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Die Rituelle Revolution

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Etwa ein Jahrhundert nach dem Sieg der Zhou über die Shang begann ein sozialer Strukturwandel, der schließlich zum Zusammenbruch der Zhou-Herrschaft und zur Entstehung einer völlig neuen Gesellschaft führte. Und doch berichtet kein überlieferter Text, keine schriftliche Quelle auch nur ein Wort von diesen radikalen Umwälzungen. Wir kennen sie nur aus den Spuren, die sie in der Bronzekultur hinterließen, besonders in bronzenen Ritualgefäßen.

Die Zhou hatten zunächst die Bronzekunst der Shang übernommen: Sätze von Wein- und Speisegefäßen für [36]Ahnenopfer, meist versehen mit tierförmigem, fein gearbeitetem Dekor. Diese Sätze veränderten sich im 9. Jahrhundert v. Chr. grundlegend. Alte Gefäßtypen der Shang – darunter die meisten Weingefäße – verschwanden aus dem Repertoire, dafür tauchten neue auf; die Formen wurden wuchtiger und gröber, der Dekor geometrisch und repetitiv. Ebenso repetitiv wurden nun auch die Gefäßsätze. Statt aus Kombinationen von Einzelstücken bestanden sie nun aus Sätzen gleichartiger Gefäße, die weniger durch individuelle Details wirkten als durch imposante Größe.

Dieser umfassende Formwandel lässt auf eine grundlegende Änderung des Rituals im Ahnenkult schließen, auf eine »Rituelle Revolution«, in deren Zuge die intimen, ekstatischen Praktiken der Shang durch distanziertere, nüchternere Rituale ohne unmittelbare Einbeziehung der Gemeinde abgelöst wurden. Die neuen Gefäße waren dazu geschaffen, aus der Distanz betrachtet zu werden; auch wurden sie nicht mehr exklusiv den Toten geweiht, sondern nahmen zunehmend den Charakter von Erbstücken an, die »Kindeskindern und Enkelsenkeln« gewidmet wurden. Die Toten schienen sich von den Lebenden zu entfernen; statt ihrer traten nun die Gemeinschaft und ihre Rituale ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die Umgestaltung der Riten war Ausdruck eines Strukturwandels, der die gesamte Zhou-Gesellschaft erfasste. Schon im späten 10. und frühen 9. Jahrhundert begannen die Verwandtschaftsverbände der Regionalfürsten, deren Größe kontinuierlich gewachsen war, sich in eigenständige Unterlinien aufzuspalten, die wiederum hierarchisch strukturiert waren. Die Gesellschaft wurde komplexer, Abstufungen differenzierter, und offensichtlich wurde es immer wichtiger auszudrücken, wo man in dieser Rangfolge stand. Denn die Anzahl der Gefäße in den standardisierten Sätzen drückte offenbar den Rang des Verstorbenen aus: hohe Würdenträger erhielten [37]neun Dreifüße und acht Kessel, die Nächstfolgenden sieben und sechs, die Herrscher von regionalen Fürstentümern fünf und vier usw.

Diese Sätze, die sich offenbar binnen kurzer Zeit als Standard etablierten, bildeten soziale Hierarchien ab und bewirkten, dass diese über den Rahmen der Verwandtschaftsgruppe hinaus vergleichbar wurden. Dadurch wurden Regionalfürsten und Würdenträger am Hof erstmals als homogene soziale Schicht identifizierbar: jetzt konnte man von einem Adel sprechen. Damit scheint sich die Zhou-Gesellschaft von einer primär segmentären, an Verwandtschaftsgruppen orientierten, zu einer stratifizierten Gesellschaft gewandelt zu haben. Jetzt konnten Adlige über Clangrenzen hinweg von gleich zu gleich kommunizieren, untereinander heiraten und sich als Gruppe von ihren nicht-adligen Verwandten absetzen. »Innerhalb der Vier Meere« – gemeint sind die Grenzen Chinas – »sind alle Brüder«, formulierte später ein Konfuzius-Schüler, und zwar unabhängig von Blutsverwandtschaft.

