Читать книгу Kleine Geschichte Chinas - Kai Vogelsang - Страница 7
Die Shang
Оглавление1899 ereignete sich eine wissenschaftliche Sensation. Chinesische Paläographen entdeckten auf alten Tierknochen, die üblicherweise pulverisiert als Medikament verwendet wurden, eine bislang unbekannte Frühform der chinesischen Schrift. Bald erwies sich, dass die Knochen – Brustpanzer von Schildkröten bzw. Schulterblätter von Rindern – vor Jahrtausenden zur Orakelnahme verwendet worden und mit Protokollen dieser Zeremonien beschrieben waren. Sie verzeichnen Daten der Orakelbefragung, die Fragen selbst, oft auch die Antworten – und Namen der Beteiligten. Auf den Knochen ließen sich Namen von Königen der Dynastie Shang identifizieren, die zwar aus der alten Literatur bekannt waren, deren Existenz im frühen 20. Jahrhundert jedoch als höchst zweifelhaft galt. Nun wurden sie historisch fassbar.
Der Herkunftsort der »Drachenknochen« war bald ausgemacht: Anyang im nördlichen Henan, wo die Shang ca. 1250 v. Chr. ein politisch-religiöses Zentrum gegründet hatten. Als im Oktober 1928 schließlich systematische Ausgrabungen in Anyang begannen, kamen nicht nur Zehntausende beschriebener Knochen zum Vorschein, sondern eine ganze neue Welt. Auf einem Gebiet von 30 km2 fanden sich Reste von Wohnungen, Werkstätten, ein Palastbezirk, über 2500 Opfergruben, bronzene Streitwagen, kostbare Schnitzereien aus Knochen, Elfenbein und Jade sowie Hunderte von prachtvollen Bronzegegenständen. Alles in Anyang erschien größer und prächtiger [29]als je zuvor. Den spektakulärsten Fund aber bildete eine Nekropole mit dreizehn gewaltigen Grabanlagen, deren größte sich den letzten neun Königen der Shang zuordnen ließen, die in Anyang residierten: kreuzförmige, 10–13 m tiefe Gruben mit großen Grabkammern, zu denen vier lange Rampen hinabführten. Das größte dieser Gräber misst inklusive Rampen 66 × 44 m! Der Arbeitsaufwand, diese Gruben auszuheben und Schicht um Schicht wieder aufzufüllen, muss ungeheuer gewesen sein.
Die Gräber waren allesamt längst geplündert; doch das unversehrte Grab einer königlichen Gemahlin gibt eine Vorstellung davon, welche Schätze die Shang ihren verstorbenen Herrschern mitgaben. Dieses Grab enthielt Hunderte Knochen- und Jadeschnitzereien, Elfenbein und Edelsteine, Schmuck und Waffen, 7000 Kaurimuscheln, 755 Jadestücke – die größte Sammlung, die je gefunden wurde – sowie 468 Bronzen mit einem Gesamtgewicht von 1600 kg. Der Reichtum und die Feinheit der Objekte aus diesem und anderen Gräbern sind überwältigend. Die Shang waren Meister der Schnitzerei, und ihre bronzenen Ritualgefäße sind die eindrucksvollsten Monumente des alten China, die auf uns gekommen sind.
Wie schon neolithische Funde bezeugen auch die kunstvollen Bronzen und die zahllosen Knocheninschriften der Shang vor allem eins: die alles beherrschende Rolle der Religion. Das Heilige war immer und überall. Die Shang verehrten eine schwindelerregende Vielzahl von Göttern: Wind, Regen, Donner, Blitz, Sonne und Mond, Flüsse und Berge, die Erde, die vier Himmelsrichtungen und offenbar auch einen höchsten Gott, Di, der über die anderen Mächte gebot. Vor allem die Ausmaße des Ahnenkults, welche die Knocheninschriften der Shang verraten, sind frappierend. Die Shang-Könige vollzogen Dutzende verschiedener Rituale für über hundert Ahnen, von kürzlich Verstorbenen bis zu den fernsten Vorvätern. [30]Rauschhaft-ekstatische Zeremonien müssen das gewesen sein, bei denen Fleisch, Blut, Getreide oder »Wein« (eigentlich ein bierähnliches Gebräu aus Hirse) geopfert wurden, während ein Medium sich in Trance tanzte, um Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen. Zu allen erdenklichen Dingen befragten die Shang ihre Ahnen: zu bevorstehenden Ernten, Ritualen, Jagdausflügen, Kriegen und Geburten, zu Krankheiten, Träumen, astronomischen Erscheinungen, Bauvorhaben und immer wieder zum Wetter.
