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Daoisten und Naturphilosophen
ОглавлениеScheinbar abseits vom Getriebe der zhanguo-zeitlichen Welt entstand die wohl faszinierendste und radikalste Lehre, die China je hervorgebracht hat: der Daoismus (in anderer Umschrift: Taoismus). Sie geht zurück auf ein Buch, das nie hätte geschrieben werden sollen: das Daode jing. Dieser knappe Text von 5000 Zeichen wird einem historisch nicht fassbaren Mann namens Laozi, »Meister Lao« (mit anderem Namen: Li Er) zugeschrieben. Die Legende sagt, dass erst ein Zöllner, der Laozi bei seiner Reise über die Berge nach Westen anhielt, ihm die Niederschrift abgerungen habe.
Auch der Zentralbegriff des Daode jing, »Dao«, hätte nicht benannt werden sollen. Er ist lediglich eine Verlegenheitslösung, um das eigentlich unbenennbare Weltprinzip zu bezeichnen. »Ein Dao, das benannt werden kann, ist nicht das ewige Dao«, lautet der erste Satz des Daode jing. Jede Bezeichnung wird nur durch Unterscheidung von einer anderen [70]sinnvoll – da das Dao aber allumfassend ist, ist es von nichts zu unterscheiden. Es ist durch Sprache nicht fassbar, sondern orientiert sich an seiner eigenen Natur – und ebendas sollten auch die Menschen tun. Im Daode jing wird nicht weniger vorgeschlagen als die Rückentwicklung der Gesellschaft in einen »natürlichen«, undifferenzierten Urzustand:
»Klein sei das Land, das Volk gering an Zahl. Und gibt es noch so viele Werkzeuge, man gebrauche sie nicht! Lasst das Volk die Toten respektieren und nicht weit reisen! Selbst wenn es Boote und Wagen gibt, man besteige sie nicht; selbst wenn es Schilde und Waffen gibt, man setze sie nicht ein. Lasst die Menschen wieder Knoten knüpfen und (statt Schrift) benutzen. Lasst sie Geschmack an ihren Speisen finden, Schönheit in ihrer Kleidung, Ruhe in ihren Hütten und Freude an ihren Gebräuchen. Die Nachbarstaaten mögen in Sichtweite liegen, das Bellen ihrer Hunde und Gackern ihrer Hühner hörbar, und doch verkehren ihre Menschen nicht miteinander, bis sie Alters sterben.«
(Daode jing 80)
Dies ist das Ideal einer segmentären Gesellschaft, die keine gruppenübergreifende Kommunikation kennt, keine Reisen, keinen Handel, keine Schrift. Alle Entwicklungen seit der Rituellen Revolution sind damit zurückgenommen. Die Dorfgemeinschaft genügt sich selbst, findet »Freude an ihren Gebräuchen«, ohne komplexer Sitten und Maßregeln für den Umgang mit Fremden zu bedürfen. All diese Tugenden entlarvt das Daode jing als pathologische Erscheinungen einer dekadenten Welt:
»Wenn das große Dao verlorengeht, entstehen Güte und Rechtschaffenheit. Wenn Wissen und Klugheit aufkommen, entsteht Betrug. Wenn die Verwandtschaft nicht mehr [71]harmoniert, entstehen Liebe und Pietät. Wenn der Staat in Wirren und Chaos versinkt, entstehen loyale Minister.«
(Daode jing 18)
Daher der Rat:
»Schafft die Weisheit ab und verwerft die Klugheit, so wird das Volk hundertfach profitieren! Schafft die Menschlichkeit ab und verwerft die Rechtschaffenheit, so wird das Volk zu Liebe und Pietät zurückfinden!«
(Daode jing 19)
Die schillernd-vieldeutigen Aussprüche des Daode jing vermögen noch in unserer Zeit, wiewohl oft auf das Format von Kalendersprüchen reduziert, weite Kreise zu begeistern. Hunderte Übersetzungen dieses Büchleins in westliche Sprachen gibt es, die oft himmelweit voneinander abweichen; und doch geben sie vor, so etwas wie die »ewige Weisheit« Chinas zu vermitteln. Wie zeitgebunden der Text tatsächlich war, zeigt schon die eben zitierte Passage, die sich unschwer als Polemik gegen die konfuzianische Schule erkennen lässt. Gerade die vehemente Ablehnung all ihrer Werte zeigt, wie tief das Daode jing in die Gedankenwelt der Zhanguo-Zeit verstrickt ist. Selbst das »Nichttun« (wuwei), in der modernen Esoterik-Literatur zum zeitlos gültigen Ideal des quietistischen Lebens im Einklang mit der Natur stilisiert, war eine Polemik gegen konkurrierende Entwürfe und ein Ratschlag an den Herrscher. Es geht, wie bei allen Lehren des Altertums, um die Ordnung der Gesellschaft durch Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten. Im »Nichttun« findet dieses Prinzip seinen radikalsten Ausdruck.
