Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 15
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ОглавлениеUlla Abildsøs Atem ging schwer, als die beiden uniformierten Wachmänner im Archiv anriefen und überprüften, ob sie tatsächlich erwartet wurde und willkommen war. Der Fußmarsch von knapp zweihundert Metern den Institutsweg hinauf durch den Schnee war anstrengend gewesen. Ihr war kalt, sie war außer Puste und außerdem wütend, weil die neue Prothese nicht so saß, wie sie sollte.
»Wenn Sie sich das bitte anstecken würden«, sagte der ältere der beiden Wachmänner und reichte ihr eine rote Plastikkarte, die man am Jackenkragen befestigen konnte. Gast stand darauf. Misstrauisch blickte sie auf das hohe Gittertor hinter der Wachstube und spürte nicht viel von Gastfreundlichkeit. Sie hätten lieber Gefangener darauf schreiben sollen, wäre ihr beinahe herausgerutscht. Aber sie schluckte es runter. Das Wappen über der Tür lud nicht gerade zu derartigen Scherzen ein: ein Schwert in einem rutherfordschen Atommodell. Das militärische Forschungsinstitut in Kjeller, unter Eingeweihten: das FFI.
Sie kämpfte mit der Ausweismarke. Als sie es endlich geschafft hatte und den Blick hob, schaute sie in zwei grinsende Gesichter, die sie offensichtlich schon eine ganze Weile bei ihren Bemühungen beobachtet hatten. Sie rümpfte die Nase. Gaffende Männer konnte sie auf den Tod nicht leiden. Sie hatte schon zu viele von ihnen erlebt. Dabei konnte sie nicht sagen, was ihr am meisten aufstieß: die bewundernden Blicke, mit denen sie ihr begegneten, wenn sie festgestellt hatten, wie schön sie war, oder die Enttäuschung, die sich auf ihren Gesichtern ausbreitete, wenn sie entdeckten, dass ihr ein Bein fehlte. Aber sie machte ihnen keinen Vorwurf. Sie war, wer sie war. Jeder Mensch ist vollkommen, wenn er mit seiner Herkunft in Einklang steht. Diese Herkunft verfolgte sie überall hin. Auch hierhin, in den Eingangsbereich des militärischen Forschungsinstituts.
»Folgen Sie mir bitte«, sagte der jüngere Wachmann. »Das Archiv ist im Verwaltungsgebäude. Das erste Haus auf der rechten Seite.«
Während sie versuchte, mit dem hochgeschossenen Rekruten Schritt zu halten, rekapitulierte sie das wenige, was sie über diesen Ort wusste. Das Militärische Forschungsinstitut war 1946 gegründet worden, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, um zu gewährleisten, dass der Wiederaufbau des Militärwesens auf der Basis moderner Technologie stattfand, die Norwegens spezielle Topografie, das Klima und die Kampfvoraussetzungen berücksichtigte. Dank engagierter Mitarbeiter, guter politischer Kontakte und umfassender finanzieller und fachlicher Unterstützung durch britische und amerikanische Kooperationspartner, war das Institut inzwischen das größte technisch-wissenschaftliche Forschungszentrum des Landes mit mehr als 500 Angestellten. Bis vor wenigen Jahren war der entscheidende Teil der Aktivitäten in einen Mantel der Geheimhaltung gehüllt gewesen, aber nach dem Ende des Kalten Krieges war man dazu übergegangen, Historikern, Journalisten und anderen »ernsthaft Interessierten« die Türen zu den Archiven zu öffnen.
Diesem neuen Trend zu mehr Transparenz war es zu verdanken, dass sie sich überhaupt getraut hatte, einen Antrag auf Einsicht in historische Dokumente zu stellen, die ein wenig Licht in das bringen konnten, was sie als DIE SACHE bezeichnete: der rätselhafte Tod ihres Vaters und der Onkel vor nun fast fünfundzwanzig Jahren. Obwohl es schon so lange her war, war ihre Erinnerung an die drei nach wie vor lebendig, natürlich am stärksten an ihren Vater. Sie war fünf Jahre alt gewesen, als er starb. »Du bist mein gutes Mädchen«, hatte er an jenem Morgen zu ihr gesagt. »Und jetzt geh raus und spiel. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Dass du das beste Mädchen hier im Norden bist.« Sie vergaß es nicht. Sie hatte es sich immer wieder vorgesagt, als sie zwischen den Hütten des Fischerdorfes herumhinkte, mit dem Schmetterlingsnetz, das er für sie gebastelt hatte, bevor die Krankheit ihn ans Bett fesselte. Als sie eine Stunde später zurückkam, um ihm den grünen Grashüpfer zu zeigen, den sie darin gefangen hatte, war er nicht mehr da.
