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Familienbande und eine schwere Hypothek
ОглавлениеAls Thronanwärter war Max eine Rolle zugewiesen worden, die ihn überforderte. Mit Autosuggestion, Vernunftanstrengung und kleineren Fluchten hatte er sich seit dem Ende der achtziger Jahre nicht ganz erfolglos an Überlebensstrategien versucht. Auch die Freundschaft mit Ernst zu Hohenlohe brachte immer wieder Momente der Lebensfreude hervor. Aber dem jungen Mann bedurfte es noch an weit mehr, um den Anmutungen seines Daseins standzuhalten und in einem richtigen Fürstenleben anzukommen – empathischer Umsorgung nämlich. Und die suchte und fand er auch in den neunziger Jahren immer noch zu Hause bei seiner Familie.
Nicht bei seinem Vater Wilhelm, bei dem er einen »Halt leider nie finden« konnte.224 Umso mehr vertraute er aber auf seine Mutter und seine zwei Jahre ältere Schwester »Mary«. Prinzessin Marie von Baden hatte etwa zeitgleich mit Max das Elternhaus verlassen, indem sie im Sommer 1889 den Erbprinzen Friedrich von Anhalt heiratete und nach Dessau zog.225 Ihre kinderlose Ehe galt als ausgesprochen unglücklich,226 und die Homosexualität ihres Mannes dürfte das Zusammenleben weiter erschwert haben.227 Auch Mary bedurfte also wie ihr Bruder des Zuspruchs durch das Elternhaus. 1892 traf sich Max mit den beiden Frauen zur gemeinsamen Sommerfrische in Scheveningen, was alle drei sehr goutierten.228
Im September 1893, unmittelbar nach einem weiteren Badeurlaub mit der Schwester an der holländischen Nordsee,229 wurde Max’ Bedürfnis nach einer längeren Auszeit offenbar so groß, daß sich bei ihm mitten im Herbstmanöver ein »plötzliches Unwohlsein« einstellte und er beschloß, »nach Hause zu reisen, um mich einer strengen Kur zu unterwerfen«.230 Nach Hause meinte in diesem Fall nach Schloß Kirchberg am Bodensee, wo ihm denn auch gleich »die Ruhe und das Zusammensein mit Mama und Mary sehr gut« taten. Aus der Kur wurde ein mehrmonatiger Aufenthalt in Baden, nur gelegentlich unterbrochen durch kurze Reisen nach Berlin.231 Diese ganze Zeit über war Max »leidend«;232 er tat sich schwer damit, wieder zu Kräften zu kommen. Andererseits hatte er nun viel Zeit für sich selbst und für seine Mutter. Zusammen mit ihr – und ohne Vater – besuchte er häufig das großherzogliche Herrscherpaar oder musikalische Soireen, zusammen mit ihr spielte er Klavier oder sie fuhren gemeinsam nach Paris. Die Monate Februar bis Mai brachte er allerdings allein in Italien zu, bevor er im Juli und August weitere Erholung in Scheveningen suchte. Dort hatte er dann den »göttlichen Gedanken«, noch zur letzten Aufführung der Wagner-Festspiele nach Bayreuth zu fahren, »wo alle Gefühle gesteigert werden und im Spiegel der herrlichen Musik an Wahrheit und Intensität zunehmen«.233
Doch er konnte sein Leben auch durch solche Fluchten nicht umlenken. Der Süden, die Nordseefrische, Bayreuth – das alles durfte er sich gönnen, aber danach mußte Max sich sogleich seiner vordringlichsten dynastischen Pflicht widmen und wohl oder übel auf Freiers Füßen nach St. Moritz gehen; von dort kehrte er mit dem bereits erwähnten Mißerfolg ziemlich mutlos in den Schoß seiner Familie zurück. »Ich weiß auch, daß keiner mir raten kann, und ich den Kelch allein trinken muß«, schrieb er an seinen Freund: »Mama ist natürlich auch betrübt darüber für mich und für sich, und so sehe ich mit Freuden auf Marys Ankunft heut Abend, mit der ich über alles sprechen kann«. Die Gegenwart der Schwester wirkte dann in der Tat wieder tröstlich, ja »erheiternd auf mich, ihr guter Humor und ihre untrübbare Heiterkeit bei vollem Verständnis für andrer Leute Sorgen ist wohltuend in hohem Grade«.234
