Читать книгу Der Endzeitkanzler - Lothar Machtan - Страница 6
Prolog
ОглавлениеSchon im Urteil seiner Zeitgenossen stellte der Reichskanzler Prinz Max von Baden eine umstrittene Erscheinung dar. Den einen galt er als Totengräber der Monarchie in Deutschland; den anderen als liberaler Überwinder des Obrigkeitsstaates. In seinen Bemühungen um die Beendigung des Ersten Weltkriegs sah man entweder eine friedensstiftende Tat oder schmähliche Kapitulation. Das politische Format dieses letzten Kanzlers des Kaisers wirkt bis heute ambivalent – und phänomenal. Was vor allem damit zu tun hat, daß seine Regierung in die Zeit eines welthistorischen Epochenwechsels fiel: den Übergang des »langen« 19. in das 20. Jahrhundert. War der letzte Kanzler des Kaisers nun ein Mann des untergegangenen oder des aufgehenden Jahrhunderts – oder beides?
Die Umbrüche seiner Kanzlerzeit haben ihn zu einer Figur von historischem Rang gemacht, nicht sein eigenes Handeln. Weder hat er die Politik damals neu definiert noch sich als Meister dieser Kunst profiliert. Doch wenn man näher an die Ereignisse herantritt und den Fokus dabei schärfer auf diesen außerplanmäßigen Staatslenker einstellt, seine Persönlichkeit zugleich auf menschliches Format herunterbricht, verbieten sich starke politische Thesen und relativieren sich alle holzschnittartigen Zuschreibungen. Zum Vorschein kommt mehr als ein Akteur; zum Vorschein kommt das Genrebild einer ganzen Epoche – im Stadium des Zerfalls ihrer politischen Leitkultur. Max von Baden mag ein ephemerer Reichskanzler gewesen sein. Aber allein die Tatsache, daß er der leitende Staatsmann einer Weltmacht werden konnte und seinen politischen Auftritt auf der Bühne derWeltgeschichte hatte, macht ihn außergewöhnlich. Zumal dieser Mann von Haus aus eigentlich ein Unpolitischer war. Nichtsdestotrotz wird man in ihm eine Schlüsselfigur entdecken, sobald man die gesamte Geschichte mit einbezieht, die zwischen 1880 und 1920 Deutschland so nachhaltig verändert hat. In diesem größeren Kontext birgt gerade seine Persönlichkeit einen großen Reichtum an Erkenntnis. Einmal biographisch erschlossen, läßt sie uns intensiv teilhaben am Zeitgefühl des Fin de siècle.
Besonders ist dieses Sujet auch noch dadurch, daß Max von Baden ein Prinz, ein deutscher Fürst war – ein Angehöriger jenes royalen Herrscherstandes, der 1918 fast lautlos aus der politischen Geschichte fiel, die er jahrhundertelang wie kaum ein zweiter mitgeprägt hatte. Sein Lebensschicksal ist nur in diesem dynastischen Kosmos zu verstehen, dem engmaschigen Gewebe von Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb einer großen europäischen Familie; der Gesellschaft der Hocharistokratie mit ihren erhabenen Lebensformen. Aber auch mit desaströsen Kehrseiten, bedingt vor allem durch die notorische Lebensunfreiheit. Gerade die, die »auf der Menschheit Höhen wohnten« (Friedrich Schiller), mußten sich weit mehr als mancher Bürgerliche der Fremdbestimmung ihres Fürstendaseins beugen, wenn sie dort oben bleiben wollten. Sie ließ den Fürsten als Menschen immer wieder an die Grenzen seiner Autonomie stoßen. Mit performativ überformten Halbleben haben wir es hier zu tun; mit Menschen, deren Umgang untereinander, ja mit sich selbst vorzugsweise diplomatischer Natur zu sein hatte. Das war auch der natürliche Lebensraum Max von Badens.
Über die Kultur- und Politikgeschichte hinaus war sein Lebenszusammenhang in fatale, weil unlösbare Widersprüche verstrickt, die den Biographen ganz besonders herausfordern. Der vitale Drang des Prinzen nach einem selbstbestimmten Leben kollidierte so stark mit den Anforderungen seiner hochadeligenWelt, daß er sich immer wieder ungeheure Zwänge auferlegen mußte, um halbwegs zu bestehen. Wiederholt drohte er an fremden wie auch an eigenen Ansprüchen an seine Person zu zerbrechen. Und noch etwas kam hier erschwerend hinzu: Dieser Prinz war ein homosexueller Mann.1 Seine Neigung zum eigenen Geschlecht blockierte ihn enormund erzeugte ein hohes Maß an seelischer Niedergeschlagenheit. Sie machte es zu einer Herkulesaufgabe, seine Lebensführung an die hoheitlichen Normen, die seineWelt beherrschten, anzupassen. Insbesondere was die Zeugung von standesgemäßem Nachwuchs anlangt. Die Kosten der kompensatorischen Erfolge, die er dabei erzielte, waren beträchtlich. Sie wuchsen sich zu einer chronischen Bedrängnis aus, aus der aber erst im Weltkrieg eine existentielle Krise wurde. Bis August 1914 hatte er ein im wesentlichen ästhetizistisches Leben führen dürfen. Dann folgten drei lange und finstere Kriegsjahre, die ihn keinerlei Bewährung finden ließen. Bis Max sich dann 1918 in die Rolle eines neues Marcus Curtius imaginierte, jener Heldenfigur aus der antiken Mythologie, die das Römische Reich durch eine sich selbst opfernde Heldentat rettete. In solchen Phantasien lebend, versuchte er durch den Sprung in das Dunkle der Politik seinem Leben eine Wendung zum Großen zu geben; und sich damit am Ende doch noch auf den Thron des Ruhmes zu heben. Aber zum Helden fehlte ihm der Ehrgeiz, seine Vorgänger im Amt politisch zu überragen. Und mutiger Realismus ist durch ihn auch nicht in die Wilhelmstraße eingekehrt. Nur wenn man um das beschädigte Privatleben dieses Prinzen Bescheid weiß, kann man die Motivation einer solchen Tat ermessen.
