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[76]Die Legisten und der Aufstieg von Qin
ОглавлениеDer Gedanke des Universismus war die Antwort auf das Problem sozialer und kultureller Differenzen. In einer Zeit der Kriege und Zerrissenheit drängte der Gedanke einer übergeordneten Einheit an die Oberfläche, eines universalen Zusammenhangs aller natürlichen und sozialen Phänomene, der alle Grenzen transzendiert. Der Gedanke des Reichs war geboren, und er ließ sich nicht mehr verdrängen. Nun war »China« nicht mehr als Nebeneinander gleichberechtigter Staaten unter der Führung von Hegemonen denkbar; in der neuen Gesellschaft, die so scharf zwischen Spitze und Basis unterschied (S. 47), war auch Staatlichkeit nur im Bannkreis eines Zentrums vorstellbar, dem sich alle Regionen unterwarfen. Die Frage war nicht, ob, sondern wann und wem die Reichseinigung gelingen würde.
Die Antwort darauf gaben nicht Konfuzianer oder Daoisten, sondern Denker, die Einflüsse dieser beiden Schulen und anderer zu einer neuen Lehre umformten: dem Legismus. Es war ein Schüler des Xun Kuang, Han Fei (ca. 280–233 v. Chr.), der dessen Gedanken zu einer politisch äußerst wirkungsvollen Ideologie entwickelte. Vor allem zwei von Xun Kuangs Ideen formulierte er in aller Schärfe aus: die vom Wandel der Zeiten und die von der schlechten Natur des Menschen. Während Xun Kuang zwar erkannt hatte, dass die vorgeschichtlichen Weisen nicht mehr als Maßstab dienen können, aber am Vorbild der Zhou-Könige festhielt, verwarf Han Fei auch diese. Die Geschichte könne überhaupt keine Vorbilder liefern, so sein Argument, da die Zeiten sich geändert hätten. »Es gibt keine ewigen Regeln, um das Volk zu regieren«, stellt Han Fei fest, weder Gelehrsamkeit noch Gutmenschentum eignen sich dazu, im Gegenteil: »Menschlichkeit und Anstand taugten im Altertum, nicht aber heute.« Stattdessen könnten »allein Gesetze Ordnung schaffen«: Gesetze, die sich mit den Zeiten wandeln [77]und den Umständen anpassen. Damit zieht Han Fei zugleich die Konsequenz aus dem Gedanken Xunzis, dass der Mensch von Natur aus schlecht sei. »Wenn ein Weiser den Staat regiert, verlässt er sich nicht darauf, dass die Menschen ihm Gutes tun, sondern trifft Maßnahmen, dass sie nichts Schlechtes tun können.« Aus der Sittenlehre in der Tradition des Konfuzius war eine Gesetzeslehre außerhalb jeder Tradition geworden.
Han Fei lieferte die philosophische Begründung für eine Politik des »Legismus«, die das Interesse des Staates in den Mittelpunkt stellte. »Den Staat bereichern und das Militär stärken«: unter dieser Devise wurden legistische Ideen in Qin konsequenter angewendet denn je. Qin, weit am westlichen Rand der chinesischen Welt gelegen, behielt stets den Anruch des Barbarischen. Seine Einwohner, heißt es, hätten
»Sitten wie die Barbaren, die Gesinnung von Tigern und Wölfen. Sie sind hart und grausam, profitgierig und nicht vertrauenswürdig. Sie kennen weder Riten noch Anstand oder Tugend. Wenn Profit im Spiel ist, kennen sie keine Verwandten. Sie sind wie wilde Tiere, das wissen alle im Reich.«
(Zhanguo ce 24)
Im 8. Jahrhundert waren die Qin aus Westen nach Shaanxi eingewandert, dorthin, wo zuvor die Zhou ihre Hauptstadt hatten. Ganz offensichtlich fühlten sich die Qin als Nachfolger der Zhou, denn ihre Herrscher beriefen sich schon im 7. Jahrhundert v. Chr. offen auf das »Mandat des Himmels«. Sie leisteten sich Gräber von enormen Ausmaßen, die sogar die der Shang-Könige in den Schatten stellten. Das Grab eines Qin-Herrschers aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. war 24 m tief, hatte 280 m lange Rampen und enthielt 166 Menschenopfer! Es nimmt nicht wunder, dass legistische Lehren vom starken Staat bei den Qin auf fruchtbaren Boden fielen.