Inzwischen hatte sich die Familie im aufwendig restaurierten Fürstenkloster Salem aus dem 17. Jahrhundert ein neues Domizil eingerichtet.235 Der bis heute nahezu unveränderte Herrschersitz in landschaftlich bester Lage war Herzstück jenes Bodensee-Fideikommisses des Hauses Baden, dessen Nießbrauch sich Max seit 1889 mit seinem Vater teilte.236 Er selbst hat das Anwesen gegenüber Cosima Wagner sehr anschaulich beschrieben: »Das Schloß, in dem wir leben, ist ein altes Kloster, einst berühmt durch seinen Reichthum und ausgedehnten Grundbesitz. […] Es liegt eine gute Meile nördlich des Bodensees, am Rande eines ausgezeichneten Wiesenthals, ringsum bewaldete Höhen. Im Süden sieht man in weiter Ferne die schneebedeckten Alpen emporragen. Es ist ein schönes und friedliches Stück Erde, anregend durch die Mannigfaltigkeit seiner Gegend, einladend zum Nachdenken durch seine Stille und seine weiten Hallen, die von vergangener Zeit zu uns reden.«237
Schloß Salem, Wohnflügel der Prinzenfamilie
Sein weltabgeschiedenes Leben dort hat er Cosima gleich konkret beschrieben: »Morgens früh reite ich gewöhnlich aus. Es ist das hier ein besonderes Vergnügen. Wenige Schritte bringen einen mitten in den schönsten Wald, bald steigt man in demselben einen Hügel hinan, bald öffnet sich einem auf der Höhe eine überraschende Aussicht, hübsche Dörfer zwischen Hügeln und Obstbäumen, bewaldete Hänge, Wiesenthäler, in der Ferne der sonnenbeschienene blaue Bodensee vom Alpenfirne überhöht. Oft möchte man vor Freude aufjauchzen. Dann wendet man sich wieder nach dem Waldesdunkel zurück, in welchem das Sonnenlicht wunderbar spielt und webt. Hier und da schrickt das Pferd zusammen, wenn ganz nah ein aufgeschrecktes Wild das Weite sucht. – In’s Haus zurückgekehrt widme ich mich meinen Büchern und meiner Korrespondenz. […] Die Nachmittage sind meist durch lange Fahrten und Spaziergänge ausgefüllt. Wenn es dann Abend geworden ist, gehen meine Schwester und ich in die Kirche. Meine Schwester setzt sich an die Orgel und eine Anzahl Kinder aus dem nahen Dorf singt Marienlieder und andere geistliche Gesänge. Ich singe die zweite Stimme.« Kein Wunder, daß Max Schloß Salem für den Rest seines Lebens zum mentalen Ankerplatz und zur Erholungsstätte seines Geistes machte. Ein geeigneteres, ganz auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Refugium, das sich zugleich zum repräsentativen Lebensmittelpunkt eines Fürsten eignete, hätte er kaum finden können. Wir werden ihn in den nächsten Jahren privatim immer wieder dort antreffen.238
Im September 1895 »eilte« Max wieder »auf unser stilles Kloster Salem«, wo seine Mutter den Tod einer Freundin betrauerte. »Wie in Allem war sie auch groß in ihrem Schmerz, und die Gespräche, welche wir alltäglich in der Dämmerstunde mit einander hatten, gehören zu den erhebendsten Erinnerungen meines Lebens.« Das seien für ihn »stille und glückliche Tage« gewesen, resümierte Max seinen Liebesdienst an der Mutter.239 Übrigens hatte er erst im Vormonat wieder »im lieben Scheveningen« mit Schwester Mary noch eine schöne Zeit verbracht.240 Auch der fast 30-Jährige bedurfte immer noch der beiden, traf aber seinerseits auf die offenbar große Liebebedürftigkeit von zwei Frauen, denen es in ihrer Ehe an Lebensglück und -freude mangelte. Aus dieser Konstellation erwuchs eine wechselseitige Abhängigkeit. Ein solches Verhältnis förderte kaum die Eigenständigkeit des Prinzen. Optimismus, Vertrauen in die eigene Fähigkeit, mentale Widerstandskraft – all das konnte er, fixiert auf diese beiden Bezugspersonen, kaum ausbilden.
