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Kapitel 1 Spezielle Herkunft und die Schicksalswende eines Lebens Impressionen einer Prinzenkindheit im 19. Jahrhundert
ОглавлениеDer Knabe wurde am 10. Juli 1867 geboren. Doch nicht nur als unschuldiges freies Menschenkind kam er auf die Welt, sondern – vor allem anderen – als vollwertiges Mitglied eines Herrscherhauses, das seit sechs Jahrzehnten die Monarchie in dem souveränen Staat Baden verkörperte. Als Prinz von Baden und nach der evangelischen Taufe am 13. August 1867 als Prinz Maximilian Alexander Friedrich Wilhelm von Baden. Die Monarchie hatte als vorherrschende Staatsform in Deutschland im 19. Jahrhundert eine weitreichende eigene Kultur ausgeprägt, zusammengehalten von dem »heiligen« monarchischen Prinzip. Dieses besagte, daß die souveräne Macht der Fürsten eine gottgewollte Ordnung sei, an die Menschenhand nicht rühren dürfe. Aber auch das private fürstliche Handeln wurde als ein Eigenrecht reklamiert, das keiner öffentlichen Kontrolle ausgesetzt sein konnte.1 Dieser Anspruch des fürstlichen Souveräns, über Staat und Recht verfügen zu können, war in Deutschland seit demWiener Kongreß von 1815 grundgesetzlich festgeschrieben. Das geweihte, quasi heilige Dasein des Monarchen gehört zu den psychologischen Faktoren, die elementar sind, um Milieu und Mentalität des Hochadels zu verstehen – im Sinne einer besonderen »affektiv-kognitiven Eigenwelt«.2 Die Mikrokosmen dieses monarchischen Universums, die noch bis 1918 halbwegs intakt bleiben sollten, bildeten die regierenden Fürstenhäuser, von denen eben auch die Zähringer in Südwestdeutschland eines waren.
Dieses »Haus«, nicht seine eigene Familie, blieb fortan das wichtigste Bezugssystem dieses Lebens. Seine emotionale und politische Bindung war allgegenwärtig. Die badische Dynastie und das mit ihr verknüpfte Netzwerk des europäischen Hochadels sind gleichsam die Matrix dieser Biographie. Es waren eben auch seine Vorfahren, die seinen Werdegang bestimmten, nicht nur seine Eltern. Das waren Prinz Wilhelm von Baden, geboren 1829, und seine Ehefrau, die als Kaiserliche Hoheit 1841 geborene Zarenenkelin Maria Maximilianowa, genannt »Marussja«. Max’ Vater rangierte nur in der Nebenlinie der badischen Herrscherdynastie – er selbst und seine Nachkommen waren ohne realistische Aussicht auf den Thron. Man bewegte sich gleichsam im dynastischen Reservepool der großherzoglichen Familie, zählte aber nichtsdestotrotz zum Grundkapital der Zukunftsgestaltung des Hauses Zähringen.
Seine Kindheit war wohl keine glückliche. Er habe damals »beständig« gelitten und viel von der »Freudigkeit« verloren, die »zur harmonischen Entwicklung notwendig ist«. Dieses Leid führte Max »auf zwei Ursachen zurück, erstens das mangelnde männliche Element in meiner Erziehung, und zweitens ein sehr starkes Froissieren [Verletzen] meiner besten Gefühle in einer Zeit, in der ich mich vom Knaben zum Mann entwickelte«.3 Einem anderen Vertrauten gegenüber hat er sich so ausgedrückt: »Auf meiner Kindheit und Jugend lag der Druck z.T. religiöser, z.T. moralischer Art. Und wenn ich auch wahrscheinlich meine Kräfte im Kampf gegen denselben gestärkt habe, so war es eben doch kein ganz gesunder Kampf, weil ihm die Freudigkeit fehlen mußte, denn man kämpft unfreundlich gegen das, was man von Natur lieben und verehren sollte.«4 Diese dunklen Reden lassen sich leider durch zeitgenössische Dokumente nicht weiter aufhellen. Wir wissen nicht, auf welche finstere Vorfälle in seiner Kindheit Max anspielt. Jedenfalls hatte er Probleme mit »meiner eigensten Natur, über der von Jugend auf ein Schatten lag«.5Was war das für ein Kind aus hohem Hause?