[78]Ihre Einführung wurde dem Berater Shang Yang (ca. 390–338 v. Chr.) zugeschrieben, dem Machiavelli des Alten China. Shang Yang soll 361 v. Chr. nach Qin gekommen sein und dort Herzog Xiao die Kunst gelehrt haben, den Staat zu stärken – und zwar auf eine Weise, die mit den Idealen der Konfuzianer nichts zu tun hat. Mit Liedern, Riten, Menschlichkeit, Bescheidenheit, Rhetorik und Klugheit könne man niemand zu Krieg und Verteidigung bewegen. Stattdessen bedürfe es Belohnungen und vor allem harter Strafen, um die Menschen produktiv und wehrhaft zu machen.
Die Welt lasse sich nicht verbessern, indem man die Überzeugungen der Menschen ändert, sondern nur durch Reform von Institutionen, deren Routinen die Menschen stärker prägen als Erziehung. Je unabhängiger die Gesellschaft von Motiven und Überzeugungen der Menschen, das ist die kühle Einsicht Shang Yangs, desto besser lasse sie sich steuern. Damit lieferte er, ohne es explizit zu formulieren, die Rechtfertigung für die Bürokratie, jene Institution, die von Reflexionslasten befreit, indem sie die Welt einer fraglosen Ordnung unterwirft. Die Bürokratie, das ist der Subtext der legistischen Lehre, bietet die Lösung für die Kontingenz aller Ordnungen: denn sie braucht keine Letztbegründung, sondern nur Routinen für Zwecke, die immer schon vorgegeben sind.
Herzog Xiao setzte Shang Yangs Ideen zur Stärkung des Herrschers und Mobilisierung des Volkes durch eine Reihe einschneidender Reformen in die Tat um. Grundlage dieser Reformen war die Landwirtschaft. Sie wurde systematisch gefördert, indem Bauern privater Landbesitz gewährt wurde; zudem wurden Familien aus den dichtbevölkerten Nachbarstaaten ermutigt, sich in Qin anzusiedeln und dort Brachland zu erschließen. Das gesamte Land wurde nun in Amtsbezirke und Verwaltungskreise eingeteilt, die nicht mehr von Adligen, sondern von Beamten der Zentrale verwaltet wurden. Diese [79]Einheiten waren die Basis für die systematische Erfassung des Volkes, die Eintreibung von Steuern und die Rekrutierung für Dienste am Staat. Alle erwachsenen Männer waren verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Die Bauern waren gleichzeitig Soldaten und bildeten so die Grundlage der Armee von Qin. Auf diese Weise konnte fast das gesamte Volk zum Krieg mobilisiert werden.
Auch im Alltag war die Gesellschaft Qins geradezu militärisch organisiert. Alle Einwohner waren eingeteilt in Gruppen von fünf oder zehn Familien, die gemeinsam arbeiteten und sich gegenseitig kontrollierten. So entstand ein rigoroses Überwachungssystem, in dem alle der Pflicht zur Denunziation unterlagen und der Kollektivhaftung unter einem Gesetz, das in unnachgiebiger Strenge jedes Delikt ahndete. Wer Vergehen in seiner Gruppe meldete, wurde belohnt wie ein Kriegsheld, wer sie verschwieg, ebenso bestraft wie ein Deserteur: mit dem Tod. Die Gesetze der Qin galten unbarmherzig, einheitlich und zuverlässig. Sie sahen überaus harsche Strafen für Gewalttätigkeit, Diebstahl, Betrug, aber auch Amtsvergehen vor: »Wenn die Strafen schwer sind und die Schuld kollektiv trifft«, so lautete das Prinzip, »wird das Volk nicht einmal den Versuch (einer Straftat) wagen; wagt das Volk nicht einmal den Versuch, dann bedarf es keiner Strafen.« Allein die Angst vor der Unerbittlichkeit des Gesetzes sollte Ordnung schaffen: ein Regime des Terrors.
In der Gesellschaftsordnung der Qin kulminierte der zhanguo-zeitliche Niedergang der Adelsgesellschaft. Staatlich garantierter Landbesitz löste alte Adelsprivilegien ab; allgemeingültige Gesetze verdrängten die private Abrechnung zwischen Familien in Form von Blutrache; die steuerliche Besserstellung von Kernfamilien zersetzte größere Verwandtschaftsverbände; und die aristokratische Rangordnung selbst wurde durch eine soziale Hierarchie ersetzt, die vor allem auf militärischen [80]Verdiensten beruhte, und zwar ganz objektiv: gezählt wurde die Zahl der abgeschlagenen feindlichen Köpfe.