Verantwortlich dafür war und blieb das gestörte Verhältnis zum Vater. Erst Prinz Wilhelms tödliche Erkrankung im Winter 1896 änderte dies, wie Max seinem Freund Ernst schrieb: »Er ist durch sein Leiden merkwürdig mild geworden, geht auf alles freundlich ein und zeigt viel mehr Verständnis für anderer Leute Sorgen.«241 Als Prinz Wilhelm von Baden am 27. April 1897 starb und vier Tage später in Karlsruhe feierlich zu Grabe getragen wurde,242 hielt sich das Trauerleid der Angehörigen trotzdem in engen Grenzen. Der Erbprinz Friedrich von Baden schrieb im Namen seiner Eltern an seinen Schwager Gustaf von Schweden: »So schwer der Verlust für uns Alle ist – der gute Onkel war seit meiner frühesten Kindheit von stets weniger Liebe und Freundlichkeit für mich – so müssen wir bey Gott danken, daß er den Entschlafenen vor noch schlimmeren Qualen bewahrt hat«.243 Die Witwe teilte der Schwester des Verstorbenen mit, sie selbst fühle sich nun von ihren »Verpflichtungen befreit, daß ich ihm über alles, was ich mache, berichten muß. Vor allem bin ich eine glückliche Mutter und ich bin von den Meinen so wie von meinen Kindern geliebt; dann fühle ich mich von einer so gefühlsbetonten Atmosphäre aus allen Seiten getragen, daß mein Herz nur Dankbarkeit ist.«244 Dieser Gattentod – so darf man folgern – hatte keine unauffüllbare Lücke in ihr Leben gerissen; Max’ Mutter hat diesem Hinscheiden eher etwas Positives abgewonnen.
Und Max? Ihm war am wichtigsten, »Mama jetzt nahe zu bleiben und einen Teil der Liebe, die sie mir in so reichem Maße gegeben hat, wiederzugeben«.245 Seine spontane Idee ging dahin, »das Leben meiner Mutter neu zu gestalten und ihr beizustehen in allen Fragen, die sie bewegten«. Er machte »Pläne für die nächste Zukunft«, mit »Reisen und neuen Eindrücken für sie«.246 Er wollte gleichsam an die Stelle des Verstorbenen treten, die Mutter entschädigen für das, was der Gatte ihr in Max Augen vorenthalten hatte. Über den Tod des Vaters schrieb er an Cosima Wagner: »Draußen war der Frühling ins Land gekommen, der erste Morgensonnenstrahl fiel eben in den Garten, und die Vögel jubelten dem jungen Tag entgegen, als der Tod in das Sterbezimmer trat. Es war ein unbeschreiblich feierlicher nie zu vergessender Augenblick.« Er sei »erschüttert« gewesen »durch den Anblick des Sterbens. Das Geheimnisvolle, Wunderbare des Auslöschens des irdischen Daseins.« Danach hätte er aber gleich »eine erdrückende Menge Arbeit« gehabt. Seinem alten Freund Ernst gegenüber hat er sogar ganz freimütig bekannt: »ich war so weit gekommen, Papas Ende herbeizuwünschen, weil ich den Zustand für meine beiden Eltern als unhaltbar erkannte«.247
Der Tod des Vaters machte Max zum Fürsten – mit allem, was dazugehörte: Vermögen, Residenzschloß, höherem Gardeoffiziersrang und einem Platz im Geflecht der europäischen Herrscherfamilie; überdies gab er eine attraktive, kultivierte und liebenswürdige Erscheinung ab mit tadellosen Manieren, feinem Esprit und Noblesse – einen exzellenten Heiratskandidaten für alle (nichtkatholischen) Dynastien. Er war nun zu Hause sowohl im Kurialsystem der monarchischen Welt wie in der Rollenspielkunst eines vielversprechenden Agnaten aus angesehenem Haus. Er wußte, wie wichtig es für ihn und für sein Image war, weder sein persönliches Gesicht noch das seiner gesellschaftlichen Rollen zu verlieren. Die Pflicht zur Performanz verlangte, daß manches in seinem Leben unsichtbar blieb. Den Preis für diesen fürstlichen Mehrwert hatte der Mensch zu zahlen, der ein unverfälschtes Leben nicht zu führen vermochte. Der darum innerlich nicht gesund wachsen konnte und auch zu Beginn seines vierten Lebensjahrzehnts noch extrem schutzbedürftig und irgendwie zerrissen war. Der sorgenvoll blieb.
Max’ Widerwillen gegen sein Leben als Prinz war das Symptom eines ernsten Leids. Die andauernde Unzufriedenheit hing zusammen mit seiner Homosexualität. Einiges weist darauf hin, daß ihn bereits seine Pubertät damit konfrontiert hatte und er mit seinem sensiblen, wenig männlichen Verhalten aneckte – vor allem bei seinem Vater. Zusammen mit der viktorianischen Sittenstrenge muß dies schon früh psychischen Druck in ihm erzeugt haben. In Berlin scheint sein Weltschmerz erst einmal zurückgegangen zu sein, da er sich hier mit seiner Homosexualität nicht länger allein zu fühlen brauchte. Doch je mehr er seine Bestimmung zum künftigen Thronerben innerlich akzeptierte, umso stärker mußte er sich selbst fremd werden. Das Unglück dieses Lebens nahm nun Konturen an.