Am26. Juli 1865 hatte die PrinzessinWilhelm ihrem Mann in Baden-Baden eine Tochter geboren, die auf den Namen Marie getauft wurde – wie ihre Mutter und deren Mutter. Zwei Jahre später war Stammhalter Max gefolgt. Im Vergleich zu ihm besaßen sämtliche vor ihm geborenen Kinder des Herrschers eine ungleich größere familienpolitische Bedeutung. Insbesondere die beiden Söhne des Großherzogs, Friedrich und Ludwig, wurden als die Hoffnungsträger des Hauses Baden aufgebaut. Max’ Sozialisation vollzog sich zunächst nur in deren Windschatten. Es ist unklar, was Max’ Eltern über die Bedürfnisse von Kindern dachten oder wußten. Seine Stellung in der höfischen Gesellschaft zu sichern galt allerdings mehr als das, was man heute eine kindgerechte Erziehung nennt. Sie können dabei durchaus wohlwollende Personen mit Liebe zu ihren Kindern gewesen sein – aber darüber läßt uns die Überlieferung im ungewissen. Überhaupt muß beklagt werden, daß sich zur Kindheit des Prinzen aus den zugänglichen Quellen nur wenig in Erfahrung bringen ließ. Wir müssen uns mit der einschlägigen Literatur über Prinzenkindheiten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begnügen.6
Die Betreuung und Erziehung eines kleinen Fürsten wurde nicht als primäre Aufgabe der Eltern angesehen, sondern anderen Personen übertragen. Die Eltern wählten zwar das Personal aus – sahen damit ihre Pflichten aber als erfüllt an. Die kleinen Aristokraten standen bis zu ihrem sechsten oder achten Lebensjahr unter der Obhut einer (zumeist englischen) Gouvernante, die ihnen elementare Kenntnisse einer Fremdsprache sowie eine erste Vorstellung von standesgemäßem Benehmen vermitteln sollte. Danach kamen sie in die Hände von Hauslehrern und erhielten an der Seite ihrer Eltern erste Eindrücke der Hofgesellschaft. Letzteres war aber meist erst dann der Fall, wenn die »Erweckung eines richtigen Standesbewußtseins«, eines hocharistokratischen »Verpflichtungsgefühls« bereits vorzeigbare Erfolge gezeitigt hatte.7 Die Erziehung des Prinzen Max war durch »das Englische« beherrscht worden, viel mehr wissen wir darüber nicht.8 Auch über seine konkreten Lebensumstände und Bezugspersonen in den prägenden Jahren zwischen 1875 und 1882 sind wir nicht informiert.9 In diesem Lebensabschnitt ging es um den aristokratischen Feinschliff: elegantes Benehmen, taktvolle Haltung und vornehme Konversation im Kreise von Standesgenossen; um öffentliches Auftreten als Neffe des badischen Souveräns, Verinnerlichung des höfischen Zeremoniells, der Rangbestimmungen, Statussymbolik. Er wurde auch mit dem Verwandtschaftsnetzwerk seiner Dynastie vertraut gemacht, damit sich bei ihm ein Verständnis dafür ausbildete, Repräsentant eines geachteten Fürstenhauses zu sein. Doch das war noch nicht alles, was diesen Lebensabschnitt prägte. Der Erwerb der humanistischen Bildung, also die Aneignung von Wissen insbesondere über die abendländische Kultur, gehörte ebenso dazu, wie der der adeligen Kavalierstugenden, die ihn zu einem honnête homme werden lassen sollten; also das Klavierspielen, Tanzen, Reiten, Fechten, Schwimmen und Jagen.
