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In ärztlicher Spezialbehandlung
ОглавлениеOhne sich bei Axel Munthe noch einmal ausdrücklich rückzuversichern, hatte Max im Mai 1899 das unglückselige Projekt »Heirat« beendet. Der Arzt reagierte darauf mit einer Gardinenpredigt, die der Gescholtene zwar für berechtigt hielt, sich aber gleichzeitig glaubhaft rechtfertigen konnte: »Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, daß der Bruch von der anderen Seite ausging, am meisten von der Brautmutter. Meine Nerven waren bis zum Äußersten angespannt durch Überarbeitung, anhaltenden Druck und schmerzliches Bedauern darüber, meine Freunde und mein geliebtes Regiment verlassen zu müssen. […] Dann kamen meine alten Zweifel zurück und verstärkten sich jetzt natürlich auch noch durch die erfolgten Angriffe [die Beleidigungen], und das machte mich fertig. [Wilhelm] Erb überwies mich zur Behandlung an [Richard von] Krafft-Ebing, und unter dessen ärztlicher Obhut werde ich mich jetzt zur Sanation nach Purkersdorf in der Nähe vonWien begeben. Worin die Therapie bestehen wird, weiß ich nicht genau. Aber Hypnose soll eine wichtige Rolle spielen.« Sowohl von Erb als auch von Krafft-Ebing habe er gute Eindrücke gewonnen. »Sie verstehen die ganze Tragweite meiner Lage und brachten sie auf den Punkt. Strikte Geheimhaltung etc […]. Bis heute habe ich die Hoffnung, mit einem unbefleckten Namen aus der Krise wieder herauszukommen.« Als »Herr von Kirchberg« werde er in Unterpurkersdorf in der Villa Kronprinz Quartier nehmen. »Ich werde Dich auf dem Laufenden halten und hoffe sehr, Dich innerhalb der nächsten Monate wiederzusehen. Du weißt, daß ich stets Dein dankbarer Freund Max sein werde.«125
Durch den Brief sind wir einigermaßen im Bild darüber, was Max tatsächlich zu diesem Verzweiflungsschritt getrieben hat. Er brauchte professionelle Hilfe, und die holte er sich bei zwei Koryphäen der Neurologie und Psychiatrie. »Neurasthenie und Angstneurose auf sexueller Grundlage« könnte die zeitgenössische Diagnose gewesen sein.126 Daß der psychopathologisch durchaus versierte Heidelberger Universitätsprofessor Erb ihn an seinen Wiener Kollegen Krafft-Ebing überwies, zeigt, es war ein Therapeut gefordert, der sich auf die Heilung von Sexualneurosen spezialisiert und dafür eigens in Unterpurkersdorf ein Sanatorium eingerichtet hatte.127 Max vertraute sich Krafft-Ebing – von seiner Herkunft übrigens Badener und am Karlsruher Hof hochgeschätzt128 – an, weil er offenbar guter Hoffnung im Hinblick auf dessen Heilungsversprechen war. Dennoch sollte der Wiener Neurologe trotz verwandter Methoden (Hypnose) seinen Freund Munthe auch als Seelenarzt keineswegs ersetzen. Vielmehr scheint auch Max von Baden sich damals in jene »therapeutische Mentalität« hineingelebt zu haben, die eine der charakteristischen Signaturen des »nervösen Zeitalters« war.129
Für sein Innenleben hatte seine Entlobung katastrophale Folgen – weit über die öffentliche Wirkung hinaus. Schlimmer noch war, daß selbst vertraute Menschen nichts von den wahren Gründen wissen durften. So spricht Max seinem Freund Ernst in einem Brief aus »U.P.« zwar davon, daß er unter den Ereignissen der letzten Monate »sehr schwer gelitten habe«, und er macht auch gar kein Hehl daraus, daß er »in den Nerven herunter« sei. Doch als es darum geht, wie er wieder auf die Beine zu kommen gedenke, da versagt ihm offenbar die Feder, und er verliert sich in vagen Andeutungen: »Ich habe mich jetzt in die absolute Einsamkeit zurückgezogen und lebe in einem kleinen Ort in den Bergen unweit des Semmering unter falschem Namen. […] Du hast Dir Dein Glück verdient. Ich muß es noch tun, und daher werde ich ›der Leiden Pfade‹ geführt.«130 In einem Gesandtschaftsbericht aus Karlsruhe heißt es: »Der Prinz ist leider wirklich durch die Ereignisse der letzten Wochen schwer betroffen und körperlich so mitgenommen, daß er auf Anraten des Professor Erb in Heidelberg eine längere Kur gebrauchen muß«.131 Seine zweieinhalbmonatige sexualtherapeutische Behandlung im Privatsanatorium von Krafft-Ebing blieb Staatsgeheimnis.
