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II. Funktionsdefizite
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Die skizzierten Funktionen der Verfassungsbeschwerde entsprechen im Prinzip nicht der Realität. Das BVerfG ist im Wesentlichen ein Nichtannahmegericht und Verfassungsbeschwerden sind im Regelfall ohne echte Erfolgschance.
1. Statistik
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Dies zeigt ein Blick auf die Statistik. Schließlich liegt der Anteil erfolgreicher Verfassungsbeschwerden seit 1995 durchschnittlich bei rund 2 %. Im Jahr 2011 hat das BVerfG 5.914 Verfassungsbeschwerden einer Erledigung zugeführt, wobei lediglich 93 Verfassungsbeschwerden stattgegeben wurde. Der prozentuale Anteil der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden betrug danach 1,57 %.[1]
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Ein großer Teil der Verfassungsbeschwerden wird von den Beschwerdeführern selbst eingelegt; so waren z.B. beim 1. Senat von 3.217 Verfassungsbeschwerden 1.711 ohne Bevollmächtigten.
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Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass – die im Prinzip völlig aussichtslosen – Verfassungsbeschwerden die zahlenmäßig bedeutsamste Verfahrensart sind. Von den 188.187 Verfahren, die seit Gründung beim BVerfG anhängig wurden, waren über 96 % Verfassungsbeschwerdeverfahren, 2 % abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren und weniger als 2 % entfielen auf alle anderen Verfahrensarten. In den zwölf Jahren 2000–2011 waren beim Bundesverfassungsgericht an Verfassungsbeschwerden gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, b GG 65.930 Eingänge zu verzeichnen. Im Jahre 2011 betrug der Anteil der Verfassungsbeschwerden an den Gesamteingängen 6036 von 6208. Seit 2006 liegt die durchschnittliche Zahl neu eingehender Verfassungsbeschwerden bei ca. 6000.
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Viele Verfassungsbeschwerden erledigen sich bereits im Vorverfahren, in denen Präsidialräte oftmals Belehrungsschreiben an die Beschwerdeführer bzw. ihre Bevollmächtigte richten und so eine Verfahrenserledigung veranlassen. Nach Belehrung im Allgemeinen Register (AR) wurden erledigt 2010 4.847 Verfahren und 2011 4.505 Verfahren.
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Im Regelfall wird über Verfassungsbeschwerden zudem nur im Rahmen des Annahmeverfahrens durch die Kammern nach den §§ 93a ff. BVerfGG entschieden. Maßgeblich ist dabei meist das (abschlägige) Votum des Berichterstatters. Bezogen auf den gesamten Zeitraum der Tätigkeit des BVerfG stammen 162.574 Entscheidungen von den Kammern und 4034 von den Senaten. Im Jahr 2011 standen 5.597 Kammerbeschlüssen nur noch 16 Senatsentscheidungen über Verfassungsbeschwerden gegenüber. Die Zahl der dadurch erledigten Verfassungsbeschwerden lag mit 5.914 noch etwas höher, weil in etlichen Fällen mehrere Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung verbunden waren.
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Nur ein geringer Teil der Verfassungsbeschwerden wird nach § 94 BVerfGG zugestellt. In den Jahren 2007–2010 lag die Anzahl zugestellter Verfassungsbeschwerden durchschnittlich bei unter 200. Im Jahr 2011 war ein Anstieg auf 233 Zustellungen zu beobachten, der aber auf den Erfolg paralleler Verfassungsbeschwerden zurückzuführen sein kann. Mündliche Verhandlungen sind beim BVerfG die absolute Ausnahme. 2010 war dies gerade vier Mal der Fall, 2011 in 7 Fällen.[2]
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Mißbrauchsgebühren von 20 € bis 3.000 € wurden 2010 in 35 und 2011 in 71 Fällen verhängt.
2. Bedenkliche Tendenzen
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Noch bedenklicher als die schon traditionell niedrige Erfolgsquote des BVerfG ist der Umstand, dass das Gericht auch ohne Grund seine Bedeutung in Grundrechtsfragen in den letzten Jahren erheblich gemindert hat.[3] Dies zeigt sich seit Jahren am Ausbleiben von zukunftsweisenden Senatsentscheidungen; dazu kommt es allenfalls, soweit man vom EGMR wie in Fragen der Sicherungsverwahrung oder der Rechte von Eltern im Verhältnis zu den Kindern „gezwungen“ wird. Einige Kammern scheinen zudem Senatsentscheidungen zu scheuen „wie der Teufel das Weihwasser.“ Sie rügen oftmals mit stupendem Aufwand, den sie besser in die Sachentscheidung gesteckt hätten, eine angeblich unzulängliche Begründung der Verfassungsbeschwerde gem. §§ 23, 92 BVerfGG, welche dann als „unzulässig“ eingestuft wird.[4] Auch fallen einige Kammern auf ein Grundrechtsniveau zurück, das nur mit schlichtem Unverständnis zur Kenntnis genommen werden kann; das war z.B. der Fall, als nicht der Mut bestand, den § 43 StBerG zu kassieren und es stattdessen zum Schutz der Berufsbezeichnung „Steuerberater“ vor einer „Verwässerung“ zu billigen, dass Kammern und Gerichte allen Ernstes von Steuerberatern auf den Briefbögen einen Millimeterabstand bei Zusatzbezeichnungen zur Angabe „Steuerberater“ verlangen.[5]