Erste Gehversuche auf dem höfischen Parkett folgten als Primaner in Karlsruhe. Zunächst wurde er zu Familiendéjeuners in das großherzogliche Schloß eingeladen, bald aber auch zu größeren Festen. So durfte er im Januar 1885 mit der Großherzogin Luise auf einem Hofball im Residenzschloß die Française tanzen,10 eine Art tänzerisches Gesellschaftsspiel vor großem Publikum, das bereits eine gewisse Sicherheit im Auftreten voraussetzte. Ebenso erfolgreich eignete er sich die Sprache des Adels an. Davon zeugen seine Briefe an den engen Freund und Vetter Ludwig, den zweiten Sohn des Großherzogs, aber auch die Tatsache, daß er schon im Alter von 16 Jahren im Schloß mit Diplomaten und hochadeligen Besuchern an einen Tisch gesetzt wurde.11 Auch in den Usancen und Konventionen seines Standes wurde er sicherer. Nach seinen eigenen Worten übte er sich schon »früh in Listen« und brachte es »durch geschickte diplomatische Wendungen und Windungen« weit.12
Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich Max’ Lehrjahre vollzogen. Jede Prinzenaufzucht war »mit dem Schleier der Verschwiegenheit« umgeben, und die Erzieher selbst sollten »ihre Erfahrungen nur mit größter Zurückhaltung und die lehrreichsten gar nicht austauschen«.13 Wir haben es also mit einem geschützten Raum zu tun, etwas, das sich in doppeltem Sinne hinter hohen Mauern abspielte. Topographisch waren diese Lebensjahre hingegen nicht von Mauern umgeben, sondern spielten sich in dem elterlichen Palais am Schloßplatz in Karlsruhe ab. Das Palais war im Stil des Architekten der klassizistischen Karlsruher Residenz, FriedrichWeinbrenner, erbaut und mit dem modernen Komfort des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausgestattet worden. »Ein im Äußern wie Innern verhältnismäßig bescheidener, aber zweistöckiger Bau mit Mansardendach« – so lautet die schlichte Beschreibung in einem zeitgenössischen Schlösserführer,14 die wohl auch mit Blick auf das in gebührendem Abstand frei gelegene Residenzschloß des Souveräns und großherzoglichen Bruders geschrieben wurde. Es gab aber noch ein anderes Quartier, das man geradezu als idyllisch bezeichnen muß: das Seeschloß Kirchberg, in der Nähe von Immenstaad. Hier am Bodensee, in der früheren Sommerresidenz der Äbte von Salem, weilte die Prinzenfamilie, vollzählig oder in Teilen, in der schönen Jahreszeit. Die positiven Eindrücke dieser Aufenthalte, so ist überliefert, haben sich dem Prinzensohn Max tief eingeprägt.
Das Anwesen lag etwa 500 Meter vom nördlichen Bodenseeufer entfernt auf einer kleinen Anhöhe, die seinen Bewohnern den Blick auf ein reizendes Panorama erlaubte. Umgeben vonWeinbergen und Obstgärten, mit fußläufigem Zugang zum Wasser, wo sich ein eigener Landungssteg sowie ein privater Badestrand mit Badehaus befand, präsentierte sich die Schloßanlage, nachdem sie im Jahre 1880 erweitert und renoviert worden war, als ein attraktiver und zugleich repräsentativer Sommersitz. Das eigentliche Schloß bestand aus einem mit der Front gegen den Bodensee stehenden fünfgeschossigen Hauptgebäude, an das sich im rechtenWinkel nach Osten ein Flügelbau anschloß. »Gegen den See zu hat das Schloß eine Terrasse mit prächtiger Aussicht und ist von Anlagen umgeben. Drei Laubengänge mit Reben laufen vom Schloß nach den Anlagen […] und eine etwa 400mim Geviert messende Parkanlage erstreckt sich östlich vom Schloß bis an den Mühlbach, wo am See ein Sommerhaus steht.«15 Max’ Vater, dem Prinzen Wilhelm, war Kirchberg als ein sogenanntes Apanagegut zugefallen, das zwar rechtlich als Teil des sogenannten Bodenseefideikommiß im Besitz des großherzoglichen Hauses verblieb, dem Nachgeborenen aber ein standesgemäßes Leben außerhalb der Residenzstadt Karlsruhe ermöglichen sollte.16 Faktisch war er dadurch ein Grund- und Standesherr geworden, der allerdings nicht nach freiem Belieben über seinen Besitz verfügen konnte, weil dieWeisungsbefugnis beim Oberhaupt des großherzoglichen Hauses, also bei seinem Bruder verblieb.
