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b) Bedeutungsverlust des BVerfG
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Der Beschwerdeführer sollte weiter beachten, dass Verfassungsbeschwerden im Regelfall ohne Erfolgsaussicht sind. Das BVerfG ist traditionell vorrangig ein „Nichtannahmegericht“. Derzeit liegt die „Erfolgsquote“ bei unter 2 %. Das Karlsruher Gericht hat zudem seine einst führende Rolle in Sachen Grundrechtsschutz zu einem großen Teil eingebüßt. Seine eigenen Zuständigkeiten werden in zunehmendem Maße von denen anderer Gerichte überlagert und gefährdet. „Konkurrenz“ erwächst ihm zum Teil durch die Fachgerichte, welche durchaus gelegentlich verfassungsrechtlich überzeugendere Entscheidungen fällen, als sie vom BVerfG in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Man denke nur an die Spick-Mich- Entscheidung des BGH[12] oder an dessen Urteil zur gerechtfertigten Sterbehilfe durch Unterlassen.[13] Innerstaatlich sieht sich das BVerfG zudem der Konkurrenz durch die Verfassungsgerichte der Länder ausgesetzt.
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Der Bedeutungsverlust des BVerfG ist auch darauf zurückzuführen, dass zukunftsweisende Grundsatzentscheidungen – z.B. zu Freiheitsrechten – seit vielen Jahren weitgehend ausgeblieben sind, soweit man nicht durch den EGMR – wie z.B. bei der Sicherungsverwahrung[14] – dazu gezwungen wurde. Selbst bei der – in jeder Hinsicht überzeugenden – Entscheidung des BVerfG zur Sukzessivadoption bei Eltern gleichen Geschlechts[15] ist die Judikatur des EGMR relevant, der Diskriminierungen wegen des Geschlechts rigide beanstandet. Am Tage der Verkündung des Karlsruher Adoptionsurteils veröffentlichten bezeichnender Weise die Straßburger Richter ihr Urteil zur Menschenrechtswidrigkeit der fehlenden Möglichkeit der Stiefkindadoption gleichgeschlechtlicher Paare in Österreich.[16] Zwar verdient Anerkennung das Bemühen des BVerfG, zumindest beim Datenschutz Grundrechte zu verteidigen; die Antiterrordatei wurde aber doch grundsätzlich gebilligt und damit verliert ein weiterer Grundsatz seine Grundsätzlichkeit;[17] mit schlichten Mahnungen – z.B. vor der Vermischung von Geheimdienst und Polizei – ist es nicht getan ist.[18] Auch soweit der EGMR gemäß der „margin of appreciation“-Doktrin den nationalen Grundrechtsordnungen Spielräume eigenständiger Regelungen überlässt, die als solche aufgrund der historisch wie kulturell bedingten Heterogenität des Regelungsgebiets der Konvention als unerlässlich angesehen werden, kann das BVerfG nichts an bedeutenden Entscheidungen „vermelden“. Dies gilt z.B. im Bereich des Verhältnisses von Staat und Kirchen oder im kirchlichen Arbeitsrecht.[19] Ebensowenig nutzt Karlsruhe die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei Grundrechten, welche in der EMRK überhaupt kein Pendant finden, so dass der nationale Grundrechtsschutz weiter geht. Erwähnt sei nur das Grundrecht der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG, das in der EMRK nicht garantiert ist;[20] seit 2006[21] sind hier keine zukunftsweisenden Senatsentscheidungen des BVerfG mehr zu verzeichnen.[22]
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Angesichts seiner massiven Entscheidungsschwäche und seiner rigiden Praxis der Nichtannahme selbst von begründeten Verfassungsbeschwerden wird das BVerfG verstärkt zum schlichten „Durchgangsinstanzgericht“ in Sachen Grundrechte, zumal der EGMR unvergleichlich „entscheidungsfreudiger“ ist.[23] Das BVerfG hat seinen Funktionsverlust „schmerzlich“ erfahren müssen z.B. in den Entscheidungen des EGMR zur Sicherungsverwahrung,[24] zum Familienrecht,[25] mit der „Caroline-Entscheidung“[26] zum Verhältnis Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz, in dem offenen Konflikt beim Problem der überlangen Verfahrensdauer oder erst jüngst mit der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR zur Menschenrechtswidrigkeit des deutschen Jagdrechts.[27] Eine weitere massive Konkurrenz in Sachen Grundrechtsschutz erwächst dem BVerfG auch durch den EuGH angesichts der vertraglich garantierten Freiheitsrechte z.B. zur Dienstleistung und Niederlassung, den in der Judikatur des EGMR anerkannten Menschenrechten, wie auch der Grundrechtecharta der EU. Dies gilt erst recht nach dem geplanten Beitritt der EU zur EMRK.
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Letztlich beansprucht das BVerfG zwar – insbesondere im Verhältnis zum EGMR – für sich Grundrechtskompetenzen. Es nimmt aber selbst die grundrechtliche Prüfungskompetenz nicht im möglichen und gebotenen Umfang wahr. Stattdessen versucht es mit ungeheurem Aufwand an – zum Teil wenig überzeugenden – theoretischen Erörterungen und Abgrenzungsversuchen[28] – mehr als „wissenschaftlicher Elfenbeinturm“ denn als der Praxis verpflichtetes Gericht agierend – seine Stellung im Verhältnis zum EGMR und EuGH – ohne sichtbaren praktischen Sinn wie auch Erfolg – zu verteidigen. Dies gilt vor allem – dazu unten[29] – in der nicht überzeugenden – für die Beschwerdeführer negativen – Judikatur zu den vom BVerfG unter Berufung auf Art. 79 Abs. 3 GG beanspruchten Kontrollvorbehalten bei Akten der europäischen Integration von Maastricht, über Lissabon bis hin zum Europäischen Rettungsschirm.