Das System des Legismus war nicht aristokratisch, sondern bürokratisch: kühl, rational und völlig amoralisch. Der Mensch in seiner Würde oder Tugend zählte nichts vor einem Gesetz, das in unbestechlicher Präzision und ohne Ansehen der Person funktionierte. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Schöpfer dieses Systems ihm selbst zum Opfer fiel. Shang Yang wurde nach dem Tod seines Gönners im Jahre 338 v. Chr. der geplanten Rebellion bezichtigt und gevierteilt, seine Familie ausgerottet.
Doch Shang Yangs Politik, »den Staat zu bereichern und das Militär zu stärken«, wurde fortgesetzt, mit ihr baute der Staat Qin seine Macht Schritt für Schritt aus. Nun begann der unaufhaltsame Aufstieg der ›barbarischen‹ Qin, die schließlich ganz China beherrschen sollten. 325 v. Chr. nahmen seine Herrscher den Titel ›König‹ an und erweiterten ihre Machtbasis in den folgenden Jahrzehnten unaufhaltsam.
316 v. Chr. eroberte Qin die Staaten Shu und Ba im heutigen Sichuan. Das fruchtbare Sichuan-Becken, damals noch weitab der chinesischen Staatenwelt gelegen, wurde zur Kornkammer für Qin und zur Basis seiner weiteren Expansion. Bald darauf drang Qin weiter nach Süden und Osten vor. Es sicherte sich den Zugang zur Nordchinesischen Ebene sowie, indem es den Oberlauf des Han-Flusses besetzte, nach Südchina. Dort lag der einzige Staat, der sich noch mit Qin messen konnte: Chu.
Am Mittellauf des Yangzi gelegen, in einem Gebiet, das im 1. Jahrtausend v. Chr. noch mit tropischen Regenwäldern bedeckt war, befand sich Chu von jeher außerhalb des chinesischen Kulturkreises. Ethnisch dürften die Leute von Chu den Völkern Südostasiens näher gestanden haben als den Chinesen der Lößebene; sie sprachen eine andere Sprache und entwickelten eine eigenständige Literatur. Ein bleibendes Zeugnis der Chu-Kultur sind die Gesänge von Chu (Chuci) aus dem [81]3. Jahrhundert v. Chr.: lange, rhapsodische Texte über die Trennung von Leib und Seele sowie die Überschreitung der Grenzen von Diesseits und Jenseits, Zeugnisse einer ekstatisch-schamanistischen Religiosität, die sich deutlich von nordchinesischen Liedern unterscheiden.
Schon früh meldeten die Herrscher von Chu Ambitionen an, ihre Macht nach Norden auszuweiten: Sie drangen in der Chunqiu-Zeit mehrmals weit nach Nordchina vor und erreichten im 4. Jahrhundert v. Chr. ihre größte Ausdehnung. Nun beherrschte Chu den gesamten Mittel- und Unterlauf des Yangzi bis hin zum Meer; die Großmacht des Südens wurde zur ernsthaften Bedrohung für den Norden. 249 v. Chr. löschte Chu auch Lu, den Heimatstaat des Konfuzius, aus. Am Ende des 3. Jahrhunderts standen sich Chu und Qin, zwei Staaten vom Rand der chinesischen Welt, gegenüber und kämpften um die Herrschaft über ganz China.
Doch auch Chu konnte den Siegeszug der Qin nicht mehr aufhalten: denn er verdankte sich nicht dem Zufall oder besonderem Schlachtglück, sondern war die logische Folge systematischer Erweiterung der ökonomischen Basis. 256 eroberte Qin die Krondomäne der Zhou: die große Dynastie Zhou war untergegangen, das ›Mandat des Himmels‹ ging an die Qin. Nach den Eroberungen des frühen 3. Jahrhunderts war Qins Territorium fast so groß wie das aller anderen Staaten zusammen, und seine Bevölkerung wesentlich zahlreicher.
Zwischen 230 und 225 v. Chr. eroberte Qin in rascher Folge die Staaten Han, Zhao und Wei, bevor seine Armeen 223 in das Yangzi-Tal einfielen und Chu entscheidend schlugen. Nachdem Qin in den nächsten beiden Jahren noch die nordöstlichen Staaten Yan und Qi besiegt hatte, war das Werk vollbracht. 221 v. Chr. wurde die chinesische Welt unter einem Herrscher vereint, der sich nun einen neuen Namen gab: Qin Shi huangdi, »Erster Erhabener Kaiser von Qin«.