Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 24

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Sie liebte Hotels. Oder genauer gesagt: Sie liebte es, im Hotel zu wohnen, und was sie anging, brauchte es weder Badewanne, ball room, noch eine Küche, die in Lifestylemagazinen angepriesen wurde. Für sie zählte, dass sie Gast sein durfte und umsorgte wurde, ohne dass das irgendwelche gesellschaftlichen Pflichten mit sich führte. Solange sie ihre Rechnung bezahlte und zur verabredeten Zeit auscheckte, hatte niemand das Recht, mehr von ihr zu verlangen.

Dieses Mal hatte sie auf einen Tipp von einem Kollegen gehört und ein Zimmer im Hotel Grüner reserviert, einem billigen, einfachen Hotel am östlichen Rand der Stadtzentrums mit Blick auf den Fluss Akerselva. Nachdem sie sich bei einer Portion Spaghetti Bolognese und einem Glas Rotwein im Pastarestaurant an der Ecke entspannt hatte, war sie mit dem Fahrstuhl in die vierte Etage hinaufgefahren, in der ihr spartanisches Zimmer lag, bereit für eine neue Arbeitseinheit. Sie, die noch immer nach dem Mann ihres Lebens suchte, hätte vermutlich eher die Gelegenheit nutzen und sich ins berüchtigte Osloer Nachtleben stürzen sollen. Doch sie erklärte ihrem blassen Spiegelbild, dass das auf ein anderes Mal verschoben werden musste. Sie war nicht in die Stadt gekommen, um sich zu amüsieren. Einen Engel hält nichts zurück. Auf was er sich auch zubewegt, gut oder schlecht, er bewegt sich mit seiner ganzen Kraft darauf zu.

Als sie aus dem Aufzug trat, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Halb acht.

Sie trat auf den Flur und spürte wieder den leichten Schmerz in der Hüfte, der sich gerne dann meldete, wenn sie müde war und ihre Muskulatur und Körperbewegungen nicht mehr perfekt auf ihre Prothese abstimmen konnte.

Der Raum war noch genauso unordentlich, wie sie ihn am Morgen verlassen hatte. Im Hotel Grüner schien das Zimmermädchen anscheinend erst zu kommen, wenn man ausgecheckt hatte. Die Regelung gab dem Satz in der Werbebroschüre einen ganz neuen Sinn »Es ist das Bestreben des Hotels, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, in der die Gäste ihre Ruhe haben und sich wie zu Hause fühlen können«.

Sie nahm ein Dokument vom Nachttischchen, das sie bisher nur kurz überflogen hatte. Es war ein Referat, das bei einer Konferenz des damaligen Staatsrats für Strahlenhygiene im Dezember 1958 gehalten worden war. Unter Sonstiges wurde über ein streng geheimes Beinahe-Unglück in Verbindung mit den sowjetischen Atomtests auf Nowaja Semlja wenige Monate zuvor berichtet. Es ging um ein meeresbiologisches Forschungsschiff, die »G.O.Sars«, die sich in die Sicherheitszone westlich des Probefeldes A von Nowaja Semlja verirrt hatte. Während einem der Atomtests hatte sich das Schiff weniger als 50 Seemeilen vom Explosionspunkt entfernt befunden. Die Besatzung hatte den Lichtblitz beobachtet, sonst aber nichts Außergewöhnliches bemerkt. Ohne dass die Mannschaft es bemerkte, war das Schiff im Laufe der nächsten Stunde einer beträchtlichen Menge von radioaktivem Fallout ausgesetzt gewesen.

Ulla hatte früher schon einmal etwas über die Episode gelesen, und im Grunde war dieses Ereignis der Auslöser für ihre Vermutung, dass ihr Vater und ihre Onkel in eine ähnliche Situation geraten sein konnten. Jetzt brannte sie darauf, nachzulesen, was in den heruntergestuften Dokumenten des Staatlichen Strahlenschutzes darüber stand. Vielleicht entdeckte sie ja etwas, das den Historikern vor ihr nicht aufgefallen war?

Aber zuallererst wollte sie ihre Mutter anrufen. Obwohl sie in der gleichen Gemeinde wohnten, vergingen manchmal Wochen, ohne dass sie miteinander sprachen. Doch wenn sie auf Reisen war, rief sie immer zu Hause an. Ihre Mutter wäre tödlich beleidigt, wenn sie im Nachhinein erführe, dass Ulla im Süden war, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Sie legte sich aufs Bett und wählte die Nummer ihrer Mutter.

Es dauerte wie gewöhnlich eine Weile, bis sie sich meldete. Das war ihre Art, ihrer Tochter zu zeigen, dass sie bloß nicht glauben sollte, sie säße am Telefon und warte auf ihren Anruf.