Max hatte wohl gut daran getan, sich einem Experten anzuvertrauen. Schon nach vierwöchiger Behandlung durch Krafft-Ebing hatte sich nach eigenen Angaben sein »Seelen- und Nervenzustand bedeutend beruhigt«. Er glaubte nun fest daran, »daß es kaum der Mühe wert gewesen wäre, für so ein zweifelhaftes Glück Alles an Kraft und Gefühl einzusetzen«.132 Gemeint war die Ehe mit Großfürstin Elena. So konnte er sich endlich entlastet fühlen. »Unter diesen Umständen« – kommentierte Ernst diese erstaunlich rasche Überwindung des »schlimmen Erlebnisses« durch Max – »läßt sich hoffen, daß er sich doch noch zu einem neuen Versuch [zu heiraten] entschließen wird«.133 Und tatsächlich, schon im Oktober 1899 stand der Prinz von Baden erneut im Begriff, auf Freiersfüßen zu wandeln – auch wenn er dieses Mal die Angelegenheit selbst in die Hand nahm. Stellt sich die Frage, was ihn zu dieser erstaunlichen Offensive motiviert hat. Die Krankenakte im Sanatorium Unterpurkersdorf hat sich nicht erhalten, und auch sonst finden sich in den nachgelassenen Papieren von Krafft-Ebing keinerlei Zeugnisse über einen Patienten »Kirchberg«, alias Max von Baden.134 So sind wir, um die entsprechenden Vorgänge vorsichtig zu rekonstruieren, vor allem auf medizinhistorische Quellen angewiesen. Wie wurde eine sexualneurotische Störung wie bei Max durch Krafft-Ebing und seine Mitarbeiter untersucht und behandelt?
Der 1840 in Mannheim geborene Krafft-Ebing war 1863 in Heidelberg promoviert worden.135 Nach Stationen an der Großherzoglich Badischen Landesirrenanstalt Illenau bei Achern und in einer Privatpraxis in Baden-Baden wurde er 1872 Professor an der Reichsuniversität Straßburg und übernahm ein Jahr später den Lehrstuhl für Psychiatrie im österreichischen Graz, wo er 1886 auf dem Rosenberg das Privatsanatorium »Mariagrün« eröffnete, das rasch zu Weltruf kam – nicht zuletzt durch seine prominenten Privatpatienten. Im gleichen Jahr erschien seine immer wieder neu aufgelegte »klinischforensische« Studie: Psychopathia sexualis, die seinen Ruf als Sexualforscher und -therapeut begründete. 1888 folgte der Bestseller Eine experimentelle Studie auf dem Gebiete des Hypnotismus, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Im Herbst 1889 wurde Krafft-Ebing zum Professor für Psychiatrie und Neuropathologie an die Wiener Universität berufen. Dort eröffnete er Mitte der achtziger Jahre in dem nahegelegenen Unterpurkersdorf ein Privatsanatorium,136 wo sein Assistent Doktor Alfred Fuchs als seine rechte Hand wirkte. Ihn hat er dort, wie Fuchs rückblickend schrieb, 1897 speziell in das Gebiet der »Psychotherapia sexualis« eingeführt und »mit der Therapie eines großen Teils seiner Patienten beauftragt«.137 Der Mediziner und Neuropathologe Krafft-Ebing erhielt aufgrund seiner Integrität und Liebenswürdigkeit, die seine Fachkompetenz noch einmal enorm aufwertete, immer mehr Zulauf aus zumeist höheren und höchsten Kreisen. Der Neurologe galt als äußerst diskret und vertrauenswürdig, zeigte exzellentes Benehmen, diplomatische Fähigkeiten und bediente sich einer streng individualisierenden