Das deutsche Kaiserreich vor drohendem Untergang zu bewahren, das war die Mission – doch bewirkt hat er das Gegenteil. Die Geschichte ging über seine Rettungsbemühungen hinweg und machte ihn dabei zum Revolutionär wider Willen. Was dem Kollateralschaden vom November 1918 folgte, war ein fast zehnjähriger geschichtspolitischer Federkrieg um Rechtfertigung, ja Absolution, dem Max mit 62 Jahren erlag. Da war ihm aber die Welt der Politik schon längst abhanden gekommen auf seinem Salemer Refugium am Bodensee – einer Insel, auf die er wie ein Schiffbrüchiger geflüchtet war und von der er nicht mehr loskam. Das Leben unserer Hauptfigur ist mithin getragen von einem Grundakkord, der sich immer vernehmbarer artikulierte; dem des epochalen Scheiterns. Seine Geschichte ist der Abgesang einer verfließenden Zeit. Und dennoch erklärt sich diese Figur nicht allein als Chiffre einer Epoche, auch diese Figur bedarf darüber hinaus einer individuellen Ausdeutung.
Wie wird man einem solchen Menschen bzw. seinem Leben historiographisch gerecht? Zunächst und vor allem, indemman sich analytisch und sachlich mit ihm auseinandersetzt, akribisch auf dem aktuellen Stand der Forschung.2 Das Buch schöpft aus einer Fülle primärer Quellen. Es untersucht sozial und kulturell strukturierte Lebenssphären, vermißt Handlungsspielräume und bindet so den Lebenslauf seines Protagonisten fortwährend in den historischen Kontext ein. Freilich: Dies ist auch eine Biographie im engeren Sinne – die Geschichte eines Menschenlebens, mit allem, was dazugehört. Dieses Buch will insbesondere erklären, was eigentlich Max’ Unglück war und warum es dieses Leben auf so fataleWeise heimsuchte. Dafür reicht die strengeWissenschaft allein nicht aus. Man muß es auch tragisch nehmen, das heißt intuitiv erfühlen. Anziehend wirkt Max von Baden vor allem durch die Kraft seiner Schwäche. Das kann man nur in menschlichem Licht zeigen. In letzter Konsequenz ist dieser Text, den ein wirkliches Leben geschrieben hat, deshalb auch ein Epos, das durch die Quellen gestützt wird.
Das, was wir bislang über ihn wußten, den Prinzen Max von Baden aus einer Nebenlinie des Hauses Zähringen, war zu wenig, um die historische Bedeutung seiner Persönlichkeit wirklich zu erfassen; aber genug, um das Erkenntnispotential zu erahnen, das in einer vollgültigen Biographie dieser Übergangsfigur schlummert.3 Allerdings ist es eine Herausforderung der ganz besonderen Art, diese Möglichkeit empirisch zu erschließen. Der schriftliche Nachlaß des Protagonisten wird von seinen Nachkommen unter Verschluß gehalten.4 Das erschwert die Arbeit des Historikers, ist aber zugleich aufschlußreich, wenn man diese Einstellung des Hauses Baden unter geschichtspolitischen Aspekten betrachtet.5
Dennoch ist es nicht so, daß Leben und Persönlichkeit in kein sicheres Licht mehr treten könnten. Es haben sich auch jenseits des Archivs von Schloß Salem genügend primäre Quellen überliefert, die eine umfassende Biographie ermöglichen. Besonders sogenannte Egodokumente, in denen Prinz Max offen seine persönlichen Ansichten und Befindlichkeiten artikuliert sowie sein Tun und Lassen rechtfertigt. Seine Briefe an enge Vertraute wie den Leibarzt und Freund Axel Munthe oder die mütterliche Freundin Cosima Wagner zählen dazu, außerdem seine jahrzehntelange Korrespondenz mit dem Jugendfreund »Ernie«, dem späteren Fürsten Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, oder auch mit dem Seelsorger Johannes Müller, seinem Lebensberater. Insofern steht diese Biographie selbst dort auf einem stabilen empirischen Fundament, wo sie von sehr Privatem handelt und sich auf den emotionalen Charakter unserer Titelfigur einläßt.6 Was schließlich das öffentliche Leben Max von Badens anlangt, so kann man über einen Mangel an aussagekräftigen Quellen erst recht nicht klagen. Das gilt für die Geschichte des Großherzogtums Baden mit seiner Herrscherdynastie, aber auch für die nationalstaatliche, die Reichsebene. So gibt es genügend Dokumente, die das politische Drama rekonstruieren helfen, wie das Bismarckreich 1917/18 implodierte,7 und nachvollziehbar machen, wie es kam, daß ausgerechnet der Anwärter auf den großherzoglichen Thron in Karlsruhe zu dem Berliner Ensemble stieß, das diesen Untergang zu exekutieren hatte.8
Das Leben des Menschen Max von Baden weist wesentlich mehr Profillinien auf als das des Prinzen oder gar des Politikers. Gleichwohl betrachte ich dies alles gemeinsam, indem ich das menschliche Wesen, die Fürstennatur und den Staatsmann als integrale Einheit darzustellen versuche. Aber: »Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.« (Franz Kafka)