Schloß Kirchberg, der Sommersitz von Max’ Eltern am Bodensee
Die Familie scheint sich auf Schloß Kirchberg sehr wohl gefühlt haben, wie zwei kurze Äußerungen aus dem Sommer 1881 zeigen. Am 26. Juni – da war Max knapp 14 Jahre alt – berichtete seine Schwester Marie ihrer Cousine Victoria von den »angenehm warmen Tagen«, die sie gerade mit der Familie am Bodensee verlebe, bei guter Luft und viel Bewegung. »Morgens um 6 Uhr reiten Max und ich aus. Um 10 Uhr hat Max Schwimmstunde bei Herrn Roscher [dem Hauslehrer], und von meinem Fenster aus kann ich das Plätschern im Wasser gut hören.« Mit Bruder und Mutter würde sie »allein oft ins Boot gehen«, also ohne Personal. Und die PrinzessinWilhelm ergänzt drei Tage später – auf französisch: »Wir genießen die Ruhe und das schönste Wetter! nie zu heiß. Max hatte nicht ein einziges Mal Halsschmerzen, Gott sei Dank. Mary [ihre Tochter] reitet mit Begeisterung.«17
Daß die Situation im Elternhaus für Max nicht so ungetrübt war, wie es diese Episode nahelegt, kann man einem Brief des jungen Prinzen aus dem Jahre 1892 entnehmen, den er an seinen damals besten Freund, den Erbprinzen Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, geschrieben hat. Darin heißt es rückblickend, Ernst habe es in einer wichtigen Sache wesentlich »leichter gehabt« und sich so »besser entwickeln können. Du hast einen Vater gehabt, der Dir als Beispiel in allen männlichen Handlungen des Körpers wie des Geistes voranleuchten konnte«. Bei ihm sei das ganz und gar nicht der Fall gewesen. Er habe nur zu »oft unter der unangenehmsten Bedrängung und Verhöhnung meiner heiligsten Überzeugungen und Gefühle zu leiden gehabt. […] Die Leute, die ich nicht liebte, wurden [vom Vater] begünstigt, und die ich gern hatte, verlacht und herabgesetzt. So wuchs ich in der Opposition auf und habe schon früh Zeiten durchlebt, in denen ich mich sehr unglücklich fühlte.«18 Daß er »leider nie« einen Halt in seinem Vater habe finden können, wurde von ihm immer wieder lebhaft beklagt.19
Dagegen scheint »Marrusja« für Max Mutter und Ersatzvater in einer Person gewesen zu sein. Zwar stellten die unterschiedlichen Sprachen ein gewisses Hindernis dar,20 und auch die Erziehung im evangelisch-lutherischen Glauben, der sich mit dem russisch-orthodoxen Kulturgut nur bedingt vertrug. Doch das Fremde in dieser Frau mag ihn angezogen haben. Voller Stolz berichtet Max später, daß »der russische Einfluß meiner Mutter mir den ganzen Zauber slawischer Breite und Weitherzigkeit im Gegensatz zu deutschem Spießbürgertum eröffnete«.21 Auch Außenstehende waren der Ansicht, daß sie seine Lebenstüchtigkeit und geistige Beweglichkeit gefördert habe.22 Zugleich hat diese heimatlose Frau in ihrem Max einen Ansprech-, ja eine Art Lebenspartner geformt, »jemand, der sie ganz verstand«.23
