetzte, die rigoros vom Diesseits getrennt ist. Im »mythischen Zeitalter« war die Welt noch als Einheit denkbar gewesen, in der keine klare Grenze zwischen Diesseits und Jenseits verlief und die Toten den Lebenden zur Seite standen; in der die Vergangenheit noch nicht grundsätzlich anders als die Gegenwart erschien und keine Kluft die weltliche Ordnung von der transzendenten trennte. Diese buchstäblich heile Welt zerbrach in der »Achsenzeit«.
Die Risse im mythischen Weltbild lassen sich in China seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. beobachten. Mit den sozialen Umbrüchen der Zeit scheint allererst ein Geschichtsbewusstsein entstanden zu sein: jetzt sahen die Menschen, dass die Welt einmal anders gewesen war, ja dass sie grundsätzlich anders sein konnte. Die soziale Ordnung wurde von der zeitlosen kosmischen Ordnung entkoppelt und erschien zeitgebunden; sie verlor ihre fraglose Selbstverständlichkeit und geriet in den Kontext von Alternativen. Ebenso, wie der Himmel sich von [47]den Menschen getrennt hatte, distanzierten die Lebenden sich zunehmend von den Toten. Die Ahnen boten keine Orientierung mehr. Waren sie in den Inschriften der Shang noch regelmäßig um Rat und in denen der Zhou-Zeit zumindest um Beistand gebeten worden, fertigten die Stifter ihre Bronzegefäße nunmehr »sich selbst«, ohne die Ahnen auch nur eines Wortes zu würdigen.
Parallel zur zunehmenden Kluft zwischen Lebenden und Toten strebte auch die Gesellschaft selbst an ihrer Spitze auseinander. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. wurden die Häupter von Verwandtschaftsgruppen weitab von den Friedhöfen ihrer Verwandten in separaten Grabanlagen beigesetzt, die teilweise monumentale Ausmaße annahmen. Von weithin sichtbaren Hügeln überwölbt und mit kostbarsten Bronzesätzen ausgestattet, übertrafen manche dieser Gräber sogar die der Shang-Könige an Größe und Reichtum. Die Gräber der unteren Elite dagegen hatten nichts, was auch nur annähernd an diese Prachtentfaltung heranreichte, im Gegenteil: sie wurden in Anlage und Ausstattung eher bescheidener, so dass sie sich den Gräbern der einfachen Menschen anglichen.
Offensichtlich spaltete sich die Elite in zwei klar getrennte Schichten. Waren zuvor selbst die Führer der herrschenden Verwandtschaftsgruppe lediglich primus inter pares gewesen, nahmen sie nun eine zunehmend entrückte Position ein. Gleichzeitig löste sich die Grenze zwischen niederem Adel und dem Volk auf. Waren bis dahin nur die Adligen gesellschaftsfähig gewesen, eröffneten sich nun viel breiteren Schichten Möglichkeiten der sozialen Partizipation. Die Gesellschaft der Chunqiu-Zeit gewann an Komplexität und erlebte eine nie zuvor dagewesene soziale Mobilität.
Das sinnfälligste Symbol dieser neuen Gesellschaft war ihr neuer Werkstoff: das Eisen, das sich ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. im Reich verbreitete. So, wie die Bronze das [48]Entstehen von hierarchisch gegliederten Fürstentümern markierte, setzte sich auch mit dem Eisen eine neue Gesellschaftsstruktur durch. Wenn Bronze das Edelmetall der Eliten war, der Stoff, aus dem prestigeträchtige Ritualgefäße gemacht wurden, so war Eisen vor allem das Metall der Bauern. In weitaus größeren Mengen verfügbar als Bronze, war Eisen besonders geeignet zur Herstellung von Werkzeug: Spaten, Hacken, Sicheln und vor allem Eisenpflügen, die schon im 6. Jahrhundert v. Chr. in Gebrauch kamen. Während Bauern sich zuvor mit Holz- und Steinwerkzeugen abgerackert hatten, ermöglichten diese Geräte eine weitaus intensivere Nutzung des Landes. Neue Anbaumethoden laugten den Boden nicht mehr durch Brandrodung aus, sondern ließen ihn in systematischem Fruchtwechsel regenerieren. Jetzt konnte Land dauerhaft bestellt und auf diese Weise in Besitz genommen werden: es wurde zur Kommodität.
Die Regionalstaaten begannen nun, die landwirtschaftliche Produktion gezielt abzuschöpfen: die ersten Agrarsteuern sollen im 6. Jahrhundert v. Chr. eingeführt worden sein. Geldwirtschaft und Handel breiteten sich aus. Hatte in der Zhou-Zeit noch Geschenk- und Tributwirtschaft vorgeherrscht, traten nun professionelle Händler auf, Straßen wurden gebaut, und große Städte entstanden. Archäologen haben eindrucksvolle Zeugnisse von der Urbanisierung der Chunqiu-Zeit zutage gefördert: Städte von Dutzenden von Quadratkilometern, in denen nicht mehr allein Fürsten und Adlige saßen, sondern Handwerker, Händler, Krieger und Denker zusammenkamen. Dort erschienen ganz neue Akteure auf der Bühne: Männer, die es nicht aufgrund ihrer Abkunft, sondern dank ihrer Bildung zu Ansehen und hohen Posten brachten.