Behandlungsweise. Krafft-Ebings Erfolg habe wesentlich darauf beruht, daß er seinen Patienten, »die sich darum rissen, ihm ihre Geschichte zu erzählen, anstelle des kulturell versinkenden Beichtstuhls ein neues seriöses Forum bot«.138 Dazu einen luxuriösen Kurort in bester Lage, ohne die Angst, psychiatrisch stigmatisiert zu werden. Hinzu kam, daß Krafft-Ebing ein außerordentlich feinfühliges Sensorium für die neurasthenische Verfaßtheit der Epoche ausgebildet hatte, die ihn mit großer Gelassenheit die innere Unrast seiner Patienten schon fast als normal, jedenfalls zeittypisch ansehen ließ.139
Als er 1902 verstarb, vereinnahmte ihn der damalige Prophet der homosexuellen Emanzipation, Magnus Hirschfeld, als einen der »hervorragendsten Vorkämpfer unserer Bewegung«, der sich »der Homosexuellen mit größter Energie angenommen« habe.140 Eine solche Würdigung war gerechtfertigt, da Krafft-Ebing noch kurz vor seinem Tod in Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen auf durchaus sympathetische Weise diese »konträre[n] Sexualempfindung« beschrieben hatte.141 Als Nervenarzt konstatiert er besonders die »zugleich mit ihr [der Homosexualität] vorfindlichen Neuro- und Psychopathien« und definierte sie als »durch die konträre Sexualempfindung vermittelte neurotische oder psychische Krankheitszustände«. In diesem Zusammenhang bezieht er sich ganz konkret auf einen Patienten, der ihn deshalb aufgesucht habe, »da er seiner Widerstandskraft gegen männliche Attraktionen mißtraute«. Krafft-Ebing nahm sich seiner mit Erfolg an: »Unter antineurasthenischer Behandlung und hypnotisch suggestiver Kur mit dem Zweck, ihm Abscheu vor Masturbation und vor Männerliebe einzupflanzen (Pat[ient]. erwies sich ziemlich hypnotisierbar und suggestibel), gelang es, ihn dauernd von homosexuellen Neigungen zu befreien und dem Weibe gegenüber potent zu machen.«
Sein Assistent Alfred Fuchs geht in seiner Studie Therapie der Anomalen Vita Sexualis bei Männern genauer auf die Heilmethoden ein, die 1899 angewandt wurden, also in dem Jahr von Max’ Aufenthalt im Sanatorium Purkersdorf.142 Bei der Kur gehe es zunächst einmal um die Beseitigung der neurasthenischen Beschwerden durch diätetische und andere, auch medikamentöse Applikationen. Ziel dieser vorbereitenden Maßnahmen sei eine möglichst streßfreie, einfache, aber durchaus kontrollierte Lebensführung. Danach erst beginne »die Psychotherapie, die Suggestivbeeinflussung«, für die der Patient in ein sogenanntes engourdissement, in Erstarrung oder Hypnose, versetzt werden müsse, und zwar durch Fixation von Auge zu Auge sowie durch Streichen über die Stirn. Über zwölf bis dreißig Sitzungen hinweg werde dann die immer gleich lautende Suggestivformel gesprochen, »für kräftige Erection« oder »Männer zu meiden und ausschließlich das Weib schön und begehrenswert finden«. Die »wichtigste und wertvollste prophylaktische Maßregel« zur Vermeidung von Rückfällen – so das Fazit – sei aber schließlich die Ehe und deren periodisch wiederkehrender Vollzug. Es gelte die Patienten anzuleiten, die Therapie durch »systematische Autosuggestion« fortzusetzen und zugleich strengste Selbstzucht zu üben.143
