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Der kleine Junge starrte in die weißen Schaumwirbel unter dem hölzernen Anleger. Er suchte nach seinem Fahrtenmesser. Er hatte es mit hinunter genommen, um seinen Namen in einen der Holzpfosten zu schnitzen, und jetzt war es verschwunden. Wie konnte er sich nur so dumm anstellen!

Er ärgerte sich darüber, dass er sich von seinem großen Bruder hatte verleiten lassen. Er hatte tags zuvor gesehen, wie Arnfinn seinen Namen in einen Kiefernstamm geritzt hatte, und wollte auch so was machen.

Nur dass er sich einen Pfosten am Anleger ausgesucht hatte und keinen Baum im Wald.

So blieb ihm das Gelächter seines Bruders erspart, wenn er seinen Namen falsch schrieb.

Buchstabieren fiel ihm so schwer. Er hieß Gerhard, und dieser Name erschien ihm ganz besonders tückisch. Manchmal war er sich sicher, dass man den Namen mit Doppel»r« schrieb, und dann vergaß er meistens das »h«: Gerrard. Dann lachten sich Arnfinn und seine Freunde immer halb kaputt. Und wenn er einmal an das »h« dachte, schlich es sich an die falsche Stelle. Manchmal schrieb er dann Gherard. Wie bei Ghepard? Oder noch schlimmer: Gerahrd. Das Lachen seines Bruders, als dieser einmal sein Aufsatzheft gefunden hatte, auf das er Gerahrd geschrieben hatte, dröhnte noch immer in seinen Ohren. »Hallo Gerahhhrd!«, hatte sein Bruder ihn am nächsten Morgen beim Frühstück begrüßt. »Gut geschlafen, Gerahhhrd?«

Deshalb war der Pfosten unten am Anleger der sicherste Ort. Das heißt, wenn er nicht so nass und glitschig gewesen wäre! Er war gerade bis zum schwierigen »h« gekommen, das dieses Mal am richtigen Platz war (der vierte Buchstabe, nicht vergessen!), als ihm das Messer aus den Fingern rutschte und mit einem idiotischen Plopp im Wasser verschwand.

Das Wasser war kalt und klar wie Glas, doch der Tang und der weiße Schaum an den Ufersteinen erschwerten es, bis auf den Grund zu gucken, obwohl Neumond und Niedrigwasser war. Wenn er das Messer entdeckte, würde es ihm bestimmt gelingen, es wieder herauszufischen.

Aber was war das?

Direkt unter dem Schaum lag etwas Großes, Dunkles im Wasser, das sich auf und ab bewegte. Ein erwachsener Mann mit rotbraunem Bart und kreideweißen Händen. Er trug eine Schwimmweste und große graue Wollsocken an den Füßen, er litt also keine Not. Seine Augen waren weit geöffnet und starrten Gerhard voller Ernst an. Fast als hätte er Mitleid, fand er. Und er trug ein Halsband, wie ein Hund. Vielleicht hatte er ja das Messer gesehen?

»Hallo«, sagte Gerhard. »Wer bist’n du?«

Es kam keine Antwort.

»Hast du mein Fahrtenmesser gesehen? Der Griff war aus Wurzelholz und ...«

Gerhard biss sich auf die Unterlippe. Die gleichen langsamen Manöver im Gehirn, die dafür verantwortlich waren, dass er als Zehnjähriger noch immer Schwierigkeiten hatte, seinen Namen zu buchstabieren, sagten ihm jetzt, dass er den Mann in Ruhe lassen und niemandem etwas sagen sollte. Sonst würden sie gleich fragen, was er auf dem Anleger zu suchen gehabt hatte, und dann müsste er es sagen, dass er das Messer verschlampt hatte. Vater würde bestimmt böse werden und fluchen und schimpfen und sagen, dass nur ein Idiot einem solchen Schussel wie ihm so ein Messer schenken konnte. Mutter würde protestieren, und schon hätten sie wieder den dicksten Streit, und Arnfinn würde ihn mit seinen dunklen Samojedenaugen anklagend ansehen und sagen: »Du Arsch! Immer machst du alles kaputt!« Ja, er wusste genau, was geschehen würde. Die Sonntagsstimmung wäre bereits vor dem Frühstück hinüber.

