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Der politische Leitstern: Großherzog Friedrich I.
ОглавлениеAm 5. September 1856 hing in Baden an öffentlichen Plätzen und an Regierungsgebäuden eine Proklamation aus. Sie stammte vom Prinzregenten Friedrich. Der Text begann in großen Lettern mit der Titulatur »Wir Friedrich, von Gottes Gnaden Großherzog von Baden, Herzog von Zähringen«. Friedrich verkündete, am 24. April 1852 hätte er, sprich »Wir, durch Gottes Gnade und das Recht Unseres Hauses dazu berufen« zwar die Regierung des Großherzogtums angetreten, »jedoch, von brüderlichen Gefühlen geleitet, die Großherzogliche Würde anzunehmen, damals unterlassen«. Nun könne er dieses »Uns hausgesetzlich zustehende Recht« nicht länger »ruhen lassen«. In Übereinstimmung mit seiner Familie sei er entschlossen, »durch die Annahme der Großherzoglichen Würde alle mit ihrem früheren Ausspruche hausgesetzlich verbundenen Folgen zur Anwendung zu bringen«.76
Wie war das möglich? Bis Mitte der fünfziger Jahre war dem Stellvertreter Friedrich nicht viel anderes übriggeblieben, als in dem noch von seinem Vater etablierten, restaurativen, beinahe reaktionären Regime seine Rolle zu spielen. Politisches Kapital für die Monarchie war daraus kaum zu schlagen – und zu seiner Popularität konnte er so auch nicht beitragen. Friedrichs Haupt- und Staatsaktion von 1856 diente im Kern seinem Hauptanliegen, Baden zu regenerieren und zugleich die Monarchie für das Land neu zu erfinden. Wenn er das monarchische Prinzip durch zeitgemäße Reformen zugunsten des erstarkenden Bürgertums in die Zukunft retten wollte, brauchte er dafür einen stabilen Thron, verwandtschaftliche Beziehungen zu machtvollen Häusern und staatskluge politische Impulsgeber. Daß er schließlich die großherzogliche Gewalt ganz offen für sich in Anspruch nahm, war nach den staatsrechtlichen Maßstäben jener Zeit eigentlich unzulässig, aber gedeckt – durch geschickte Heiratspolitik. Zum einen heiratet Friedrich, zweiWochen nach seiner Thronbesteigung und damit als regierender Monarch, nicht mehr als Prinzregent, die achtzehnjährige Prinzessin Luise von Preußen, die einzige Tochter des preußischen Thronfolgers Prinz Wilhelm. Für den Zähringer war dieser Anschluß an die einflußreiche preußische Dynastie zentral, um seine Thronprätention machtpolitisch abzusichern. Aber es ging um noch mehr als das. Der Brautvater Prinz Wilhelm von Preußen wollte seinerseits in unmittelbaren Kontakt mit einem süddeutschen Monarchen gelangen, die traditionell eher dem Antipoden Österreich zuneigten. Friedrich konnte das nur recht sein. Zum anderen vertiefte die zeitgleich stattfindende Verlobung von Luises Bruder, dem preußischen Kronprinzen Friedrich, mit der ältesten Tochter von Queen Victoria, die gute Verbindung zum britischen Königshaus.77 Die quasi völkerrechtliche Anerkennung eines bemerkenswerten Coups war geglückt: der Ausschluß des legitimen badischen Erbens von der Thronfolge – und der Anschluß der nicht ganz makellosen badischen Dynastie an die hochadelige europäische Herrscherwelt.