Mit etwa zwölf Jahren kam Max in die Obhut eines Hauslehrers namens Roscher, der ihm die Grundlagen für eine gymnasiale Ausbildung vermittelte, ihn auf den Besuch einer öffentlichen Schule vorbereitete und sich um seine sportlich-körperliche Ertüchtigung kümmerte. Max faßte in den sechs Jahren, in denen Roscher sein ständiger Begleiter war, keine rechte Zuneigung.24 Er sprach später sogar von den »Kunstkniffen, die ich seit sehr jungen Jahren habe anwenden müssen, um meine Selbständigkeit und die Bedingungen zu einer normalen Entwicklung zu bewahren«.25 Im Herbst 1881, also mit 14 Jahren, trat er in das Karlsruher Gymnasium ein, das unter der Leitung des profilierten Altphilologen und Pädagogen Gustav Wendt als zeitgemäße Erziehungsanstalt galt.26 Wendt wollte seine Schüler für die Klassik der Antike begeistern, durch eine neuartige Methode der Lektüre – und unter Hintansetzung des eher trockenen Grammatikunterrichts. Er stand für einen lebendigen Unterricht, der die alte Stoffhuberei überwinden sollte. Wie wir noch sehen werden, hat dieses Bemühen bei seinem Schüler Max durchaus gefruchtet. Er blieb mit klassischer Philologie zeitlebens bestens vertraut, und Wendt zählte Max in der Oberprima »zu den besten Schülern«, der »ein recht gutes Zeugnis der Reife« erlangt habe.27
Daß der öffentliche Schulbesuch die Distanz zwischen dem Prinzen und dem (bildungsbürgerlichen) Volk zu überwinden half, kann nicht angenommen werden. Die Schulleistungen von Mitgliedern der Herrscherfamilie wurden meist nicht nach den allgemein verbindlichen Kriterien bewertet. In aller Regel war es eher so, daß die bürgerlichen Gymnasiallehrer dem Prinzen ehrfürchtig befangen gegenübertraten und ihn milder bewerteten. Zudem wurden sie sorgfältig ausgewählt und der Schulleiter selbst zum verantwortlichen Klassenlehrer bestimmt. Auch die Anzahl der Mitschüler wurde begrenzt. Der Hauslehrer blieb weiterhin tätig, und im Zweifelsfall erteilten die Gymnasiallehrer Nachhilfeunterricht. Das Vorrangige war auch während dieser vierjährigen Schulzeit die fürstliche Standeserziehung – ergänzt um die halböffentlich vermittelte humanistische Bildung.28 Diesen Schluß legt auch die zweideutige Äußerung des Prinzen nach dem »recht schönen und lustigen« Abitur nahe: »Ich kann zufrieden sein mit mir und den Professoren.«29
Allerdings war Max’ Gymnasialbildung nicht so hochherrschaftlich wie die seiner beiden Cousins Friedrich und Ludwig, für die eigens ein exklusives Gymnasium, die sogenannte Friedrichschule, gestiftet wurde,30 auf das Max gar nicht erst aufgenommen wurde. Daß die beiden etwa gleichaltrigen Zähringer Prinzen in zwei getrennten Häusern zur Schule gingen, könnte ein Zeichen dafür sein, daß sich der Großherzog von seinen Verwandten in der Nebenlinie abgrenzen wollte, oder ein Ausdruck des unüberbrückbaren Grabens zwischen Großherzog Friedrich und seinem Bruder Wilhelm. Falls es tatsächlich zuückweisend gemeint war, ließ Max sich nichts anmerken und versuchte – wie seine Mutter und anders als sein Vater –, dem großherzoglichen Paar positiv zu begegnen.
