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[24]Mythen und Vorgeschichte

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Am Anfang der chinesischen Geschichte standen Mythen: Erzählungen von Kulturschöpfern und weisen Kaisern, die vor 5000 Jahren die chinesische Zivilisation in der Nordchinesischen Ebene begründet hätten. Fuxi, der erste in der Reihe, soll Jagd, Fischerei und Viehzucht, die Ehe sowie die acht Grundzeichen des Schafgarben-Orakels erfunden haben. Sein Nachfolger, Shennong, der »Göttliche Landmann«, habe den Ackerbau, Handel und Heilkunde eingeführt, und vor rund 4500 Jahren schließlich soll Huangdi, der »Gelbe Kaiser«, fast die gesamte chinesische Zivilisation gestiftet haben: Töpferei, Schrift, Architektur, Astronomie, Kalenderwesen, Musik, Verwaltung und viele andere Kulturgüter werden ihm und seinen Ministern zugeschrieben. Der »Gelbe Kaiser« gilt bis heute als Ahnherr aller Chinesen.

Als Urväter des chinesischen Staates gelten die mythischen Kaiser Yao und Shun, Vorbilder an Tugend und Gerechtigkeit, die im 24./23. Jahrhundert v. Chr. ihr Reich nicht nur weise regiert haben, sondern ihr Amt selbstlos nicht etwa an ihren Sohn abgaben, sondern an einen Würdigen: Yao an Shun, und Shun wiederum an Yu. Dieser Yu ist als Flutenbändiger in die chinesische Mythologie eingegangen, der das Land eigenhändig vor einer Sintflut rettete. Auch China hatte also einen Flutmythos: »Ohne Yu«, heißt es in einem alten Text, »wären wir alle Fische.« Der Große Yu soll auch die erste chinesische Dynastie gegründet haben, die Xia – und mit ihr mündete der Mythos in Geschichte.

Mehr als 2000 Jahre lang hat sich diese Darstellung gehalten, bis sie im 20. Jahrhundert als mythisch entlarvt wurde: je jünger die Werke, so stellte die historische Kritik jetzt fest, desto älter die Mythen, die sie erzählten. Doch zur gleichen Zeit brachte die Archäologie Funde zutage, die alle Mythen an [25]Reichtum, Vielfalt und zeitlicher Tiefe noch übertrafen: ackerbauende Kulturen, die etwa im 7. Jahrtausend v. Chr. am Gelben Fluss und im Yangzi-Tal begannen, wildes Getreide zu kultivieren: Reis im Süden, Hirse auf den Lößböden des Nordens. Die Wiege der chinesischen Kultur stand keineswegs nur am Gelben Fluss, wie lange Zeit angenommen wurde. Ab ca. 5000 v. Chr. lassen sich sogar mindestens drei Makroregionen unterscheiden: (1) Nordchina, innerhalb dessen sich (1a) das Lößplateau am Mittellauf des Gelben Flusses und (1b) östlich davon die Nordchinesische Tiefebene sowie die Shandong-Halbinsel unterscheiden lassen; (2) Südchina mit (2a) den Gebieten am Mittellauf des Yangzi, im heutigen Hubei und Hunan, und (2b) dem Yangzi-Delta, im heutigen Jiangsu und Zhejiang; sowie (3) das Sichuan-Becken. Hinzu kommen periphere Regionen im Nordosten um den Liao-Fluss; im südlichen Küstengebiet einschließlich Taiwans sowie im Nordwesten, dem Gebiet des heutigen Gansu und Qinghai.

Die Grenzen dieser Makroregionen markierten bis weit in die Kaiserzeit hinein prononcierte kulturelle Unterschiede innerhalb der ›chinesischen‹ Welt. Im Neolithikum trennten sie weitgehend eigenständige Kulturen, die jedoch in Kontakt miteinander standen und sich in vielerlei Hinsicht parallel entwickelten. Das nacheiszeitliche Wärme-Optimum im 8.–4. Jahrtausend v. Chr. ermöglichte die Ausbreitung der Landwirtschaft gegenüber der Jagd, gesicherte Versorgung mit Nahrungsmitteln führte zu markantem Bevölkerungswachstum: neolithische Gesellschaften wurden größer und komplexer. Aus einfachen Dorfgemeinschaften wurden Ranggesellschaften mit mächtigen Eliten. Reich ausgestattete Gräber – Jadeobjekte, feine Keramik und Knochenschmuck weisen bereits auf spezialisiertes Handwerk hin –, ummauerte Städte und Fundamente von Tempeln oder Palästen zeugen von hierarchisch strukturierten Fürstentümern, deren Macht sich im [26]3. Jahrtausend v. Chr. von großen Zentren auf ganze Netzwerke von Siedlungen erstreckte.

Funde von Waffen und Skeletten deuten an, dass gegen Ende des Jahrtausends Kriege häufiger wurden. Ein empfindlicher Temperatursturz und Flutkatastrophen biblischen Ausmaßes führten zu großen Migrationen, manche Kulturen gingen von der Acker- zur Weidewirtschaft über, viele andere gingen gänzlich unter. An ihre Stelle traten bald Fürstentümer, die eine gänzlich neue Qualität hatten: in Erlitou (19.–16. Jahrhundert v. Chr., beim heutigen Luoyang) und Erligang (ca. 1600–1300 v. Chr., heutiges Zhengzhou) entstanden die ersten Hochkulturen Chinas. Die Trennung von Elite und Volk, die im späten Neolithikum begonnen hatte, wurde jetzt deutlich sichtbar. Eindeutige Machtzentren, architektonisch klar von ihrer Umgebung abgegrenzt, hatten sich herausdifferenziert: der Kult- oder Palastbezirk von Erlitou enthielt ein Fundament von 100 × 108 m Größe, und die Überreste der 7 km langen Stadtmauer von Erligang sind noch heute bis zu 9 m hoch und 40 m breit! Die Eliten von Erlitou und Erligang betrieben Fernhandel und besaßen die Macht, komplexe Arbeitsprozesse zu koordinieren: davon zeugen ihre Bauten, vor allem aber zahlreiche kostbare Ritualgefäße aus Bronze, die in äußerst aufwendigen Gussverfahren produziert wurden. Mit ihnen begann eine neue Ära der Vorgeschichte Chinas: die Bronzezeit.

Es mangelt nicht an Versuchen, die Hochkulturen von Erlitou und Erligang mit den ersten chinesischen Dynastien zu identifizieren, die in der historischen Literatur überliefert sind, den Xia (trad. 2205–1766 v. Chr.) und den frühen Shang (trad. 1766–1123 v. Chr.). Doch die archäologischen Quellen verraten uns weder den Namen dieser Zivilisation noch die ihrer Herrscher. Sie bleiben ebenso anonym wie andere Kulturen, die zur gleichen Zeit unabhängig in den Gebieten des heutigen [28]Shandong, der Inneren Mongolei, in Shaanxi, Gansu, Sichuan, Hubei und im Yangzi-Delta existierten. Wir kennen weder ihre Namen noch ihre Geschichte. Das 2. Jahrtausend v. Chr. gehört der Vorgeschichte an – mit Ausnahme einer kleinen Stadt, die um 1200 v. Chr. ins volle Licht der Geschichte trat: Anyang.

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