Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 11
6
ОглавлениеPlötzlich war alle Welt gekommen und hatte nach ihm gesehen. Katarina – das war keine Überraschung, nach all der Zeit, die sie neben ihm im Flugzeug aus Oslo gesessen und seine Hand gehalten hatte, bis er in den Operationssaal geschoben worden war. Aber die anderen! Mein Gott, was sie nicht alles unternommen hatten, um ihm eine Freude zu machen! Sie waren alle gekommen: Carl-Christian, ihr Ältester. Alex, also Alexander Bonnevie, der schwedische Zauberer und Forscherkollege, der ihn schon sein ganzes Leben begleitete. Borgar, Fürst von Kretsen. Einar Westerlund, sein bester Freund seit der Schulzeit. Und natürlich Professor Yaacov Adler, die Antwort des Nahen Ostens auf Dr. Barnard; eine ganze Gruppe von Medizinstudenten, deren Anblick ihn nicht gar so erbaute – der Wissensdurst in ihren Augen verriet, dass sie ihm vielleicht nicht wirklich gute Besserung wünschten – sowie drei kastanienbraune Verlockungen in weißblauen Uniformen. Besonders die Brünette mit dem russischen Akzent – Naomi Hirsch stand auf dem Namensschild auf ihrer Brust – schien ein herzensguter Mensch zu sein, den man gern näher an sich heranließ. Doch allen voran: Dr. Abrasha Schwartz. Oder Abby, wie ihn Werner und die anderen Studienkollegen des Massachusetts Institute of Technology in Boston genannt hatten. Auch das lag schon ein ganzes Leben zurück. Doch Abby war und blieb derselbe. Und jetzt hatte er sein Leben gerettet. Genauer gesagt: dafür gesorgt, ihn hierher zu bringen, wo es Hilfe gab, damit er nicht zu Hause in der Warteschlange auf ein neues Herz sterben musste. Einen kurzen Moment lang hatte er Augenkontakt mit Abby, und dieser Blick hatte alle Worte überflüssig gemacht. Sie waren seit der Studienzeit befreundet, hatten große Dinge gemeinsam erreicht und kannten einander von Grund auf. Beide wussten, dass der Dienst des einen des anderen wert war, und dass wirkliche Freunde nie miteinander quitt waren, sondern sich gegenseitig lebenslange Dankbarkeit schuldeten.
Auf einmal begannen alle, durcheinander zu reden. Die einen auf Englisch, die anderen auf Norwegisch, und hinten an der Tür flüsterten die Studenten auf Hebräisch. Wenn er darauf vertrauen konnte, was die Menschen in seiner Gegenwart sagten, war er in verblüffend guter Form. Gesünder als ein gewöhnlicher Blinddarmpatient, meinte einer der Pfleger, während Carl-Christian wie gewöhnlich übertreiben musste und behauptete, er sähe jünger aus als auf seinem Hochzeitsfoto. Das war so albern, dass es ihn nicht einmal wütend stimmte. Die Fotografie stand in einem Silberrahmen zuhause in Frogner auf dem Kaminsims. Auf dem Foto war er dreiundzwanzig Jahre alt, sonnengebräunt und strotzend vor Kraft nach ein paar guten Jahren bei den Wettkampfruderern des MIT. Der Smoking saß perfekt und passte wie maßgeschneidert zu dem freimütigen Schnurrbart und dem blauschwarzen Bürstenschnitt. Wenn er nur einen Teil dieser draufgängerischen Vitalität bewahrt hätte, wäre er niemals hier gelandet – auf dem Rücken in einem Krankenbett in einem fremden Land mit dem Herz eines fremden Menschen in seiner Brust.
Katarina nickte zustimmend zu der absurden Übertreibung ihres Sohnes – auch wenn mit dicken Lettern auf ihrer Stirn zu lesen war, dass sein elender Zustand sie beunruhigte.
»Carl-Christian hat Recht«, stimmte sie ihm zu, »nur der Bart fehlt!«
Er erinnerte sie daran, dass es nicht gut war, zu lügen, insbesondere nicht vor Kranken und Alten. Katarinas Schultern sackten bei seinen Worten etwas nach unten, doch sein bester Freund, Einar Westerlund, der ewige Schlichter, war sogleich zur Stelle.
»Wenn es einen Ort gibt, an dem man lügen darf, Fritz, dann vor dem Krankenbett einer postoperativen Abteilung. Habe ich nicht Recht, Dr. Adler?«
Doktor Adler, der sonst immer so auf die Ehrlichkeit zwischen Arzt und Patient pochte, brachte es nicht übers Herz, ihm zu widersprechen. »Lassen wir es mal so stehen«, sagte er entwaffnend. »Bei kranken Menschen bewirkt eine fromme Lüge oft größere Wunder als ein ausgestelltes Rezept.«
Alle lachten, doch da schien Katarina auf einmal der Ansicht, die Stimmung sei zu gelöst. Schließlich befänden sie sich nicht auf der Entbindungsstation, sondern in einem Überwachungsraum der Herzchirurgie.