»Tschüs«, sagte Gerhard und nickte dem Mann im Wasser zu. Und dann fügte er hinzu, obwohl er längst wusste, dass der Mann tot war: »Du, du hättest ins tiefere Wasser schwimmen sollen.«

Sie hatten gerade den Frühstückstisch gedeckt und warteten darauf, dass Mutter mit der Kaffeekanne aus der Küche kam, als Vater sagte:

»Was hast du unten am Anleger gemacht, Gerhard? Du weißt, ich will nicht, dass du dich da unten allein rumtreibst, besonders nicht jetzt, wo das Wasser so kalt ist.«

»Äh, ich war nur ganz kurz da unten.«

»Aber du sollst da nicht hin.«

»Äh, ich weiß, Vater, hatt ich vergessen.«

»Du hättest ins Wasser fallen können, und dann wäre niemand dort gewesen, um dir zu helfen.«

»Doch, da war jemand.«

Die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen verriet, dass er dieses Mal entschlossen war, sich zu verteidigen.

»Widersprich mir nicht, bitte. Ich habe dich durch das Fenster gesehen. Du warst mutterseelenallein. Und länger als nur einen kurzen Moment.«

»Ich war nicht allein, Vater.«

»Red keinen Unsinn.«

Mutter kam herein.

»Was ist jetzt schon wieder los?«

»Gerhards Fantasien«, sagte Vater kurz. »Ich habe ihn daran erinnert, dass er nicht allein unten zum Anleger gehen soll, und er hat mir geantwortet, dass er nicht allein gewesen wäre. Dabei haben wir deutlich gesehen, dass da außer ihm niemand war.«

»Das stimmt, Gerhard«, sagte die Mutter mild. »Wir haben am Fenster gestanden.«

»Da war aber trotzdem ein Mann«, wiederholte er hartnäckig. »Nur dass ihr ihn nicht sehen konntet.«

Der Vater seufzte laut, wie er es immer tat, wenn er langsam die Geduld verlor. Arnfinn kicherte erwartungsvoll am Kopfende des Tisches. Nur Mutter war unverändert ruhig. Sie lächelte, als sie die Vanillesoße in die Schale goss. Sie dachte sicher, dass es irgendwie auch schön war, einen mit Fantasie in der Familie zu haben.

»Was für ein Mann? Erzähl doch, Gerhard.«

»Na, der im Wasser.«

Es wurde vollkommen still am Tisch.

»Mein Gott«, sagte Vater schließlich. »Willst du damit sagen, dass da wirklich ein Mann im Wasser lag?«

Gerhard nickte eifrig. Endlich glaubten sie ihm. Und keiner dachte mehr daran, nach seinem Messer zu fragen.

»Ja, so ein alter mit weißen Händen. Und mit einem Bart.«

»Und das sagst du uns erst jetzt? Das ist nicht klug, Gerhard. Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«

Sein Vater nahm sich nicht die Zeit, die Antwort abzuwarten. Er war längst vom Stuhl aufgesprungen und nach draußen gerannt – mit Arnfinn im Schlepptau.

Gerhard blickte unglücklich zu seiner Mutter.

»Der war doch erwachsen. Und Erwachsene können doch schwimmen und auf sich selbst aufpassen, oder?«

»Ja, doch«, sagte Mutter. »Aber nicht, wenn sie im Winter ins Wasser fallen. Wir sind hier in der Finnmark, weißt du. Nicht auf den Kanarischen Inseln.«

Sie stand am Fenster und sah ihrem Ehemann nach, der mit langen Schritten zum Anleger hinunterlief. Ein Blick ins Wasser reichte. Er richtete sich auf und rief seinem ältesten Sohn etwas zu. Der Junge machte kehrt und rannte, so schnell ihn seine dünnen Beine durch den Schnee trugen, zurück zum Haus.

Sie verstand.

Sie mussten die Polizei anrufen. Und dann sollte sie sich wohl warme Sachen anziehen und nach unten gehen, um den Unglücklichen an Land zu ziehen.

»Du, Mama«, rief Gerhard ihr nach. »Darf ich aufstehen?«

Die Oslo-Connection - Thriller

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