Bei alledem pflegten die Shang nahezu geschäftsmäßigen Umgang mit den Ahnen. Bisweilen feilschten sie regelrecht mit ihnen, indem sie ein kleines Opfer boten und für den Fall der Erfüllung ihres Wunsches ein größeres in Aussicht stellten: »Für diesen Exorzismus opfern wir Vater Yi drei Rinder und versprechen nach Erfüllung 30 Kriegsgefangene und 30 Schafe«. Solche Praktiken rücken die Religion der Shang in die Nähe der Magie, bei der es nicht um demütige Anbetung geht, sondern um Gunstbewerbung und Beeinflussung der Geister zu eigenen Zwecken. Offensichtlich waren die Götter der Shang keineswegs transzendent, sondern allgegenwärtiger Teil der Menschenwelt, in die sie unmittelbar einzugreifen vermochten. Die Welt der Shang war noch nicht rational und entzaubert, sie war magisch.
Diese Welt erscheint archaisch und fremd. Nirgends wird das so deutlich wie an den grausamen Menschenopfern, die die Shang ihren Göttern machten. Hekatomben von geopferten Menschen hat man an den Stätten der Shang gefunden, geschlachtet wie Vieh, geköpft oder verstümmelt und anonym begraben in den Fundamenten ihrer Tempel oder den Gräbern ihrer Fürsten. Allein die Orakelinschriften verzeichnen insgesamt 13 000 Menschenopfer, die meisten davon Kriegsgefangene der Qiang, eines fremden Stammes aus dem Westen. Offenbar waren die Qiang in den Augen der Shang gar keine [31]Menschen. Mit ihnen konnten sie nicht einmal kommunizieren: sie waren unverständlich, feindlich, vogelfrei.
Die Ethnologie kennt viele Stämme oder »Kulturen«, die nur sich selbst als »Menschen« anerkennen und Stammesfremde als Feinde, mehr noch: als subhumanes Jagdwild behandeln. Und auch die Shang-Könige in Anyang waren in erster Linie Herren eines Clans, die ihren Einflussbereich durch Belehnungen und Heiratsverbindungen erweiterten. An den Grenzen der Clan-Zugehörigkeit, zugleich Grenzen sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten, endeten Menschlichkeit und Moral der Shang: ein allumfassendes Bild vom Menschen oder universell gültige Moralvorstellungen konnten sie nicht entwickeln.
So beschränkt der moralische Horizont der Shang war, so gering war auch der politische Einfluss ihrer Könige. Ihr Gebiet – ein dünnes Netzwerk von Wegen und Siedlungen – war kaum größer als wenige hundert Quadratkilometer, die maximale Fläche, die sich bei den damaligen Kommunikations- und Verkehrsmöglichkeiten kontrollieren ließ. Auch wenn es bisweilen so dargestellt wird – die Shang waren nicht gleich China. Sie waren lediglich eine Regionalmacht, neben der es weitere eigenständige Gesellschaften gab.
Spektakuläre Überreste einer ganz anderen Kultur wurden in den 1980er Jahren in Sanxingdui, nördlich von Chengdu (Sichuan) gefunden, mehr als 1000 km entfernt von Anyang: die Mauer einer großen Stadt mit Fundamenten palastartiger Anlagen, die etwa zeitgleich mit Anyang besiedelt war. Dort fanden sich zahlreiche Gegenstände aus Jade und Gold, Elefantenstoßzähne, Kaurimuscheln und Hunderte von Bronzen, wie sie nie zuvor gesehen worden waren: eine mit Blattgold belegte Menschenmaske etwa, eine wuchtige Göttermaske von 82 × 77 cm Größe, eine 2,6 m hohe Menschenfigur, die einen Elefantenzahn hielt, und bis zu 4 m hohe Bronzebäume. In [32]Sanxingdui blühte zeitgleich mit den Shang eine eigenständige Hochkultur, nicht weniger zivilisiert als ihre Nachbarn im Norden.
Lediglich eine Kulturtechnik hatten die Shang all ihren Zeitgenossen voraus, und dieser verdanken sie ihre historische Prominenz: der Schrift. Kaum früher als 1250 v. Chr. erfunden, tritt uns Schrift erstmals auf den Orakelknochen in Anyang entgegen: völlig anders als die heutige und nur von Spezialisten zu entziffern, aber doch klar erkennbar als chinesische Schrift. Über 200 000 Inschriften auf Bauchpanzern von Schildkröten und Rinderknochen sowie Hunderte von Inschriften auf Bronzen sind uns von den Shang erhalten. Vieles davon ist noch nicht entzifferbar, zudem sind die Texte kurz – selten länger als zwei Dutzend Zeichen – und stammen allesamt aus dem Kontext des Ahnenkultes. Dennoch bieten uns diese Inschriften ein detailliertes Bild von der Sprache, Religion, Politik und Gesellschaft der Shang. Allein durch ihre Schrift treten sie als erste »Dynastie« in das Licht der Geschichte.
Nicht, dass die Schrift eine wichtige Rolle in dieser Geschichte gespielt hätte: die Shang waren noch lange keine Schriftkultur. Nach allem, was wir wissen, dürften nur wenige Spezialisten am Hof der Schrift mächtig gewesen sein, und ihre Verwendung war eng beschränkt. Dennoch war die Schrift die wichtigste Kulturtechnik, welche die Shang dem Volk vererbten, das ihrer Herrschaft im 11. Jahrhundert v. Chr. ein Ende setzen sollte: den Zhou.