Krafft-Ebing stand bis zu seinem Lebensende zu dem medizinischen Ansatz, durch suggestive psychische Therapie namentlich »der homosexualen Komplexe« das Seelenleben der Patienten in heilbringender Weise beeinflussen zu können.144 In der letzten von ihm noch selbst besorgten 12. Auflage seiner Psychopathia sexualis heißt es 1902 über die »Homosexualen«, daß der Beischlaf mit einer Frau für sie ein schweres Opfer bedeute.145 Bei der ärztlichen Behandlung solcher Fälle reflektierte er vor allem auf solche Urninge, »die durch die Verhältnisse zum Heiraten gezwungen sind und mit Recht an ihrer Potenz zweifeln«. Von größtem Wert für die Diagnose sei deshalb die detaillierte Ermittlung der zu sanierenden Vita sexualis, denn es gehe zunächst darum, die dort entstandene Neurose zu beseitigen. Die »[p]sychische Behandlung im Sinne einer Bekämpfung homosexualer und der Förderung heterosexualer Gefühle und Impulse« stehe im Mittelpunkt der eigentlichen Therapie. Und hier könne »nur eine Methode der psychischen Behandlung – die Suggestion – Hülfe bringen«. Wenn möglich sollten jeden zweiten Tag Sitzungen mit engourdissement bis Somnambulismus abgehalten und dabei den Patienten drei Suggestionen eingegeben werden. Variante A: »1. Ich kann, darf und will nicht mehr onanieren; 2. ich verabscheue die Liebe zum eigenen Geschlecht und werde keinen Mann mehr schön finden; 3. ich will und werde gesund werden, ein braves Weib lieben, glücklich sein und glücklich machen.« Variante B: »1. Ich verabscheue die Onanie, denn sie macht siech und elend; 2. ich habe keine Neigung mehr zum Manne, denn die Liebe zum Manne ist gegen die Religion, gegen die Natur und gegen das Gesetz; 3. ich empfinde Neigung zum Weibe, denn das Weib ist lieb und begehrenswert und für den Mann geschaffen.« Schon die »Absuggerierung homosexueller Empfindungen« hielt der Neuropathologe für einen Heilungserfolg. Aber am Ende schränkte er ein, daß die tatsächlich erzielten Fortschritte bei seinen Kranken wohl immer »nur auf suggestiver Dressur und nicht wirklicher Heilung beruhen dürften«.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns den zweimonatigen Sanatoriumsaufenthalt des Prinzen Max im Sommer 1899 vorzustellen, wobei man davon ausgehen kann, daß zu seinen Anwendungen dort auch Licht- und Frischluftkuren sowieWasser-, Elektro- und Mechanotherapien gehörten146 – das, was man heute Wellness nennt. Dennoch, er hatte sich, abermals, auf eine mehr oder weniger brachiale Maßnahme eingelassen, die bei allem gutenWillen und aller Kompetenz des Arztes schon damals medizinisch durchaus umstritten war,147 und die – wie wir heute wissen – bestenfalls Placebo-Effekte bewirken konnte. Wir wissen nicht, wie der Patient die Therapie erlebt, verarbeitet, gar reflektiert hat. Mag sein, daß seine Psyche durch Krafft-Ebing stabilisiert, daß er ruhiger wurde, daß er sich über sein Versagen hinweggetröstet fühlte. Aber an seinem Grunddilemma der »conträren Sexualempfindung«, die ihn Frauen gegenüber gefühlskalt machte, konnte sich nur wenig geändert haben.