Читать книгу Kleine Geschichte Chinas - Kai Vogelsang - Страница 20
[89]Zentrum und Peripherie
ОглавлениеDie prekäre Beziehung des Kaisers zu seinen Beratern war ein Aspekt des großen Grundthemas, das die Han-Zeit prägte: des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie. Diese Form gesellschaftlicher Differenzierung, die sich schon seit der späten Chunqiu-Zeit abgezeichnet hatte (vgl. S. 42), erreichte nun ihre volle Ausprägung. Stärker als zuvor setzte sich die Semantik der Mitte durch: die Han verstanden ihre Hauptstadt Chang’an, das heutige Xi’an, als Zentrum der Welt. Chang’an war die bedeutendste Stadt ihrer Zeit: mit über 33 km2 Fläche mehr als doppelt so groß wie das antike Rom, hatte sie rund 250 000 Einwohner. Ihre gewaltigen Mauern – noch die heutigen Reste sind 25 km lang – besaßen 12 Tore, zwischen denen acht Prachtstraßen die Stadt durchzogen, die größte von ihnen 50 m breit. Chang’an war das Zentrum der Welt: es strahlte in alle Welt aus, und alle Welt orientierte sich daran. Im Kosmos der Han wurde die Position jedes Elements durch seine Stellung im Verhältnis zum Zentrum bestimmt. Vor diesem Hintergrund erklären sich die Positionskämpfe, die sich in der Han-Zeit auf drei konzentrischen Ebenen entzündeten: am Hof, in der Provinz und an den Grenzen des Reichs. Die Konflikte, die in diesen Bereichen ausgetragen wurden, waren keine vorübergehenden Erscheinungen; sie waren Grundprobleme, die die chinesische Geschichte bis in die Gegenwart bestimmt haben.
Am wenigsten problematisch erschien zunächst das Verhältnis des Kaisers zu seinem Hofstaat. Von Anbeginn etablierte sich eine – großteils mit ehemaligen Beamten der Qin besetzte – Bürokratie, der die Verwaltung in der Hauptstadt und im Reich oblag. Schwieriger gestaltete sich das Verhältnis von Zentrale und Reich. Die Han wählten zunächst eine Kompromisslösung, indem sie einen Teil des Landes – nämlich den neuerschlossenen Westen – in Amtsbezirke und Kreise [90]einteilten und den anderen – die Stammgebiete der alten Regionalstaaten im Osten – in zehn Königreiche und über 100 Markgrafschaften, mit denen sie Verwandte und verdiente Mitstreiter belehnten. Fette Pfründe waren das, von denen vor allem die Angehörigen des Hauses Liu profitierten. Zwar waren sie nur Titularfürsten, ohne Rechtshoheit in ihren Gebieten, aber sie genossen das Privileg, Steuern einzuziehen, ihre Nachkommen erhielten Ämter und hübsche staatliche Alimente.
Mit diesem System zollten die Han der unübersehbaren Tatsache Tribut, dass das Einheitsreich keineswegs einheitlich war. Der Zentralstaat hatte die segmentären Strukturen lediglich überlagert, die auf regionaler Ebene herrschten. Nicht nur die abgelegenen Gegenden Sichuans, des Yangzis und des fernen Südens – Exilgebiete für die Bewohner des Nordens – waren sprachlich und kulturell eigenständig. Auch die alten Stammlande Chinas zerfielen in eine Vielzahl verwandtschaftlich oder regional definierter Gemeinschaften, die sich kulturell deutlich unterschieden und zum Teil in blutigen Fehden bekämpften. In diesen Gebieten – weit mehr als der Hälfte des Reiches – mussten die Han wie Besatzer erscheinen.
Von Anbeginn stand die Dynastie vor dem Problem, die Machtentfaltung lokaler Gruppen einzuschränken. Denn noch immer saßen in den Gebieten der ehemaligen Territorialstaaten die alten Herrscherfamilien, deren Einfluss der Zentralmacht entgegenstand. Umsiedlung mächtiger Familien in die Hauptstadt Chang’an, Kriege gegen »unbotmäßige« Könige, aber auch Kontrollmaßnahmen gegen die Titularkönige des Hauses Liu prägten die frühe Han-Zeit. Das chinesische Einheitsreich war von Anbeginn durch den Machtkampf zwischen Zentrale und Peripherie gekennzeichnet; das Oszillieren zwischen Einheit und Vielfalt wurde zu einem Leitmotiv der chinesischen Geschichte.
Ein weiteres chronisches Problem wurde mit der Gründung [91]der Han akut: die Bedrohung durch »Barbaren«, die sich an den Grenzen des Reiches formierten. Seit der Entstehung Chinas waren umliegende Fremdvölker zunehmend als anders empfunden worden (S. 15 f.). Je enger die chinesische Gesellschaft zusammenwuchs, desto deutlicher erschien die Differenz zu den »Barbaren«: mit der Reichseinigung wurde sie schließlich in Form einer Mauer zementiert. Die »Barbaren« sind ein Geschöpf Chinas: der Geburtsfehler der chinesischen Gesellschaft, der gemeinsam mit ihr heranwuchs.