Konsequenter als das Daode jing distanziert sich das zweite Hauptwerk des Daoismus, die Textsammlung des Zhuangzi, vom Treiben der Welt. Sein mutmaßlicher Autor, Zhuang [72]Zhou (4. Jh. v. Chr.?), wälzte sich nach eigenem Bekunden lieber wie eine Schildkröte im Schlamm, als ein Amt anzunehmen. In einem literarischen Meisterwerk spottet er bald ironisch, bald lyrisch, in gewitzten Dialogen oder phantasievollen Parabeln aller weltlichen Ambitionen. Herrschaft ignoriert er, verachtet Bücher, verhöhnt die Konfuzianer und macht sich über andere Denker lustig. Zhuang Zhou beargwöhnt jedwedes Streben nach Erkenntnis. Wollte man Zhuang Zhous Lehre – was er selbst nie getan hätte – auf einen Nenner bringen, so wäre es die Skepsis. Er bezweifelt die grundsätzliche Möglichkeit der Erkenntnis, die sprachlich vermittelt ist. Denn die Kategorien der Sprache und ihre Unterscheidungen – ›dieser‹ und ›jener‹, ›wahr‹ und ›falsch‹ – sind artifiziell und perspektivisch gebunden. Sprache verweist nur auf Sprache, sie verstellt den Zugang zur Realität. Zhuang Zhou lehrt, die Kategorien der Sprache zu überwinden, mehr noch: alle Gegensätze als Illusion zu entlarven, sogar die zwischen Leben und Tod sowie verschiedenen Formen des Seins:
»Einst träumte Zhuang Zhou von einem Schmetterling: einem munteren Schmetterling, vergnügt und zufrieden, der nichts von Zhou wusste. Plötzlich wachte er auf und war schlagartig wieder Zhou. Nun wusste er nicht, ob Zhou geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder ob der Schmetterling träumt, er sei Zhou […].«
(Zhuangzi 2)
Nur wer alle Unterscheidungen ignoriert, das ist Zhuang Zhous Lehre, wer hinter die Fassade des Scheins und der Sprache blickt, findet zum undifferenzierten, unbenennbaren Einen, das den »Zehntausend Dingen« zugrunde liegt: zum Dao.
Das Weltprinzip des Dao ist jenseits aller esoterischen Verklärung äußerst aufschlussreich: denn es setzt einen Begriff der Welt voraus. Einen solchen Weltbegriff, der den [73]universalen Zusammenhang aller Dinge ausdrückt, hatte es im Alten China zuvor nicht gegeben; er wäre schlicht nicht denkbar gewesen in einer Gesellschaft, die auf kleinräumige Verwandtschaftsgruppen oder exklusive Adelszirkel begrenzt war. Erst in der Zhanguo-Zeit, als sich die Grenzen der Gesellschaft öffneten, weitete sich auch der geistige Horizont, um die Vorstellung einer Welt zu umfassen. Die Vielfalt der Staaten und Sitten, die jetzt sichtbar wurde, forderte zum Nachdenken darüber auf, was die übergeordnete Einheit der Welt ausmache. Grandiose Kosmologien wurden jetzt entwickelt. Konzepte wie das qi, Yin und Yang oder die Fünf Wandelphasen sollten – ähnlich den Überlegungen der Vorsokratiker – erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Diese Theorien sollten weite Bereiche der chinesischen Kultur über mehr als 2000 Jahre prägen. Der Begriff qi bezeichnet die immaterielle Lebenskraft, die in allen Dingen ist und dem Sein zugrunde liegt. Seine Bewegung erhält dieses Sein jedoch erst durch die komplementären Kräfte Yin und Yang, die in allen Erscheinungen wirken. Yin, das weibliche, dunkle, kalte, schwache, und Yang, das männliche, helle, warme, starke, sind paradigmatisch für alle denkbaren Dualitäten, das heißt: für die Welt. »Ein Yin, ein Yang, das ist das Dao.« Diese Lehre verband sich in der Zhanguo-Zeit vor allem mit dem Buch der Wandlungen (Yijing). Um nicht weniger als zehn Kommentare ergänzt, war es von einem Orakelbuch zu einem kosmologischen Kompendium angewachsen. Seine 64 Hexagramme wurden als Kombinationen von Yin- und Yang-Linien verstanden, die einen Zustand ausdrücken und zugleich eine Tendenz des Wandels.
