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Kapitel 2 Zwischen Pflicht und Neigung. Portrait des Prinzen als junger Mann
ОглавлениеIm deutschen Dreikaiserjahr 1888, dem Jahr der »Schicksalswende«, war Max von Baden 21 Jahre alt. Er trat nun in die Kernphase seiner Fürstensozialisation ein. Dieser Lebensabschnitt dauerte etwa ein Jahrzehnt und endete mit dem Tod seines Vaters 1897, ein weiteres einschneidendes Ereignis; allerdings nicht zu vergleichen mit dem Tod seines Vetters Ludwig, der ihn aus der Unbeschwertheit seines Universitätsstudiums herausgerissen und sein Leben ganz neu ausgerichtet hatte. Das erwies sich nur nach außen hin als problemlos. Innerlich konfrontierte ihn diese Zeit mit Herausforderungen, die ihm viel abverlangten: an Anpassungsbereitschaft, an psychischen Belastungen und auch an schmerzlichen Erfahrungen.
Und um ihn herum in Deutschland, was geschah da? Um es gleich vorwegzunehmen, es geschah nichts, was ihn ernsthaft interessiert hätte – und doch ist es sehr wohl der Rede wert. Denn in den für den Prinzen Max formativen Jahren konsolidierte sich das 1871 aus der Taufe gehobene Bismarckreich nach außen, und auch ein bemerkenswertes Stück weit nach innen. Die Gründung des preußisch dominierten kleindeutschen Nationalstaates war zwar nicht demokratisch legitimiert, doch das Gebilde fand trotzdem zunehmend Akzeptanz bei der Mehrheit seiner Bevölkerung. Die politische Kultur begann sich seit den späten achtziger Jahren tiefgreifend zu wandeln; einerseits richteten sich die Medien, die politischen Parteien und die Verbände nun stärker als je zuvor der gesamten Bevölkerung zu – die mit dem Wort »Masse« umschrieben und in dieser Zeit als Phänomen und als politische Kraft »entdeckt« wurde; andererseits waren diese Jahre die Geburtsstunde des Deutschnationalismus, der in den folgenden Jahrzehnten immer stärker wurde und sich ideologisch zunehmend radikalisierte. Wirtschaft und Gesellschaft erlebten in dieser Zeit eine rasante Modernisierung, die vor allem durch das Bürgertum getragen wurde, das zunehmend die Hochkultur, das Bildungssystem und den Wissenschaftsbetrieb dominierte. Es begann sich sogar langsam von den traditionellen adeligen Eliten zu emanzipieren. Der konjunkturelle Aufschwung vermehrte den Reichtum bestimmter Schichten enorm, erzeugte aber auch Partizipationsprobleme. Die soziale Ungleichheit wurde strukturell festgeschrieben, so daß sich im Reich und in den Einzelstaaten die polarisierten Klassen gegenüberstanden; das barg ein hohes Potential an Spannungen und Konflikten. Zeitgleich entstand die moderne Arbeiterbewegung, die Bismarck versuchte zuerst durch das Sozialistengesetz zu bekämpfen und später durch die Sozialreformen von links zu überholen. Doch ihr Vormarsch schien nun unaufhaltsam. Schließlich vollzog sich in dem besagten Jahrzehnt der politische Übergang von Bismarcks autoritärer Reichskanzlerschaft zu dem Versuch Kaiser Wilhelms II., eine persönliche Monarchie aufzubauen.
Es war die Geburtsstunde der klassischen Moderne unter den Bedingungen des preußisch-deutschen Wilhelminismus. Doch die meisten Anzeichen dieser neuen Zeit gingen spurlos am Prinzen Max vorbei. Das lag daran, daß die rasante Beschleunigung dieser Epoche die Welt der Monarchen kaum tangierte. Die historische Tatsache einer sich dynamisch verändernden Gesellschaft war das eine, das subjektive Bild eines kognitiven Stillstands im unmittelbaren Lebenszusammenhang des Prinzen Max das andere. Dort enorme Entwicklungssprünge nach vorn in das moderne Zeitalter, hier eine rückwärtsgewandte Stagnation unter der Glocke exklusiver Hochadelskultur. Aber noch etwas kam hinzu. Der junge Prinz blieb weitgehend auf sich selbst bezogen, die ganze Zeit über war er vollauf damit beschäftigt, sich an seine neue Situation zu gewöhnen – und in seinem eigenen Leben als angehender Fürst anzukommen.