––––––––––
Die abschätzige Rede von »Barbaren« wurzelt nicht etwa in kultureller Selbstherrlichkeit, wie sie den Chinesen oft nachgesagt wurde. Sie gehört zur Logik aller Weltreiche, die im Umkreis ihrer Herrschaft keine gleichberechtigten Nachbarstaaten kennen, sondern nur abhängige und untergeordnete Völker. Der »Barbarendiskurs« dient dazu, »die Grenzen des Imperiums als Räume asymmetrischen Aufeinandertreffens zu markieren« (H. Münkler), und zwar von den »barbari« der Römer und »Tartaren« des Mittelalters über die »Wilden« der spanischen Eroberer bis hin zu den »Schurkenstaaten« der USA: die »asymmetrischen Gegenbegriffe« (R. Koselleck) wechseln, die Barbaren bleiben. Alle Imperien schürten die Angst vor rohen, frauenraubenden Barbaren, die es zu zivilisieren gelte – oder aber für das Imperium in den Dienst zu nehmen. So, wie die Römer eine germanische »Barbarisierung der Armee« betrieben, Karl der Große sich mit den Slawen gegen die nordelbischen Sachsen verbündete und die Russen Kosaken in ihre Armee eingliederten, bekämpften die Chinesen »Barbaren mit Barbaren«: in jedem Fall mussten die »Barbaren« herhalten, um die Grenzen von Weltreichen zu sichern.
––––––––––
Kurz nach der chinesischen Reichseinigung, 209 v. Chr., schlossen sich auch Reiterstämme der südsibirischen Steppe, die den Chinesen als Xiongnu bekannt waren, unter ihrem [92]Führer Mao Dun zu einer großen Föderation zusammen. Die Xiongnu kontrollierten ein immenses Gebiet, das von der Mongolei bis weit nach Zentralasien reichte und das Han-Reich an Größe weit übertraf. Die Parallelität ihres Aufstiegs dürfte kein Zufall sein. Als die Qin ihr Gebiet bis nördlich des Huanghe-Bogens ausdehnten, verdrängten sie die dort ansässigen Reiterstämme, schnitten sie vom Handel ab und raubten ihnen so einen wichtigen Teil ihrer Lebensgrundlage. Auf diese bedrohliche Situation konnten die Xiongnu nur durch Bildung einer Föderation reagieren – wodurch sie ihrerseits zu einer akuten Bedrohung für die Han wurden. Ab 201 v. Chr. kam es immer wieder zu Überfällen der Xiongnu auf die Gebiete, die einst ihnen gehört hatten.
Die Han reagierten nicht mit Krieg, sondern zum einen, indem sie die Mauer der Qin verlängern ließen, zum anderen mit einer äußerst aufschlussreichen neuen Strategie: einer Politik der »Harmonie und Verwandtschaft«. Sie schlossen ein Friedensabkommen mit den Xiongnu, in dem die Han sich verpflichteten, regelmäßige Tribute – Seide, Schnaps und Reis – zu liefern sowie dem Xiongnu-Führer eine chinesische Prinzessin zur Frau zu geben. Das Wort »Verwandtschaft« war ganz ernst gemeint: der Xiongnu-Führer wurde fortan als jüngerer Bruder des Han-Kaisers bezeichnet und diesem diplomatisch gleichgestellt.
Solche Beschreibungen waren mehr als nur rhetorisches Zugeständnis an einen militärisch überlegenen Feind; sie waren integraler Bestandteil des chinesischen Weltbildes. Die Han verstanden sich nicht als ein Staat neben anderen, sondern als ein Imperium: als Zentrum der Welt und einziges Reich »unter dem Himmel«, das in alle peripheren Gegenden ausstrahlte. Dieses Weltreich kannte keine echten Grenzen, die es von gleichberechtigten Staaten trennten, sondern lediglich einen Randbereich abnehmender Wirkungsmacht und Integration. [93]Die imperiale Ideologie – maßgeblich für alle späteren Dynastien – hatte universalen Anspruch, sie erstreckte sich auch auf die ›Barbaren‹. In diesem umfassenden Weltbegriff, der einen ebenso generalisierten Begriff vom Menschen impliziert, sind die Xiongnu selbstverständlich Teil der chinesischen Ordnung. Sie erscheinen nicht als grundsätzlich andersartig und unmenschlich, sondern als wesensverwandt, also tatsächlich: verwandt. In der Han-Zeit setzte sich ein konzentrisches Weltbild durch – in der Mitte der Hof, umgeben von Ringen abnehmender Zivilisation –, in das die Xiongnu sich zwanglos einordnen ließen. Das erklärt die Selbstverständlichkeit, mit der die Han und spätere Dynastien regelmäßig ›Barbaren‹ in ihre Streitkräfte eingliederten und den Führern umliegender Völker chinesische Beamtentitel verliehen. Das Imperium unterwarf die ganze Welt seiner Ordnung – auch dann noch, wenn es sich selbst unterwerfen musste.