»Ja?«

»Ich bin’s. Ulla.«

»Ah.«

»Ich bin in Oslo. Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«

»Ach, du weißt ja, wie es so geht. Es bleibt immer so viel liegen. Gerade war ich in der Scheune, um Holz zu holen. Es ist hier oben so kalt, du wirst es nicht glauben.«

»Du hast Holz gehackt? Mein Gott, kannst du nicht Kai bitten, das zu tun?«

»Kai? Wann hätte der mir denn mal geholfen? Der interessiert sich doch nur für seine Totoscheine. Was für eine Verkommenheit. Ich kann nicht verstehen, warum die Christliche Volkspartei diesem Unwesen kein Ende macht.«

»So, so. Aber der Gewinn ist doch für einen guten Zweck. Sport, Forschung ...«

»Forschung«, wiederholte ihre Mutter kalt; es war fast so, als hätte sie den Nordwind am Telefon. »Was sollen wir mit einer Wissenschaft, die die grundlegendste aller Wahrheiten leugnet: dass Gott die Welt, die Menschen und alles andere erschaffen hat.«

Ulla antwortete nicht. Sie wartete einfach die nächsten Argumente ab: wie sinnlos es sei, Medizin zu studieren, wenn man nicht begriff, dass Gott mit allem einen Plan verfolgte und dass es nicht Sein Wille sei, dass der Mensch sein ganzes Leben gesund war. Gute Gesundheit brachte einen nicht ins Himmelreich.

»Papa hatte ein Logbuch«, sagte sie kurz. »Es liegt im Gästezimmer in der oberen Schublade der Kommode – wenn du es nicht weggenommen hast.«

»Denkst du, ich hätte die Sachen von Ståle weggetan.«

»Nein, natürlich nicht, Mutter. Ich wollte mir nur sicher sein, dass wir von der gleichen Kommode sprechen.«

»Ich hab doch nur diese eine Kommode, Ulla.«

Sie hörte die Anklage: Du weißt nicht mal mehr, welche Möbel deine Mutter im Haus hat.

»Ich frage mich, ob du wohl so nett sein könntest, das Logbuch zu holen. Es gibt eine Sache, die ich gerne überprüfen würde.«

»Was denn? Da steht doch nichts drin, das du gebrauchen könntest. Nur Uhrzeiten, Positionen und Fangmengen.« Sie seufzte laut. »Nein, wofür um alles in der Welt soll das jetzt wieder gut sein, Ulla?«

Sie erklärte, dass sie ein paar Daten kontrollieren müsse, die in Verbindung mit einer Forschungsarbeit stünden, an der sie arbeitete. Es würde nicht mehr als fünf Minuten dauern. Garantiert.

Mutter leierte irgendetwas und legte den Hörer beiseite. Ulla konnte hören, wie sie mit schnellen Schritten durch den schmalen Flur zum Gästezimmer ging. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie zurück war.

»Da bin ich wieder«, sagte sie außer Atem. »Jetzt musst du mir sagen, was ich aufschlagen soll.«

»Schön.« Es kam nicht oft vor, dass sie so gut mitarbeitete. »Ich möchte, dass du mir alle Positionen und Uhrzeiten vorliest, die Vater in der Zeit vom zweiten bis zum vierten Oktober 1961 im Logbuch aufgeführt hat. Ich weiß, dass sie da drinstehen. Ich habe sie mir vor längerer Zeit auf einem Zettel notiert. Ich hab den Zettel hier vor mir, aber dummerweise habe ich damals einen Bleistift benutzt, so dass ich einige Zahlen nur noch schwer entziffern kann. Ich muss mich nur vergewissern, dass alle Zahlen richtig sind. Das ist furchtbar wichtig, verstehst du?«

Mutter seufzte tief.

»Nichts von dem, das du machst, ist furchtbar wichtig.«

Eine alte Diskussion, aber an diesem Abend wollte sie den Fehdehandschuh nicht aufnehmen.

»Es geht nicht um mich, Mutter. Es geht um Vater. Darum, was mit ihm und deinen Brüdern draußen auf dem Meer geschehen ist. Ich glaube, ich bin kurz davor, die Frage zu beantworten. Wenn ich nach Hause komme, wirst du alles erfahren.«

Ihre Mutter unterbrach sie. Ihre Stimme klang hart und unversöhnlich.

»Da ist überhaupt nichts passiert, Ulla. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Ich versteh einfach nicht, wo du diese fixe Idee herhast? Aber eins sollst du wissen: Man muss den Toten Respekt erweisen, Ulla. Ich will nichts damit zu tun haben, dass du Ståle in deine Wissenschaft mit hineinziehst. Du solltest dich schämen. Verstehst du, was ich dir zu sagen versuche? Genug ist genug!«

Sie legte auf.

Ulla dachte eine Minute nach. Sie holte sich ein Glas kaltes Wasser aus dem Bad, biss sich auf die Unterlippe und wog das Für und Wider ab. Dann rief sie noch einmal an. Ihre Mutter war sofort am Apparat.

»Ich meine, was ich sage, Ulla«, sagte sie, ohne die Bestätigung abzuwarten, dass wirklich wieder Ulla am Telefon war. »Du musst Ståle in Frieden ruhen lassen.«

»Aber ich finde keinen Frieden, Mutter. Hat das keine Bedeutung? Vergiss nicht, dass ich auf der Treppe gesessen und alles belauscht habe ...«

Die Mutter schnaubte verächtlich.