Durch die Ausweitung des kommunikativen Zusammenhangs entstand eine völlig neue Gesellschaft, die nicht etwa auseinanderfiel, wie es die traditionelle Geschichtsschreibung will, sondern zusammenwuchs; die nicht auf den Rahmen des Clans begrenzt war, sondern weit darüber hinausging. Um es auf den Punkt zu bringen: erst durch die clanübergreifende Interaktion von Oberschichten und das damit verbundene Gefühl der Zusammengehörigkeit entstand – China. Die neue Gesellschaft, die man nun mit guten Gründen »chinesisch« nennen kann, war nicht mehr durch Verwandtschaftsgruppen definiert, sondern durch Eliteschichten. Mit der Stratifizierung der Gesellschaft verschärfte sich die Trennung von Hochkultur und Volkskultur: während diese regionalen und familialen Strukturen verhaftet blieb, vereinte jene die verschiedenen Regionalfürsten in der Ökumene »unter dem Himmel«.

[38]Der »Himmel«, der über diesem Herrschaftsverbund stand, war nicht mehr der lebensnahe Stammesgott der Zhou, sondern ein universaler Gott, der sich um den gesamten Herrschaftsverbund sorgte: er wurde transzendent, die unerreichbare Spitze der stratifizierten Ordnung. Erst damit wurde die Vorstellung vom »Mandat des Himmels«, das einem würdigen Herrscher verliehen und wieder entzogen werden kann, sinnvoll. Auch wenn dem Konzept traditionell ein höheres Alter zugeschrieben wird, dürfte es wohl kaum vor der Rituellen Revolution entstanden sein. Die neue Gesellschaft schuf sich ihren Gott und zugleich eine angemessene Theorie politischer Legitimation.

Das neue Staatensystem »unter dem Himmel« war größer und anonymer als das familiäre Königtum der frühen Zhou; es erforderte ganz neue Formen der Organisation. So bildeten sich ab dem 10./9. Jahrhundert offenbar Ansätze einer Bürokratie heraus. Die Zhou-Könige stützten sich fortan weniger auf persönliche Beziehungen als auf Beamte und eine Verwaltung, die zunehmend auf Schriftstücken beruhte. Nun wurden amtliche Schreiber immer wichtiger. Auch das Militär scheint im Sinne einer Professionalisierung umstrukturiert worden zu sein; und es bildeten sich neue Formen von Landbesitz heraus: alte Territorien wurden zerteilt, Land wurde käuflich und das Recht auf Land einklagbar. Die veränderte Struktur einer Gesellschaft, die enge verwandtschaftliche Grenzen transzendierte, erforderte die Entwicklung allgemeiner und von der Person abstrahierter Regeln des Umgangs, wie sie für die spätere chinesische Gesellschaft so kennzeichnend waren.

Dieser neuen, ›chinesischen‹ Gesellschaft gehörte keineswegs jeder Einwohner des Landes an, sondern nur die Elite. Eine gewaltige Kluft trennte die Oberschicht mit ihren Bronzen, Palästen und verfeinerten Ritualen vom Volk, das buchstäblich noch in der Steinzeit lebte: das in Höhlen und [39]Erdlöchern hauste und die Äcker mit primitiven Stein- und Holzwerkzeugen bebaute. Wir wissen fast nichts von diesen Menschen. Sie bleiben unsichtbar und stumm, ohne Stimme in der Gesellschaft. Sie nahmen in keiner Weise an Entscheidungen oder bewahrenswerter Kommunikation teil; nur in ihrer ökonomischen Funktion, gleichsam als Ressource, waren sie in die Gesellschaft integriert.

Gesellschaftsfähig war, wer einen Adelstitel trug und – bezeichnender noch – wer Schrift benutzte. War Schrift bis dahin Sache von Spezialisten am Königshof gewesen, wurde dieser Exklusivanspruch von den Regionalfürsten jetzt zunehmend untergraben: lokal verfasste Inschriften und selbstbewusste genealogische Texte zeugen davon, dass Würdenträger und Regionalfürsten sich die Schrift als Kommunikationsmedium aneigneten. Die Ausbreitung der Schrift dürfte die entscheidende Voraussetzung dafür gewesen sein, dass Oberschichten nicht nur mit den Zhou-Königen, sondern auch untereinander regelmäßig und dauerhaft kommunizieren konnten. Es ist also wahr: die chinesische Kultur entstand mit der Schrift. Doch nicht die Erfindung der Schrift im 13. Jahrhundert v. Chr. ist das entscheidende Datum, sondern ihre Ausbreitung rund 400 Jahre später. Damit wurde Schrift nicht nur zum äußeren Zeichen, sondern zur Bedingung der Möglichkeit einer chinesischen Identität.