Angeborene Qualitäten wurden durch erworbene ersetzt, statt durch edle Abstammung konnten sich Männer (nicht aber Frauen) durch Kompetenz für Ämter qualifizieren, die früher [49]erblich waren. Da die weltliche Ordnung auf sich selbst verwiesen war, wurden gezielte Veränderungen durch den Menschen denkbar. Die Welt wurde gestaltbar. In der Chunqiu-Zeit traten erstmals Männer mit dem Anspruch auf, die Ordnung ihrer Welt zu ändern. Der berühmteste von ihnen, dessen Einfluss weit über seine Zeit hinaus reichte, war Konfuzius.
Kongzi (551–479 v. Chr.), »Meister Kong«, oder Konfuzius, wie ihn die Jesuiten später latinisierten, steht wie kein zweiter für ein ganzes Zeitalter, dem er sogar den Namen gegeben hat: Chunqiu, Frühling und Herbst, ist der Titel der Annalen seines Heimatstaates Lu, die er geschrieben haben soll. Konfuzius repräsentiert eine Zeit des Umbruchs, in der eine neue Gesellschaft zusammenwuchs. Aus einer Adelsfamilie aus Song gebürtig, die nach Lu geflohen war, verkörpert er die neue soziale Mobilität. In Lu hatte er wohl ein niedriges Amt inne. Doch schon bald soll er seine Heimat desillusioniert verlassen und, wie ein »herrenloser Köter«, viele Jahre auf Wanderschaft verbracht haben, wobei er sich verschiedenen Regionalfürsten erfolglos als Berater andiente. Seine eigentliche Wirkung entfaltete Konfuzius als Lehrer. 3000 Schüler soll er gehabt haben, was gewiss übertrieben ist. Die meisten entstammten wohl dem niederen Adel, aber viele von ihnen, deren Namen überliefert sind, waren ausgesprochen schlichter Herkunft. Handwerker, Bauern, Händler und andere lernten bei Konfuzius, der manche von ihnen geradewegs als Rüpel charakterisierte: »Chai ist dumm, Shen ist plump, Shi ist ordinär, You ist roh.« Männer des Volkes waren das, denen sich durch den Strukturwandel der Gesellschaft nun ungeahnte Aufstiegsmöglichkeiten boten: sie konnten zu den berühmtesten und angesehensten Männern des Reiches werden – wenn sie nur Bildung erwarben.
Konfuzius lebte in einer Zeit, in der mehr denn je mit anderen Perspektiven zu rechnen war, die man anzuerkennen, [50]zumindest aber: zu kennen hatte. Was in Adelsfamilien einst durch Sozialisation vermittelt wurde, musste jetzt erlernt werden – und konnte erlernt werden, da auch weiteren Kreisen Wissen zugänglich wurde, das früher hohen Eliten vorbehalten war. All das verdichtet sich in der Person des Konfuzius. Er soll nicht nur Chinas erster Lehrer gewesen sein, sondern auch fünf Bücher redigiert haben, die alle maßgeblichen Lehren enthielten: die Wandlungen (Yijing), ein Handbuch des Schafgarbenorakels, die Dokumente (Shujing), eine Sammlung historischer Reden, die Lieder (Shijing), eine Anthologie von rund 300 Hof- und Volksliedern, die Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu), die Annalen des Staates Lu, sowie die Aufzeichnungen der Riten (Liji), ein großes Kompendium antiker Institutionen, Zeremonien und Regeln der Persönlichkeitsbildung.
Auch wenn die fünf kanonischen Schriften gewiss nicht auf ihn zurückgehen, mag Konfuzius seine Schüler tatsächlich in überlieferten Schriften unterwiesen haben. Denn er inszenierte sich als Wahrer einer altehrwürdigen Tradition, die in Vergessenheit geraten sei: die der Zhou-Könige Wen und Wu sowie des Herzogs von Zhou. Wir wissen heute, dass Konfuzius damit die erste erfundene Tradition der chinesischen Geschichte geschaffen hat, denn die gesellschaftlichen Bedingungen dafür sind erst im 9. Jahrhundert entstanden. Konfuzius brauchte diese erfundene Tradition, um Werte zu legitimieren, die in seiner Zeit neuartig waren: Moral und Anstand. Die Hauptquelle zu seiner Lehre, die Urteile und Aussprüche (Lunyu), überliefert die Frage eines seiner Schüler:
»›Gibt es ein einziges Wort, nach dem man sein ganzes Leben handeln kann?‹ Der Meister sprach: ›Doch wohl die ‚Rücksicht‘: Was du dir selbst nicht wünschst, das füge auch keinem anderen zu.‹«
(Lunyu 15.24)
[51]Die Goldene Regel ist ein Leitmotiv, das im Lunyu in verschiedenen Variationen wiederholt wird. Sie bringt das Problem des Konfuzius auf den Punkt: die Koordination von Verhaltenserwartungen. In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft, in der radikal unterschiedliche Lebensentwürfe miteinander konfrontiert wurden, bedurfte es neuer Regeln des Miteinanders. Diese Regeln verdichtet Konfuzius in den zentralen Begriffen der »Menschlichkeit« (ren) und der »Sittlichkeit« (li).