»Das Archiv ist dahinter«, sagte der Wachmann und zeigte linker Hand auf eine blau gestrichene Tür. »Aber zuerst machen wir noch einen kleinen Abstecher.« Er öffnete eine Tür auf der anderen Seite der Halle. »Sie haben in fünf Minuten einen Termin bei dem Sicherheitsoffizier.«
Sie wusste nichts von diesem Termin, wurde aber belehrt, dass dies Teil der Standardprozedur war: Alle Besucher, die im Archiv des Instituts arbeiten wollten, mussten vorher zum Sicherheitsoffizier.
»Eine rein präventive Maßnahme«, fügte er beruhigend hinzu. Was vergebliche Liebesmüh war. Sie war nicht im Mindesten beruhigt. »So hoffen wir, Missbrauch und anderen nicht vorhersehbaren Verstößen gegen die Sicherheitsvorschriften entgegenzuwirken.«
Das Büro des Sicherheitsoffiziers sah aus wie jedes x-beliebige Büro: Sie suchte vergeblich nach dem Lügendetektor und der Folterbank. Der Sicherheitsoffizier Philip Halvorsen war ein rundlicher, gemütlicher Mann in den Fünfzigern, mit einem großen Muttermal auf der Stirn, einer komischen Warze auf der Nasenspitze und tiefen, vertikalen Furchen an den Ohrläppchen, die einigen Herzspezialisten als Hinweis auf eine besondere Disposition für Angina pectoris gedient hätten. In dem Fall sollte er sich vielleicht lieber nach einer anderen Arbeit umsehen. Die Verantwortung für die Sicherheit in einer Institution mit fünfhundert Angestellten und noch mehr Geheimnissen zu haben war ohne jeden Zweifel ein Garant für Herzbeschwerden.
Aber Halvorsen wirkte nicht die Spur gestresst.
»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte er. »Ich habe Ihren Antrag gelesen und weiß, dass er vom Direktor abgesegnet ist. Meine Aufgabe ist es, Ihnen die Spielregeln zu erläutern, mit denen wir in dieser Organisation operieren.« Er reichte ihr ein DIN A4-Blatt mit den Vorschriften auf der einen und ein paar leeren Feldern für persönliche Angaben auf der anderen Seite. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, diese Informationen durchzulesen und unten zu unterschreiben, als Zeichen, dass Sie die Bedingungen akzeptieren, unter denen Sie hier arbeiten dürfen.«
Während sie las, saß der Sicherheitsoffizier ganz entspannt hinter seinem Schreibtisch und musterte sie ungeniert. Sie fragte sich, ob sein Glotzen Teil der Personenkontrolle war, aber darüber machte man hier wahrscheinlich keine Scherze. Stattdessen fragte sie ihn, ob häufig Verstöße gegen die Vorschriften vorkämen.
»Ich habe noch keinen Spion auf frischer Tat ertappt, falls Sie das meinen. Die meisten Unregelmäßigkeiten sind auf die Nachlässigkeit rechtschaffener Menschen zurückzuführen. Da lässt, nur zum Beispiel, einer die Tür zum Labor offen, wenn er abends geht. Oder jemand vergisst, Geheimakten in den Nachtsafe einzuschließen. Oder man sagt etwas Unpassendes am Telefon.«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Heißt das, Sie hören die Telefongespräche Ihrer eigenen Mitarbeiter ab?«
»Aber natürlich.« Er lächelte sie entwaffnend an. »Und es ist noch nicht einmal ein Geheimnis, dass wir das tun.«
Sie fühlte sich unwohl und machte sich bereit zum Aufbruch.
»Öffnen Sie auch Briefe oder E-Mails?«
Er überhörte die Frage, aber seine Stimme war merklich schärfer, als er weitersprach.
»Nur noch eine kleine Ermahnung zum Schluss, Doktor Abildsø. Die Akten, die Sie bei uns einsehen wollen, sind vor einigen Jahren vom Direktor persönlich durchgesehen und zurückgestuft worden. Das heißt, dass sie nicht mehr als geheime Dokumente laufen. Aber wie in den meisten Archiven herrscht auch bei uns keine hundertprozentige Ordnung. Geheime Akten können versehentlich in Mappen mit zurückgestuften Dokumenten geraten. Und hast-du-nicht-gesehen füllen unsere am strengsten gehüteten militärischen Geheimnisse die Titelseite des Dagbladet!«
Sie hörte ihm aufmerksam zu, obwohl sie sich nicht angesprochen fühlte. Sie hatte nicht vor, sich widerrechtlich geheime Akten anzueignen. Jedenfalls nicht, solange sich nicht herausstellte, dass jemand versuchte, die Wahrheit über ihren Vater und die Onkel zu vertuschen. Vierzig Jahre alte Lügen fielen ja wohl kaum unter die Schweigepflicht.