Für mehr als ein halbes Jahrhundert wurde das Großherzogtum Baden nun von Friedrich regiert, von dem vielleicht ambitioniertesten Zähringer überhaupt. Sein Vater war noch als Freiherr von Hochberg auf die Welt gekommen, als Großherzog 1849 von seinem eigenen Volk vertrieben und öffentlich verspottet worden. Und dennoch gelang es dem Sohn, zu einem Monarchen von europäischem Rang zu werden. Bei seinem Tod 1907 galt sein Großherzogtum in der öffentlichen Meinung als Beispiel für gelungene Fürstenherrschaft mit freiheitlichem Zuschnitt. KeinWunder, daß es dieser Onkel war, den sich sein Neffe Max zum politischen Vorbild nahm. Den er zu seinem lebenslangen politischen Leitstern machte. Dem entthronten Großherzog Ludwig II. blieben Titel und Rang – nominell.78 Baden wurde also formell durch zwei großherzogliche Staatsoberhäupter repräsentiert. Erst zwei Jahre später, am 22. Januar 1858, verstarb der kranke Monarch im Alter von nur 33 Jahren. Mit großem Pomp wurde er eine Woche später in der Karlsruher Stadtkirche feierlich beigesetzt.79 Damit war die Zeit der Unsicherheit in Fragen der Legitimität vorbei.
Zu seinem historischen Rang trug noch ein anderes Ereignis bei. Friedrich I. von Baden nahm, wenn auch nur in zweiter Reihe, an der Gründung des ersten deutschen Nationalstaates teil. Es war sein legendärer Auftritt am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, bei dem er auf Bismarcks Geheiß seinen Schwiegervater als »Kaiser Wilhelm« hochleben ließ. Genauer gesagt: Es war der Maler Anton vonWerner, der diesem Moment einen Platz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verschaffte. Die aufwendige Stilisierung hat Friedrich den badischen Staat viel Geld kosten lassen.80 Hier ließ sich Ruhm erwerben, vielleicht mehr noch als auf dem Schlachtfeld. Dabei war es Friedrichs Glück, daß die beiden ranghöheren süddeutschen Könige – Ludwig II. von Bayern und Karl I. von Württemberg – an der Versailler Zeremonie nicht teilnahmen. Imagepflege sollte in den kommenden Jahren einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Friedrich, der Künder des neuen Deutschen Reiches, der uneigennützige Patriot, der Bürgerfreund und Schöpfer des liberalen Musterstaates – das waren die Attribute, die ihm beigelegt wurden und auf die er zunehmenden Wert legte. Denn wie sich schon bald herausstellte: Sein großer Auftritt im Spiegelsaal markierte nicht nur den Höhepunkt seiner öffentlichen Laufbahn, sondern auch ihren Zenit.
Stammbaum des Hauses Baden: zwei Brüder als dynastische Spitze
Mit dem Tag seiner Thronergreifung im Jahre 1856 war Friedrich offizieller Nachfolger seines Bruders in den öffentlichen Ämtern des Souveräns geworden; er wurde damit auch Oberhaupt der Herrscherfamilie und erhielt als Haupterbe Zugriff auf das Familienvermögen. Seine Verfügungsgewalt über das Leben seiner Angehörigen reichte nun sehr weit. Auch trug er die Hauptlast, wenn es darum ging, Ehre, Ansehen und Einfluß der badischen Dynastie zu wahren. Auf Dauer gesichert werden konnte die dynastische Herrschaft freilich nur dann, wenn die Familie über ausreichenden und gesunden Nachwuchs verfügte.81 Dafür hatte das großherzogliche Paar in Gestalt seiner drei Kinder, der Prinzen Friedrich und Ludwig sowie der Prinzessin Victoria, Sorge getragen. Auch die Ehe galt als mustergültig. Nicht einmal zehn Monate nach der Hochzeit gebar Luise den Thronerben. Bis zur Geburt der Tochter vergingen allerdings volle fünf Jahre; danach noch einmal drei Jahre bis zur Geburt des zweiten Sohnes. Weiterer Nachwuchs gab es nicht, obwohl Luise bei der Geburt des dritten Kindes erst 27 Jahre alt war. Offenbar glaubte man, mit zwei Söhnen die Zukunft des Herrscherhauses sichern zu können.