Ein gleichermaßen dynamisches Weltbild entwickelte auch die Theorie der Fünf Wandelphasen – Erde, Holz, Metall, Feuer, Wasser –, die durch ihre gegenseitige Ablösung den Lauf der Welt und zugleich ihre Struktur bestimmen. Mit ihnen [74]verband sich allmählich ein allumfassendes System von Korrelationen, in denen sämtliche Bereiche des Seins einem Element zugeordnet wurden: Jahreszeiten, Himmelsrichtungen, Staaten, Farben, Organe, Geschmäcker, Ämter und vieles mehr. Die folgende Tabelle gibt nur einige Beispiele.
Die Welt wurde in fünf Kategorien aufgeteilt. Die korrelative Kosmologie war eine Reaktion auf die achsenzeitliche Teilung der Welt: je schärfer die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz sich konturierte, desto klarer wurden die Gesetzmäßigkeiten definiert, die für alle Bereiche des Seins gleichermaßen galten. Je unsicherer die Ordnung der Welt, desto bestimmter wurde nun festgelegt, welcher Platz einem jeden Ding naturgemäß zukommt.
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Auch in Europa waren Korrespondenzlehren lange sehr einflussreich. Die gesamte Astrologie seit den Griechen basierte auf Lehren, die Himmelskörper mit bestimmten Eigenschaften korrelieren: Venus wird bei Rhetorios assoziiert mit Feuchtigkeit, weißer Farbe, fettigem Geschmack, Liebe, Lachen, Gelagen, schöner Gestalt, Musik, Priestern, der Nase usw. Ebenso wurden in der Alchimie und Magie gelehrt, »wie die ganze sublunarische Welt und was sich auf ihr befindet, den Planeten zugeteilt ist« (Agrippa von Nettesheim). Erst mit dem Verfall der Alchimie im 16. Jahrhundert und vollends mit der Aufklärung wurde [75]die Denkfigur der Korrespondenz vom allesbeherrschenden Gedanken der Kausalität verdrängt – und das ›chinesische Denken‹ erschien auf einmal ›unlogisch‹.
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Die Auswirkungen dieser Denkfigur auf die gesamte chinesische Tradition können gar nicht überschätzt werden. Die Korrelationslehre wurde zur Grundlage der chinesischen Medizin, die Suche nach gesetzmäßigen Zusammenhängen regte naturkundliche Forschung und Erfindungen an, wie sie in der vormodernen Welt einzigartig waren, und der Gedanke der kosmischen Harmonie hat chinesische Denker mehr als zwei Jahrtausende lang beschäftigt. Er war die rationale Ausformung der magisch-archaischen Weltsicht, die seit der Rituellen Revolution aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt, aber nie vollständig ersetzt wurde. Im Hintergrund wirkte sie fort und prägte den Alltag stärker, als die überlieferte Literatur es ahnen lässt. Denn Textfunde in Gräbern legen nahe, dass Astrologie, Weissagungen, Medizin, Kosmologie, Exorzismen und magisch-okkulte Praktiken die alten Chinesen im Alltag weitaus mehr bewegt haben als Fragen der Riten und Staatsordnung. Am Kaiserhof der Han waren Wahrsager, Alchimisten, Geomanten und Exorzisten Legion; die »apokryphe« Literatur der Zeit ist voller Spekulationen über das Zusammenwirken von Yin und Yang, Himmel und Menschen; und von den größten Denkern Chinas sind Gebete um Regen, zur Abwendung von Finsternissen oder zur Anrufung von Geistern überliefert. Allenthalben wirkte die Vorstellung eines direkten Wirkzusammenhangs zwischen Diesseits und Jenseits: auch nach der Achsenzeit war die Welt voller Geister. Unser Bild von den ›rationalen‹ Chinesen beruht allein auf der Selbstdarstellung einer dünnen Oberschicht.