Die Entstehung der Adelsgesellschaft bedeutete das Ende der alten Welt. In der Mitte des 9. Jahrhunderts wurde die Macht der Zhou-Könige immer geringer. Sie hatten den Status heiliger Unantastbarkeit eingebüßt und gerieten mehr und mehr unter den Einfluss der Adligen: sogar in die Thronfolge der Zhou sollen sie sich eingemischt haben. 842 v. Chr., so will es eine Überlieferung, trieben einige Adlige den Zhou-König Li durch einen Putsch ins Exil und führten in den folgenden 14 Jahren die Regierung. Dieses Jahr, 842 v. Chr., ist das [40]früheste gesicherte Datum der chinesischen Geschichte. Sollte man nicht sagen: die chinesische Geschichte begann 842 v. Chr.? Das Datum markiert das selbstbewusste Zusammenwachsen der Fürstentümer Nordchinas und das Ende der alten Ordnung der Zhou. Auch wenn die Dynastie unter dem starken König Xuan (827–782 v. Chr.) noch einmal militärische Erfolge erzielte, war ihr Niedergang nicht mehr aufzuhalten.

In dem Maße, in dem sich die Vorstellung einer chinesischen Zusammengehörigkeit durchsetzte, verfestigte sich auch ihr Gegenbild. Als im 9. Jahrhundert erstmals Steppenvölker mit Kavallerie in das Gebiet der Zhou eindrangen, die den trägen Streitwagen der Zhou weit überlegen war, trat die grundsätzliche Andersartigkeit dieser Völker deutlicher denn je vor Augen. Ihre Namen – Rong, Yi, Man u. a. – nahmen einen zunehmend verächtlichen Klang an: »Barbaren«. Diese Völker gehörten nicht zu »China«. Sie hatten den einschneidenden Wandel von der segmentären zur stratifizierten Gesellschaft nicht vollzogen und lebten weiter in Stämmen organisiert. Während in der alten Gesellschaft alle außerhalb des eigenen Clans fremd erschienen, ob sie Hua oder Rong hießen, wurden die ›Barbaren‹ nun zum Inbegriff des emphatisch Anderen. Sie kleideten sich anders, lebten anders, sprachen anders und verfügten nicht über Schrift. Die Alterität der ›Barbaren‹ dürfte geradezu Voraussetzung für die Identität der »Chinesen« gewesen sein.

Die chinesische Tradition hat die komplexen Entwicklungen, die zum Untergang der Zhou führten – Machtverlust der Zhou-Könige, Eigenständigkeit der Regionalfürsten und Bedrohung von außen –, in einer Anekdote verdichtet, die zur Zeit des letzten Zhou-Königs, You (781–771 v. Chr.), spielt. Schuld war der unheilvolle Einfluss einer schönen Frau, Bao Si, die König You derart bestrickte, dass er jegliche politische Vernunft fahrenließ. Um sie, die nie lachte, zu amüsieren, ließ er mutwillig falschen Alarm geben, indem er Warnfeuer [41]entfachen ließ, die einen feindlichen Angriff anzeigten. Die Truppen der Regionalfürsten marschierten artig zur Verteidigung auf, nur um festzustellen, dass sie genasführt wurden – und über diesen Anblick soll Bao Si tatsächlich gelacht haben. Doch als kurz darauf die Rong, ein Reitervolk aus dem Westen, allen Ernstes die Zhou angriffen, kam trotz lodernder Alarmfeuer niemand der Dynastie zu Hilfe. Im Jahr 771 v. Chr. eroberten die Rong die Hauptstadt, brachten König You um, vertrieben seine Anhänger und beendeten damit nach weniger als drei Jahrhunderten die Herrschaft der Zhou in Nordchina.

Die Zhou-Könige waren nie mehr Herrscher über ein Königtum, sondern nur mehr Regionalfürsten im Gebiet um Luoyang. Bis zur endgültigen Auslöschung ihrer verbliebenen Domäne im Jahre 256 v. Chr. spielten sie keine Rolle mehr in der Geschichte. Auch wenn die traditionelle Geschichtsschreibung von der »Östlichen Zhou« spricht – die Herrschaft der Zhou endete im Jahre 771 v. Chr. Die neue Gesellschaftsstruktur, die sich mit der Rituellen Revolution angekündigt hatte, gekennzeichnet durch Stratifizierung, Verbreitung von Schrift und einheitliche Riten, sollte sich in den nächsten Jahrhunderten weiter ausprägen und neue Ordnungsmuster schaffen.

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