Luise galt als eine resolute, gebieterische und sehr stolze Frau ohne romantische Flausen.82 In ihrer Ehe sah sie in erster Linie zwischenstaatliche Allianz. Nach den drei Geburten wuchs sie mehr und mehr in die Rolle einer regierenden Großherzogin hinein. Sie setzte bei ihrem Gemahl sogar durch, an den Besprechungen mit Ministern und an anderen wichtigen politischen Audienzen teilnehmen zu dürfen – ein sonst in Deutschland geradezu unerhörter Vorgang. Schon 1871 konnte Luise sich eines eigenen Geheimsekretärs bedienen, der direkte Verbindung zur Regierung und zu den Ministerien hielt. Familienpolitisch war sie nicht minder aktiv – und so offensiv, daß ihr Mann bei den deutschen Fürsten – so Großherzog Ernst Ludwig von Hessen später – »nur den Namen ›Onkel Wie-du-willst-Luise‹« getragen habe.83 Und doch darf man sie sich keinesfalls als Ehefrau vorstellen, die es darauf abgesehen hatte, ihren Gatten zu marginalisieren. Luises Bestreben war eher darauf gerichtet, den Souverän zu lenken. In vielen Fragen entwickelte sie sich zum wichtigsten Mentor ihres Mannes. Niemals verlor sie die politische Zweckbestimmung ihrer Ehe aus den Augen. Eine Badenerin (im populistischen Sinne) wollte sie wohl eher nicht werden, aber durchaus ihrem Gemahl ein hohes Ansehen bei seinen Landsleuten sichern – insbesondere, wenn es um die Reputation des großherzoglichen Hauses ging.
Die erste große Herausforderung, mit der sich Friedrich I. als Oberhaupt der Herrscherfamilie konfrontiert sah, waren im Frühjahr 1871 die Heiratspläne seines jüngsten Bruders Karl. Der inzwischen fast vierzigjährige, sehr zurückgezogen lebende, weder politisch noch militärisch ambitionierte Prinz hatte sich mit einer Hofdame seines BrudersWilhelm, der 13 Jahre jüngeren Rosália Freiin von Beust, verlobt. Zwar machte das Herrscherpaar – wie sein Bruder Wilhelm überliefert hat – zunächst »sehr entschieden Front gegen Karl«84 – Rosália stammte aus niederem Adel, deren Mutter auf den Namen Emilie Meier getauft war, und Karl hatte seinen Bruder erst nach der Verlobung um die förmliche Erlaubnis zur Heirat gebeten –, gab dann aber ziemlich schnell auf, ja, der Großherzog erhob seine Schwägerin sogar in den Grafenstand, so daß sie fortan den Namen Gräfin Rhena trug. Zu einem Dilemma drohte diese Ehe erst am 29. Januar 1877 zu werden, als der Sohn Friedrich (genannt »Fritzi«) zurWelt kam. Denn fortan bemühten sich die Eltern, vor allem die Mutter, aus diesem Grafen Rhena – so wie aus seinem Großvater Leopold – einen echten Prinzen von Baden zu machen. Das badische Herrscherpaar lehnte solche Überlegungen strikt ab, um keine öffentliche Diskussion über die Legitimität badischer Prinzen anzufachen; mitsamt der unseligen Geschichte der Geyersberg, Kaspar-Hauser-Affäre und unrechtmäßiger Absetzung des Großherzogs Ludwig II.
Friedrich hatte die Ehe seines Bruders zwar erlaubt, doch darüber hinaus lautete das Dogma: In einer Erbmonarchie kann es nur eine herrschende Familie von königlichem Blut geben, weil man sich nur so den Untertanen gegenüber als die überragende, herrschaftsberechtigte Macht darstellen könne.85 Die Eltern von »Fritzi« empfanden die dauerhafte Zurücksetzung ihres Sohnes als ein schweres Unrecht. Seine Mutter wollte das Schicksal des gesamten Herrscherhauses sogar »der Rache Gottes überlassen«.86 Dieses Drama drang erst einmal nicht nach außen, brachte aber im Herrscherhaus viel böses Blut hervor. Auch Friedrichs anderer Bruder, Wilhelm, der Vater unseres Titelhelden, brachte dem Großherzog wenig brüderliche Zuneigung entgegen. Darauf wird später noch näher eingegangen.