»Zhonggong (ein Schüler) fragte nach der Menschlichkeit. Der Meister sprach: ›Tritt aus der Tür, als empfingest du einen hohen Gast, leite das Volk, als vollzögest du ein großes Opfer. Was du dir selbst nicht wünschst, das füge auch keinem anderen zu: so wird in Staat und Familie kein Groll sein.‹«
(Lunyu 12.2)
Der Begriff der »Menschlichkeit«, der im Lunyu erstmals auftaucht, bezeichnete die höchste konfuzianische Tugend: die Fähigkeit, den anderen – das heißt in einer clanübergreifenden Gesellschaft: den Fremden – als einen gleichwertigen Menschen zu behandeln. War es unter den Shang noch angängig, Angehörige anderer Clans als Blutopfer darzubringen, galt jetzt: »Was du dir selbst nicht wünschst, das füge auch keinem anderen zu.«
Die Goldene Regel wird konkretisiert in den Regeln der »Sittlichkeit«, des zweiten Kernbegriffs des Konfuzius. Seitdem kommunikative Zusammenhänge die Grenzen von Familien transzendierten, bekamen Leute wie Konfuzius es zunehmend mit Fremden zu tun, deren Verhaltensmuster ihnen nicht vertraut waren: in dieser Situation wurden allgemeine Regeln des Umgangs notwendig. Je vielfältiger diese Optionen in einer wachsenden Gesellschaft wurden, desto [52]dringender wurde ein verbindlicher Comment, der wohlanständigen Umgang verbürgte.
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Der förmliche Konventionalismus der konfuzianischen Lehre, den Europäer später oft belächelt haben, ist uns durchaus nicht fremd. Auch im höfischen Leben des Spätmittelalters, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde der rechten Form allerhöchste Bedeutung beigemessen: Fragen des Vorrangs und der Standesehre, der wetteifernde Austausch von Höflichkeiten, die vornehme Zurückhaltung, selbst »alle spontanen Zärtlichkeiten des Umgangs sind in feste Formen gebracht« (J. Huizinga). Die »chinesische Unterwürfigkeit«, wie Huizinga sie nennt, war eben keineswegs chinesisch, sondern ein Korrelat der Herausbildung überregionaler Eliten.
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In Konfuzius’ Lebenszeit verschärfte sich das Problem der Integration angesichts der Aufstiegsmöglichkeiten verschiedenster Schichten. Die Manieren des alten Adels galten nicht mehr für diese neue Eliten. Nun ließen sich zivilisierte Formen nicht mehr durch den Appell an »angeborene«, also klassenspezifische Tugenden einfordern, sondern nur noch durch die Mahnung an erworbene, persönliche Tugend, mit anderen Worten: an Moral. Sitten und Moral wurden zu integrierenden Elementen der neuen Gesellschaft: erworbene Qualitäten, die entschieden im Gegensatz zu den äußeren Prestigesymbolen des Adels standen.
Konfuzius knüpfte an Werte der alten Gesellschaft an, indem er Ahnenopfern und dem Zusammenhalt der Verwandtschaftsgruppe zunächst höchste Bedeutung zumaß, die familiären Handlungsregeln aber auf das weitere soziale Umfeld übertrug: »Die Jungen sollen daheim pietätvoll sein und außerhalb respektvoll.« Aus rituellen Handlungen, die den Zusammenhalt innerhalb einer Abstammungsgruppe festigten, [53]wurden allgemeine, clanübergreifende Normen des Umgangs. Aus askriptiven Qualitäten wurden erworbene: das angeborene Charisma des Adels (de) wurde zur moralischen Tugend, die für alle verbindlich war; aus dem Fürstensohn (junzi) wurde der »Edle«, ein Status, den nun jeder erreichen konnte (ein Begriffswandel, der dem des englischen »gentleman« ähnelt). Im Wandel dieser Begriffe äußert sich die Umwertung aller Werte, die das Zeitalter des Konfuzius erlebte.
Es waren nicht die zahllosen Kriege in der Nordchinesischen Ebene, welche die bleibende Bedeutung der Chunqiu-Zeit ausmachten. Vielmehr waren es die langsamen, vegetativen Prozesse sozialen Wandels, die das Alte China unwiderruflich veränderten: soziale Mobilität und der Aufstieg unterer Schichten, territoriale Expansion, Integration von Randkulturen, landwirtschaftliche Produktionssteigerung, das Aufblühen des Handels und Wachstum von Städten, Einführung neuer Verwaltungsformen und Rechtskodizes, die Rationalisierung aller Lebensbereiche und die zunehmende Konkurrenz unter den Territorialstaaten. Diese Entwicklungen, die in der Chunqiu-Zeit begannen, sollten sich in den nächsten Jahrhunderten fortsetzen und wiederum neue Ordnungsmuster hervorbringen, die der gesellschaftlichen Komplexität gerecht wurden: die Bürokratie und das Reich.