»Wir sollten ein wenig leiser sein«, sagte sie. »Das sollte doch eine Art Ruhezone sein.«
Obwohl er nicht verstand, was das jetzt damit zu tun hatte, widersprach ihr Werner nicht. Katarina hatte ihm damit den willkommenen Vorwand gegeben, dem allgemeinen Besuch ein Ende zu setzen. Die Narkose steckte ihm noch in den Gliedern, und er fühlte sich elend. Während des Gesprächs hatte er gespürt, wie wenig es brauchte, um ihm Gefühle zu entlocken; das Lachen saß locker, und seine Augen wurden feucht. Es gelang ihm gerade noch, die Tränen zurückzuhalten, als sich Katarina vor aller Augen auf seine Bettkante setzte, die Mundbinde nach unten streifte und ihm einen feuchten Kuss auf das Kinn gab (Mund und Lippen waren aufgrund der Infektionsgefahr tabu).
»Lieber Fritz, jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fragen, ob dein Herz für mich schlägt«, sagte sie. Eine seltene Innerlichkeit war in ihrer Stimme, als sie das sagte. »Ich muss einfach nur meine Hand auf deine Brust legen – so –, und dann spüre ich, dass es stimmt!«
Doch, das alles war wirklich schön. Seine geliebte Katarina war eine Meisterin der Verstellung und der eingeübten Spontaneität. Nicht einmal an einem solchen Tag, an dem er auf dem Präsentierteller des Todes lag, gelang es ihr, sich von der Rolle der hingebungsvollen Ehefrau zu befreien. Sie beide waren unverbesserlich. Hätte sie nicht einfach ein paar mutige Tränen weinen können und sagen, was wahr war: dass sie sich freute, bald herausfinden zu können, wie weit ihn sein krankes Herz im Bett gehemmt hatte!
Es war im Übrigen ein ungewöhnlich großes Herz, hatte Doktor Adler gesagt. Eine der zahlreichen unerklärlichen Abnormitäten der Medizin – ein so genanntes Ochsenherz.
»Und draußen«, hörte er sich selbst fragen, wobei er unmerklich in Richtung Fenster nickte. »Hat das Morden ein Ende?«
Es wurde still um ihn herum. Durch die Stille drangen die fernen Geräusche der Stadt. Das Brummen von Motoren. Sirenen. Wütende Rufe. Eine plötzliche Gewehrsalve, die nicht beantwortet wurde.
»Oh, es geht noch immer weiter. Sieht ganz so aus, als verfolge die Roadmap für den Frieden ein ganz anderes Ziel: nämlich Israelis und Palästinenser noch mehr gegeneinander aufzuhetzen. Zwei neue Selbstmordaktionen allein am heutigen Tag«, sagte Adler. »Und heute Nacht werden wir das sicher mit Bombenangriffen auf ausgewählte palästinensische Ziele vergelten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Das Ganze ist eine einzige Katastrophe.«
»Die bekommen, was sie verdienen«, sagte Abrasha Schwartz. »Wenn sie keinen Frieden wollen, dürfen sie sich nicht beschweren, wenn sie Krieg bekommen.«
»Die toten Kinder sind so schrecklich«, seufzte Katarina. »Aber wir wissen ja, wer der Schuldige ist. Wir wissen, wer es seit zehn Jahren in der Hand hat, einfach ›Stopp‹ zu sagen, ›Werft nicht den ersten Stein, bleibt zu Hause‹, es aber nie getan hat.« Sie drehte sich schnell zu Doktor Adler um. »Gott verbietet mir solche Worte, aber ihn hättet ihr erschießen sollen!«
Borgar Fürst breitete resigniert die Arme aus.
»Und Norwegen hat ihm den Friedensnobelpreis verliehen!«
»Erinnern Sie mich nicht daran«, sagte Katarina.
»Halten Sie mich da heraus, bitte«, sagte Adler plötzlich. »Ich habe den Oslo-Prozess unterstützt. Und ich glaube, Arafat wollte niemals, was jetzt passiert. Die Frage ist bloß, ob er noch Einfluss hat.«
Wieder waren draußen in weiter Ferne Gewehrsalven zu hören.
»Worin wir uns wohl alle einig sind«, sagte Schwartz, »ist, dass unser lieber Freund, Fritz Emil, Ruhe braucht. Verschonen wir ihn deshalb mit dieser Diskussion, die uns so oder so nicht weiterbringt. Im Übrigen bin ich sicher nicht der Einzige, der denkt, dass der Oslo-Prozess nicht gerade Norwegens wichtigster Beitrag zum Frieden im Nahen Osten war.«
Es entstand eine kleine Pause, doch dieses Mal waren weder Schüsse noch Schreie zu hören.
Alle warteten darauf, dass Werner etwas sagte, doch nachdem eine Minute vergangen war, ohne dass er die Augen geöffnet oder ein Wort gesagt hatte, erkannten sie, dass er schlief.