Dagegen stellte die Heirat der einzigen großherzoglichen Tochter Victoria mit Kronprinz Gustaf von Schweden im Jahre 1881 eine ausgesprochen gute Partie für das Haus Baden dar.87 Zwar war auch das schwedische Königshaus der Bernadottes eine (nicht blaublütige) Stiftung Napoleons, der die Dynastie Holstein Gottorp 1809 einfach abgesetzt und einen seiner bürgerlichen Marschälle dort mit Hilfe des Reichstags zum Thronfolger gemacht hatte.88 Aber das Hoheitsgebiet der Monarchie erstreckte sich zum Zeitpunkt der Verlobung über die in Personalunion vereinigten Staaten Norwegen und Schweden, die im europäischen Mächtekonzert ein nicht zu unterschätzendes Gewicht besaß. Der dynastische Hintersinn der Heirat bestand darin, daß die Mutter des badischen Großherzogs und Brautvaters selbst schwedisches Blut in den Adern hatte, genauer gesagt: das Wasablut des von seinem Herrscherthron vertriebenen Schwedenkönigs Gustaf IV. Adolf. Eine Heirat von Victoria von Baden und Gustaf Bernadotte bedeutete also dreierlei: Zum einen rehabilitierte sich dieWasadynastie, (die damit vor einer Rückkehr auf den schwedischen Thron stand), die Familie der Bernadottes wurde durch diese Verbindung zum preußisch-deutschen Kaiserhaus aufgewertet, das durch die Brautmutter repräsentiert wurde; und schließlich vernetzte sie das badische Haus mit einer europäischen Macht.
Zwar wurde die Ehe gemeinhin als Liebeshochzeit angesehen – der Großherzog Friedrich sprach von einer echten Herzensentscheidung89 –, und »Vicky« schenkte dem schwedischen Herrscherhaus schon in den ersten Ehejahren zwei gesunde Agnaten. Doch sie zeigte sich weder willens noch in der Lage, in dem Land ihres Mannes heimisch zu werden. Die höfische und politische Kultur Schwedens blieben ihr fremd, das skandinavische Klima machte sie krank. Mit ihren nach denWorten ihres Schwiegervaters »schiefen hohenzollernschen Ideen und ihrem ›Hermelinsfieber‹«90 entfremdete sie sich in zunehmendem Maße auch von dem schwedischen Königspaar. Jedenfalls vermochte Vicky die in sie gesetzten Erwartungen an eine schwedische Kronprinzessin nicht zu erfüllen.91 In dieser Situation trat sie spätestens 1890 die Flucht in die Krankheit an, die fortan zu ihrer Überlebensstrategie werden sollte. Nicht, daß es sich um Krankheitseinbildung gehandelt hätte, aber es ist auffällig, daß sich Victoria zur Behandlung ihrer Leiden immer häufiger in ihrem Heimatland Baden und dann seit 1889 vorzugsweise in Italien aufhielt. Was umgekehrt zur Folge hatte, daß man sie immer seltener in Schweden sah.92 Die Familie äußerte sich dazu nur im engsten Kreis, dort kamen die »großen Sorgen für die Zukunft« zur Sprache, die ihnen die Krankheitssymptome Victorias zu tragen gab: »Gott helfe weiter!«93 Wir werden später sehen, daß auch das Leben des Prinzen Max durch das Schicksal seiner Kusine Victoria nachhaltig berührt wurde.