»Und was ist die Moral?«
»Achten Sie darauf, was Sie tatsächlich ansehen dürfen. In Ihrem Fall, da Sie keine Form von Sicherheitszeugnis vorzuweisen haben, bedeutet das schlicht und ergreifend, dass Sie nur Dokumente einsehen dürfen, die mit diesem Stempel versehen sind.« Er zeigte ihr einen Vermerk mit einem signierten Stempel, dem zu entnehmen war, dass das Dokument zu einem bestimmten Datum zurückgestuft worden war. »Sollten Sie dennoch auf ein Dokument stoßen, das noch der Geheimhaltung unterliegt, muss ich Sie bitten, sofort den Archivleiter oder den Sicherheitsoffizier zu rufen. Und lassen Sie sich in keinem Fall dazu hinreißen, sich Notizen zu machen – wir machen regelmäßige Stichproben, bei denen wir gezielt nach den erwähnten Unregelmäßigkeiten suchen. Noch Fragen?«
Dem letzten Schwall an Ermahnungen hatte sie kaum noch zugehört, darum fiel ihr auch keine sinnvolle Frage ein. Sie kam aus einem streng religiösen Heim und hatte gelernt, dass es nicht erlaubt war, zu stehlen. Genauso wenig gehörten Missbrauch und Nachlässigkeit zu ihrem Sündenregister. Ihre Laster gingen mehr in Richtung fleischlicher Begierden und dem Bedürfnis nach einem Glas Rotwein vor dem Frühstück.
Halvorsen öffnete die Tür und wünschte ihr viel Erfolg bei der Arbeit. Es entging ihr nicht, dass er in der Tür stehen blieb und ihr bis ans Ende des Korridors mit dem Blick folgte.
Das Archiv war gemütlicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Die blauen Türen und weißen Wände ließen sie an griechische Inseln denken und – eins führte zum anderen – an einen bildschönen und unendlich charmanten Griechen, den sie im Sommer 1991 auf Kreta hoch oben im Tal der Windmühlen einfach stehen lassen hatte. Ihr war bis heute nicht klar, wieso sie ihn auf diese erbärmliche Weise verlassen hatte, indem sie einfach in den nächsten Bus gestiegen war, ohne sich von ihm zu verabschieden. War es wegen der Prothese gewesen? Weil sie sich sein enttäuschtes Gesicht ersparen wollte, wenn er entdeckte, wie sie unter dem seidenen Rock aussah?
Sie begab sich eilig zurück in die Wirklichkeit. Die Tür des Archivs hatte sich kaum hinter ihr geschlossen, als ihr von der anderen Seite des Schalters eine spitze, übellaunige Stimme entgegenkläffte.
»Wir haben heute viel zu tun, es kann also eine Weile dauern, bis ich mich Ihnen widmen kann.«
Die Stimme gehörte zu einer übergewichtigen Frau mittleren Alters in einem viel zu eng sitzenden Baumwollkostüm, die hinter einem überfüllten Schreibtisch saß und durch dicke Glasbausteingläser auf einen riesigen Bildschirm starrte. Ohne den Blick von dem Bildschirm zu nehmen, fügte sie hinzu, wie schlecht es ihr passte, ausgerechnet jetzt Besuch zu bekommen.
»Ich werde natürlich alles tun, was in meiner Macht steht«, schwätzte sie weiter. »Aber erwarten Sie bloß nicht zu viel Service. Zu allem Überfluss bockt nun auch noch der Computer.« Sie erhob sich widerwillig von ihrem Stuhl, trat an den Schalter und streckte ihre klamme Hand aus.
»Laila Hansen«, sagte sie in resigniertem Tonfall. Wahrscheinlich hatte sie es so lange hinausgezögert, sich vorzustellen, in der Hoffnung, der ungebetene Gast würde es irgendwann aufgeben und sich verziehen. »Ich habe Ihren Brief gelesen. Ein recht umfassendes Thema, das. Was hoffen Sie hier eigentlich zu finden?«
Ulla antwortete wahrheitsgetreu, dass sie das nicht so genau wüsste. Aber um das herauszufinden, sei sie schließlich hier.
»Also gut«, seufzte Frau Hansen erschöpft und schob die Brille zurecht. »Dann schlage ich vor, dass Sie mit der Dokumentenreihe 136 beginnen. Dort bestehen die größten Chancen, etwas von Interesse zu finden.«
»Gern«, antwortete Ulla und spürte ein erwartungsvolles Kribbeln im Magen. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet! Das letzte Jahr hatte sie die wenige Fachliteratur, die es zu dem Thema gab, von vorn bis hinten durchkämmt, und war dabei immer wieder auf Fußnoten gestoßen, die auf zurückgestufte FFI-Dokumente mit der Archivnummer 136 verwiesen. Sie wusste, welches Thema sich laut Archivschlüssel hinter dieser Nummer verbarg: Die Atombombe.