Ein politischer Kopf war er nach dreißig Lebensjahren nicht geworden. Allerdings muß man einräumen, daß es vorrangig auf das unzeitgemäße Wesen der fürstlichen Standeskultur verweist, wenn Max sich der Dynamik und den politischen Herausforderungen seiner Zeit nicht gewachsen zeigte. Die leistungsorientierte, aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft war für den Hochadel nicht maßgebend. Die meisten Mitglieder des Herrscherstandes sahen sich als Auserwählte durch gottbegnadete Geburt. Sie lebten in einer Parallelwelt, die sich nur an eigenen Maßstäben maß und messen lassen wollte. Vieles wollte man bewußt nicht wissen, um die Aufmerksamkeit gegenüber der »anderen« Welt zu reduzieren, um vor unliebsamen Erkenntnissen sicher zu sein.248
Man wird dies als eine anthropologische Konstante in Rechnung stellen müssen. Max gehört in eine uns heute fremd gewordene Kultur und Zeit, der sein Leben als Schauspiel vor adeliger Kulisse gab, was immer auch etwas von Erfüllungsschauspielerei hatte. Er selbst war sich dessen wohl bewußt, reflektierte er doch sein Handeln und besaß die Fähigkeit zur Introspektion. Eigentlich wollte er seine Selbstachtung nicht verlieren, aber letztlich fügte er sich in die vermeintlich unabänderliche Notwendigkeit. Was blieb, um das innere und das äußere Leben halbwegs in Einklang zu bringen, war Selbstverstellung. Dies erinnert in manchen Zügen an ein typisch bürgerliches Syndrom im Fin de siècle.249 In Max’ ausgeprägter Passion für die bürgerliche Kunst ist eher ein persönliches Überlebenselixier zu sehen, als das man von einer »Verbügerlichung« sprechen könnte. Seine Ambivalenz bestand nicht darin, halb Prinz, halb Bürger zu sein – er wollte halb Prinz, halb Mensch sein.
Der Hochadel als Leidtragender des »nervösen Zeitalters«. Karikatur Simplicissimus, 1913
Diese Zeit war geprägt durch eine manisch-melancholische Stimmungslage, als deren Thema durchaus der Sexus in allen Variationen angesehen werden kann.250 Es war insbesondere die Femme fatale, die im späten 19. Jahrhundert nicht nur zu einem Leitmotiv der Kunst aufgestiegen war,251 sondern auch eine neue Phase des Geschlechterkampfes einläutete; etwa im Motiv der Salomé, die zu einem Sinnbild der sexuellen Phantasien dieser Epoche wurde und zugleich weitere Sexualnöte und -ängste provozierte.252 Zeitgleich hatte sich eine zumeist unspezifische Nervosität zur Modekrankheit der Jahrhundertwende entwickelt. Speziell die Neurasthenie versammelte die Symptome der an der Moderne leidenden Zeitgenossen: Angst, Melancholie, Verunsicherung. Daß dieses epochenspezifische Nervenleiden gerade auch den hohen Adel heimsuchen mußte, ergab sich aus seinen Orientierungsproblemen in einer aus den Fugen geratenen Welt.253
Max’ besonderes Problem bestand darin, daß seine Homosexualität am Ausgang des 19. Jahrhunderts moralisch wie gesellschaftlich zusehends verfänglicher wurde, wie die spektakuläre Verurteilung des Dichters Oscar Wilde 1895 in England zeigte. Vergeblich hatte sich in Deutschland seit Karl Heinrich Ulrichs die Homosexualforschung darum bemüht, daß ihre Theorien über das Phänomen der – »Inversion« oder »Päderastie« genannten – Liebe unter Männern anerkannt wurden, die dieser zu moralischer Gleichberechtigung gegenüber der »normalen« Sexualität verhelfen und vor allem ihre Straffreiheit erwirken sollten.254 Aber selbst im humanmedizinischen Diskurs hatte sich die Meinung durchgesetzt, wonach die Homosexuellen unter einer »Verirrung« ihrer sexuellen Neigungen litten, die wiederum so etwas wie eine sittliche Farbenblindheit bei ihnen erzeuge. Diese Pathologisierung nahm die »Invertierten« gnadenlos in die moralische Pflicht, sich eben als »Kranke« therapieren und dadurch »normalisieren« zu lassen.255 Nur wenn sie sich aktiv um Transformation in die heterosexuelle Richtung bemühten, konnten sie weiterhin auf Akzeptanz, Diskretion und auf Unterstützung ihrer Lebenspläne und Karrieren rechnen.
Vor diesen Hintergrund, vor diesen Ängsten spielt sich Max’ weiteres Leben ab. Ein Leben, das den musisch-künstlerisch Interessierten, den empfindsamen Mann der Salonkultur immer weiter in eine Rolle drängt, der er nicht gewachsen scheint.