Die Suche nach einer Gattin für den Thronerben Friedrich dürfte wohl die wichtigste familien- bzw. dynastiepolitische Aufgabe des Großherzogs gewesen sein. Die Lösung zog sich bis 1885 hin. Da hatte der Erbgroßherzog schon sein 28. Lebensjahr überschritten und es in seiner achtjährigen Militärkarriere zum Rittmeister im 1. Garde-Ulanen-Regiment in Potsdam gebracht.94 In den Blick der Eltern des Erbgroßherzogs war zunächst die Tochter des verwitweten Großherzogs von Hessen, Elisabeth, geraten. Doch die Partie mit »Ella«, einer sehr selbstbewußten Enkelin von Queen Victoria, kam trotz mehrmonatigen Bemühungen nicht zustande. Die Prinzessin gab Friedrich von Baden im März 1883 einen Korb: Siewollte ihn einfach nicht zum Mann.95 Vielleicht hätte er sich Ella gegenüber nicht »liebenswürdig« genug gemacht, mutmaßte die englische Königin.96 Womit siewohl nicht ganz falsch lag. Denn das, was über den Charakter des badischen Thronfolgers überliefert ist, läßt ihn nicht gerade besonders attraktiv erscheinen.97
Nach der gescheiterten Brautwerbung im Hause Hessen, die übrigens viel böses Blut erzeugte,98 waren Friedrichs Eltern erst im Sommer 1884 wieder auf der Suche nach einer Schwiegertochter; lanciert wurde dies der Öffentlichkeit durch Zeitungsgerüchte, die offensichtlich mehr als Gerüchte waren.99 Angeblich sollte der badische Thronerbe ein Interesse an der fast zwanzigjährigen Prinzessin Hilda von Nassau haben – eine nicht ganz erstklassige Option, war doch ihr Vater, Herzog Adolf von Nassau, einer der Verlierer des Krieges von 1866, der seinen Thron eingebüßt hatte und im bayerischen Exil lebte.100 Das zeigt, daß der Großherzog die Hoffnungen, daß sein Sohn eine herausragende Partie machen könnte, inzwischen wohl begraben hatte. Umgekehrt stand nicht zu befürchten, daß Hilda und ihre Eltern allzu hohe Erwartungen an den Bewerber stellten; für das Haus Nassau bedeutete diese Heirat schließlich den Schritt zurück in den ersten Kreis der adeligen Häuser Europas.
Die zurückhaltende, bescheidene, duldsame und anpassungsfähige Frau scheint für ihren Mann ein Segen gewesen zu sein, da sie das ohnehin schon mühevolle Thronfolgerleben nicht durch Prätention oder gar Herrschsucht erschwerte. Es dauerte lange, bis sie »die ihr eigene kindliche Schüchternheit und Scheu« ablegte.101 Auch der Verfügungsgewalt, die ihre Schwiegermutter über das junge Ehepaar beanspruchte, hat sie sich duldsam ausgeliefert.102 Es war zu verschmerzen, daß sie keinen Glanz und keine Grandezza verkörperte – ungleich schwerer wog hingegen die Kinderlosigkeit der Ehe. So daß diese Heirat ihren dynastischen Hauptzweck verfehlt hatte.103
Waren Mißheirat und Bruderzwist nicht gerade dazu angetan, die Stimmung im Hause Baden zu verbessern, so kam noch die chronische Indolenz des Thronerben hinzu, die das Leben des Erbprinzen dauerhaft zu verschatten drohte, sowie die Flucht der Tochter in die Krankheit, vor ihrer Verantwortung als designierte Königin von Schweden. Und, als Höhepunkt der besorgniserregenden Entwicklung, erschütterte zu Beginn des Jahres 1888 die Herrscherfamilie ein tragischer Todesfall – in ihren Grundfesten, weil er die Hoffnung auf eine positive Zukunft gänzlich zu begraben drohte.
