Читать книгу Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde - Michael Kleine-Cosack - Страница 74
dd) Ende eines Irrwegs?
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Das BVerfG vermeidet in seiner mehr als ambivalenten Rechtsprechung[103] bei seinem Taktieren den offenen Konflikt mit dem EuGH. Es könnte ihn nur verlieren mit der Folge, dass ihm auch noch schriftlich aus Luxemburg das Fehlen einer Letztentscheidungskompetenz in Sachen europäische Integration bescheinigt wird. Letztlich ging es dem Gericht ohnehin weniger um die Grundrechte der Bürger sondern um seine eigene Stellung im Gefüge der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeiten. Die bereits in der Vorauflage dieses Buches deutlich geübte Kritik an der Judikatur des BVerfG zur europäischen Integration ist jedenfalls durch die in den letzten Jahren ergangenen Entscheidungen in vollem Umfang bestätigt worden. Man kann nur hoffen, dass das BVerfG endlich seinen Irrweg in Sachen europäische Integration beendet. Von seinem einst reklamierten Letztentscheidungsrecht ist nichts praktisch Relevantes übriggeblieben.[104]
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Das BVerfG hat mit seiner Judikatur zum EU-Recht und zu den Zustimmungsgesetzen zu den völkerrechtlichen Rechtsinstrumenten über die Sicherung der Gemeinschaftswährung Euro nur trügerische Hoffnungen bei den Medien und Bürgern geweckt. Wenn das Gericht nunmehr betont, dass das Wahlrecht nicht der Inhaltskontrolle demokratischer Prozesse diene, kommt das zwar sehr spät; es ist aber in jeder Hinsicht zutreffend. Die Verantwortung für die risikoreiche Euro-Rettungspolitik ist endlich an die Politik zurückzugeben. [105]
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Verengt ist ohnehin das vom BVerfG noch verfochtene – am Nationalstaat orientierte – Demokratiemodell. Der auch von manchen deutschen Staatsrechtslehrern geforderte Bundesstaat ist in der tradierten Form derzeit – schon wegen der unsicheren Rolle Englands sowie vor allem der Zweiteilung Europas in Euro- und Nichteuroländer – entfernter denn je. Andererseits findet unter dem Druck der Eurokrise eine Kompetenzintegration auf Institutionen der Gemeinschaft statt, welche die wirklichkeitsfremden Integrationsschranken des Lissabon-Urteils weit hinter sich gelassen hat.
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Karlsruhe hat auch eine Korrektur seiner widersprüchlichen und unhaltbaren Bewertung der Rolle des Europäischen Parlaments vorzunehmen. Zwar hat das BVerfG einerseits die Besonderheiten der europäischen Entscheidungsverfahren hervorgehoben, andererseits sieht es aber die fehlenden gleichen Mitspracherechte der Bürger der Mitgliedstaaten als Beleg dafür an, dass das Europäische Parlament kein echtes Parlament sei und eine echte demokratische Legitimation nicht schaffen könne. Die deutschen „Hüter der Verfassung“ müssen wirklichkeitsoffener werden; der Theorieüberhang in vielen Karlsruher Entscheidungen zu Fragen der europäischen Integration muss einem stärker pragmatisch geprägten Denken weichen, das die tatsächlichen Probleme der zu verteidigenden Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte zur Kenntnis nimmt. Nur dann kann das BVerfG auch wieder Einfluss gewinnen auf Entscheidungen, Verfahren und Diskussionen in Fragen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie der Grund- und Menschenrechte in Europa.