Er hatte Erfolg damit. Die Großherzogin Luise, so freute sich der 17-jährige Max, sei »so voll Güte zu mir, daß ich ganz ich weiß nicht was bin«.31Wegen ihrer freundlichen Behandlung war Max ihr schon früh loyal verbunden. Als ihm sein Onkel Friedrich zu seinem 18. Geburtstag gar den badischen Hausorden der Treue verlieh, schrieb Max ganz selig an seinen Cousin Ludwig: »Ich kann Dir nicht sagen, mit welchen Gefühlen der Freude und der Dankbarkeit gegen Deinen Papa ich zu meinem Geburtstag den Orden empfing. Es ist ein zweites Band, welches mich noch ein Mal an die Familie bindet und mich berechtigt, an dem Ruhme, der sich an den Namen ›Baden‹ knüpft, Teil nehmen zu dürfen. […] Ich habe Dir ja früher schon so oft gesagt und geschrieben, wie gern ich Deinen Papa habe, und wie freundlich und liebevoll er mich immer behandelte, und inWahrheit je älter und verständiger ich geworden bin, um so mehr wächst auch meine Verehrung und Liebe zu ihm, die mir niemand mehr rauben kann.«32 Dies muß sich auch dem großherzoglichen Paar mitgeteilt haben. Denn wie Max wiederholt seinem Vetter bescheinigte: »Deine Eltern sind für mich stets so gut und freundlich, daß ich nicht genug dankbar sein kann. Ich adoriere sie beide, namentlich aber Deinen Papa; für ihn ging ich durch’s Feuer.«33 Max’ Bewunderung für seinen Onkel ging Hand in Hand mit seiner Abwertung des eigenen Vaters. Wenn man so ein Familienhaupt habe wie Vetter Ludwig, so schrieb er diesem weiter, dann »kann man sich zusammen nehmen, um ihm soweit es geht wenigstens Ehre zu machen. Ich werde niemals dazu in der Lage sein.«
Max’ Tante, Großherzogin Luise von Baden, ihr jüngster Sohn Prinz Ludwig, Prinz Max, seine Schwester Mary, Max’ Mutter, um 1885
Aus der Zeit um 1885 ist eine Fotografie überliefert, die genau diese positive verwandtschaftliche Beziehung illustriert: einen Besuch der PrinzessinWilhelm (ohne ihren Ehemann) mit ihren Kindern Mary und Max bei ihrer Schwägerin Luise und deren Kinder Ludwig und Victoria auf der Insel Mainau.
Bei der Aufnahme handelt es sich um ein mehr oder minder gestelltes Gruppenbild, das aber nicht für die Öffentlichkeit, sondern für das Familienalbum bestimmt war. Aufgenommen wurde es von Max’ Cousine Victoria.34 Nur PrinzessinWilhelm will scheinbar nicht zufrieden sein. Sie wirkt eher mürrisch, und die schmalen Lippen betonen ihre Unnahbarkeit. Verantwortlich dafür ist wohl das harte Leben, das ihr in dem vorangegangenen Jahrzehnt zugemutet worden war. Auch den Kindern blieb der Kummer derMutter nicht verborgen. Es wehe »bei uns zu Hause nicht gerade die schönste Luft«, berichtete Max seinem Vetter Ludwig aus Kirchberg: »Ja, Gott weiß, was da zu tun ist. Es macht einem Bauchschmerzen«,35 schrieb er über die Ehe seiner Eltern. Daß das Verhältnis seines Vaters zum großherzoglichen Paar äußerst gespannt war, spürte sein Sohn. Schon als 16-Jähriger hatte er dafür ein Sensorium ausgebildet: »Die Ruhe in der [badischen] Familie herrscht wenigstens äußerlich noch unbewegt, doch weiß man ja nie, wenn’s wieder was gibt.«36 Wenn es mal nichts gab, war das für Max ein Zustand, der ihn vor allem für seine Mutter und seinen Onkel »sehr freut[e], die nach meiner Ansicht die meisten dabei Betroffenen sind, wenn’s spukt«.37 Partei für seinen Vater ergriff er nie – auch im Rückblick nicht. Wohl aber für seine Frau Mama: »Sie hat so viel in ihrem Leben zu leiden gehabt «.38