Was war geschehen? Am 20. Februar hatte Professor Bäumler, der Chef der Freiburger Klinik, beim 22-jährigen Prinz Ludwig Wilhelm von Baden, dem jüngeren Sohn des Großherzogs, eine leichte Lungenentzündung diagnostiziert und eine baldige Genesung vorausgesagt.104 Doch trotz guter Konstitution des jungen Mannes nahm die Krankheit innerhalb von nur drei Tagen einen tödlichen Verlauf. Die Eltern waren gerade in dieser Woche verreist, und nach ihrer Rückkehr fanden sie in Freiburg nur mehr ihr totes Kind vor. Ludwigs Cousin Max schrieb über »das niederschmetternde Unglück«, daß es die Eltern »um Jahre« habe altern lassen: »Die Stadt und das ganze Land sind tief erschüttert.«105 Auch für den Großvater, den greisen Kaiser Wilhelm I., der selbst nur zwei Wochen später sterben sollte, war das ein »entsetzlicher Schlag, den uns die Vorsehung sendet. Ein Fürst in der Blüte der Jahre, mit den gegründetsten Hoffnungen und Erwartungen […] so plötzlich entrissen zu sehen, ist unerklärlich.«106 Auch inHofkreisen stellte sich dieser plötzliche Tod als ein Schicksalsschlag dar, auf den man »nicht im entferntesten« vorbereitet war.107
Viele Jahre später erfuhr die Presse, daß Ludwig »den Folgen eines Duells erlag. Die Vertuschungsparole von einer schweren Lungenentzündung, der er erlegen sei, ließ sich nicht durchführen. Die behandelnden Ärzte mußten sich ihrer angegriffenen Berufsehre erwehren.«108 Auch Wolf Graf Baudissin, der 1888 als Fähnrich beim 5. Infanterie-Regiment Nr. 113 in Freiburg diente, schrieb in seinen Erinnerungen, daß der Prinz »gar nicht eines natürlichen Todes gestorben [war], sondern im Duell gefallen«. Und er fügte vielsagend hinzu: »Ich bin ehrenwörtlich verpflichtet, den Namen seines Gegners nicht zu nennen. Aber auch ohnedem weiß ja heute alle Welt, wer dem lebenslustigen und lebensfrohen Prinzen mit der Waffe in der Hand gegenübertrat, um von ihm Rechenschaft zu fordern für die Ehre, die er seiner Schwester geraubt.«109 Da diese rufschädigenden Aussagen von dem Hause Baden nie dementiert wurden, wird man diese Version des Unglücks nicht von vornherein abtun können.110 So oder so, dieser plötzliche Todesfall brachte das Haus Baden in eine äußerst mißliche Lage.
Der preußische Gesandte in Karlsruhe schrieb noch vor der Beerdigung des Verstorbenen an Reichskanzler Bismarck über die politische Tragweite des plötzlichen Ablebens von Ludwig: »Für den Fall, daß S.K.H. der Erbgroßherzog ohne männliche Nachkommen bliebe, wären mit dem Tod des Prinzen die Hoffnungen auf eine direkte Thronfolge vernichtet. Der jetzt 20-jährige einzige Sohn des Prinzen Wilhelm, Prinz Maximilian Alexander, wäre alsdann der letzte erbberechtigte Prinz des badischen Hauses.« Der Wunsch eines jeden fürstlichen Herrscherpaares, die Zukunft der Dynastie durch eigene Kinder zu sichern, schien zerbrochen. Die Herrschaft des Hauses Baden mußte auf anderem Weg gesichert werden.
Als Kaiserin Elisabeth von Österreich die Nachricht vom Tod des ihr persönlich gut bekannten Prinzen Ludwig von Baden erhielt, sprach sie: »Es scheint sich der Fluch zu erfüllen, daß das badische Haus aussterben werde, weil es durch das Verbrechen an Kaspar Hauser zur Regierung gekommen ist.«111 Mit diesem Verdikt über die vom Schicksal geschlagene Familie stand sie nicht allein. So soll sich nach einem Gesandtenbericht aus Karlsruhe auch Friedrich I. nach dem Tod seines Sohnes wieder viel mit der »Caspar Hauser Affaire« beschäftigt haben, »daran trübe Zukunftsgedanken knüpfen«, ja »eine Art von abergläubischer Besorgnis bezüglich des möglichen Aussterbens des Zähringer Hauses nicht los werden können«.112 Und so richtete sich die Hoffnung des Großherzogs und seiner Familie auf den Prinzen Max.