»Du warst fünf Jahre alt, Mädchen. Was bildest du dir eigentlich ein?«

»Ich kann jedes Wort wiedergeben. Er hat gesagt ...«

»Ich weiß, was er gesagt hat.«

Ulla zögerte. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter ihr gerade ein wichtiges Geständnis gemacht hatte oder ob sie aufs Neue ihre alte Starrköpfigkeit zur Schau stellte.

»Umso besser, dann wissen wir es beide.«

»Er war krank. Er wusste, dass es zu Ende ging. Ich glaube, was er gesagt hat, hat er gesagt, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen.«

Da war es, also doch.

Ulla spürte einen Kloß im Hals, den sie seit langem nicht gespürt hatte. Den Gebetshauskloß. Den Kloß, den sie in den letzten Jahren von Vaters Leben so oft gespürt hatte. Immer dann, wenn sie sich sonntags dem Gebetshaus näherten und die Ältesten der Gemeinde wortlos an ihnen vorübergingen.

»Welche Wahrheit?«

»Dass er es sich mit Gott verscherzt hatte. Dass er sein Leben verspielt hatte. Und unser Leben, Ulla, vergiss das nicht. Er hat Gott so lange provoziert, bis er ihn von uns genommen hat.«

»Aber Mutter, du glaubst doch wohl nicht ...«

Es war still am anderen Ende. Sie hörte lediglich den Atem ihrer Mutter. Ein rascher, ungleichmäßiger Atem, wie von einem gefangenen Tier.

»Nun«, fuhr sie fort, um die Stille zu durchbrechen, »in so einem Fall spielt es doch keine Rolle, wenn du mir die Zahlen vorliest. Wäre es Gott nicht recht, hätte er wohl dafür gesorgt, dass du nicht so gut auf das Buch aufpasst.«

Es schien so, als fände ihre Mutter Trost in dieser Schlussfolgerung. Auf jeden Fall begann sie langsam, die Daten, Uhrzeiten und geografischen Positionen durchzugeben. Sie las mit leiser, monotoner Stimme, flüsterte fast, als hoffte sie, dass Gott auf diese Weise nicht mitbekam, was vor sich ging. Als sie fertig war, sagte sie unvermittelt:

»Das werde ich dir nie vergeben.«

Ulla wollte wissen, was sie damit meinte, doch sie erhielt keine Antwort. Es war deutlich zu spüren, dass ihrer Mutter das Gespräch missfiel und dass sie es am liebsten schnell hinter sich bringen wollte. Vielleicht hoffte sie, das Ganze sei nur ein schlechter Traum, aus dem sie nur dann erwachte, wenn sie den Hörer auf die Gabel legte. Ulla sah keinen Grund, sie länger als nötig zu quälen.

»Ich danke dir«, sagte sie aufrichtig. »Du warst mir eine große Hilfe.«

Ihre Mutter fuhr ihr brüsk ins Wort.

»Wenn ich wirklich eine Hilfe wäre, würdest du mich nicht so unter Druck setzen.«

Plötzlich spürte sie eine ungeheure Wut auf ihre Mutter. Warum war sie so negativ bei allem, was sie tat und verkörperte?

»Mama«, hörte sie sich selbst sagen, »ich glaube, du hast mich nie wirklich geliebt, jedenfalls nicht so, wie du Papa oder Kai geliebt hast. Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll, aber ich habe immer gefühlt, dass du dich meinetwegen geschämt hast, dass du dich geschämt hast, ein behindertes Kind auf die Welt gebracht zu haben. Oder war es bloß ... Ekel?«

Sie wusste, dass sie aufhören sollte, konnte ihre Bitterkeit aber nicht mehr im Zaum halten. Es war so, als läge eine giftige Schlange in ihrer Brust, die herausmusste, auch wenn sie der Mutter in den Hals beißen würde.

»Wenn es doch einen Gott gibt, gibt es eine Sache, für die ich ihm immer dankbar sein werde, Mama. Weißt du, was das ist?«

Es war totenstill am anderen Ende. Doch in sich hörte sie das Zischen der Schlange.

»Ja, dass ich dein Gesicht nicht sehen musste, als ich in deine Arme gelegt wurde und du mich stillen solltest!«

Sie erwartete lauten Protest ihrer Mutter, dass sie eine schlechte Tochter sei, oder bestenfalls: schuldbewusstes Schluchzen. Aber es war noch immer still. Dann waren plötzlich einige scharfe Laute zu hören, wie wenn man unachtsam an einige Tasten des Telefons kam, dann war ihre Mutter wieder zu hören. Ihre Stimme klang seltsam beherrscht:

»Ich habe das Letzte, was du gesagt hast, nicht richtig mitbekommen, Ulla, da war so ein Knistern in der Verbindung. War es was Wichtiges?«

Sie fühlte sich leer und schmutzig.

»Ja, eigentlich war es das.«

Plötzlich begannen ihre Finger zu zittern.

»Ich habe nur gesagt, wie gern ich dich habe, Mutter. Pass auf dich auf. Wir sehen uns dann in einer Woche.«

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