Als 19-Jähriger durfte Max zum ersten Mal mit seiner Mutter allein nach Rußland reisen. »Wir wurden auf’s Liebenswürdigste aufgenommen, und ich kann nur sagen, daß ich mich ganz zu Hause fühlte.« Das Zarenpaar sei »immer die Güte selbst« gewesen, und er habe ihre beiden ältesten Söhne, namentlich den Thronfolger und späteren Zaren Nikolaus »recht lieb gewonnen«.39 Zunächst ging’s nach Peterhof, »wo die ganze Familie versammelt war« und viel gefeiert wurde.40 Zweimal fuhr er nach Petersburg und besuchte dort »die Hermitage, eine der schönsten Galerien der Welt«. Auch die Teilnahme an einem Militärspektakel in Krasno-Selo gehörte zum Besuchsprogramm. »Nach den Manövern verließen wir den Norden Rußlands und begaben uns auf’s Land südlich von Moskau, auf ein Gut unserer Verwandten, das am Rande der Steppe liegt. Dort blieben wir 10 Tage, und ich hatte das Glück auf einer Wolfsjagd einen Wolf lebendig zu fangen, d.h. meinem Jäger glückte es, aber mir gehört er. Ich hoffe, daß man mir sein Fell schicken wird.« Von diesem Landsitz fuhren Mutter und Sohn noch für drei Tage nach Moskau. Dort zeigte sich Max vor allem von dem »prachtvollen« Kreml beeindruckt: »Die Säle im Schlosse selbst sind die größten und reichsten der Welt.« Der Besuch sollte ihn fester an die Verwandtschaft der Mutter binden. Aber nicht weniger intensiv scheinen sich auch die persönlichen Beziehungen zur Familie seiner badischen Tante Cäcilie, der Schwester seines Vaters, entfaltet zu haben, die nach ihrer Verheiratung mit dem Großfürsten Michael Nikolajewitsch den Namen Olga Fjodorowna angenommen hatte.41 Der intensive Briefverkehr mit Tante Olgas jüngstem Sohn Alexei stärkte in Max das Gefühl, Angehöriger einer international in erster Linie nach Rußland verbundenen Dynastie zu sein. So blieb er fortan über das Land aus guter Quelle auf dem Laufenden und entwickelte bald eine so starke Affinität zur russischen Mentalität und Kultur, daß er unbedingt auch die Sprache seiner Mutter lernen wollte und tatsächlich Unterricht nahm.42
Gemälde eines unbekannten Künstlers, um 1886
Dieses Portrait ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Max’ erster Rußlandreise im Sommer 1886 entstanden. Es zeigt den jungen Prinzen in einer Pose, die man von den Romanowschen Großfürsten kennt. Aristokratisch-stolz wirkt er in seiner hohen eleganten Gestalt mit dem scharf geschnittenen Gesicht und dem etwas mystischen Blick in die unendliche Weite (eines Großreichs). Vermutlich haben ihn nicht nur die russischen Verwandten so sehen und für sich reklamieren wollen – womöglich auch seine Mutter.
Doch wir müssen kurz innehalten. Das Leben des Prinzen Max läßt sich nicht einfach von seiner Geburt an erzählen, denn es war geprägt von der Dynastie, der er entstammte. Mag dies auch offensichtlich erscheinen, so muß es doch erwähnt werden, weil daraus sein soziales Selbstverständnis, seine Weltanschauung und insbesondere sein Verständnis von Politik resultierten. Das eigene Leben war Teil einer Genealogie, eines fürstenhäuslichen Gefüges, aber auch der Selbst-zuschreibungen der Dynastie – was spezifisch zähringische Tugenden, Traditionen und Verdienste anbelangte. So wurde auch Max Bestandteil einer besonderen Schicksalsgemeinschaft,43 war die Geschichte seiner Familie auch seine ureigenste Vergangenheit; und zugleich die Vorgeschichte seiner Gegenwart – ein immerwährendes Referenzsystem.
Also muß die Geschichte des Großherzogtums Baden im langen 19. Jahrhundert ebenso berücksichtigt werden wie die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Großfamilie aus dem europäischen Hochadel, mit deren Angehörigen sie kulturelle Leitbilder teilte. Auf diese Weise soll erklärt werden, warum es gerade so lief, dieses Prinzenleben.