Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 19
14
ОглавлениеEhrenvoller Auftrag. Unsicherer Ausgang. So fasste Jørgen Hartmann die Situation für sich selbst zusammen, als er nach einer halben Stunde Beratung mit Dahlbo und Aslaksen endlich die drei Etagen mit dem Fahrstuhl nach unten zu einem verspäteten Lunch fahren konnte. Jetzt galt es, loszulegen, genau und systematisch zu sein, jeden Stein umzudrehen, alle zu verdächtigen und nichts und niemanden außer Acht zu lassen. Wenn er sich an diese einfachen Lehrsätze erinnerte, konnte er auf Beförderung und neue Chancen in der Behörde hoffen. Vergaß er sie, war er fertig. Wenn Terroristen oder ein einfacher Verrückter im Laufe des halben Tages, an dem sich der Staatsgast in Oslo aufhielt, ein Attentat gegen Muhammad Mustafa verübten, wusste er bereits jetzt, wem die Schuld zugeschoben werden würde. Ein einfacher Kommissar war chancenlos, wenn die Polizeiräte die Jagd auf den Sündenbock weiter unten in der Hierarchie aufnahmen. Oder, wie Dahlbo sich ausgedrückt hatte: Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, Hartmann. Das gilt auch für die Kontraspionage!
In der Kantine in der sechsten Etage waren weniger Menschen als sonst. Erst um Viertel vor eins hatten ihn die Chefs der Abteilungen Terrorabwehr und »Liaison« aus ihren Fängen gelassen, so dass die meisten Mitarbeiter aus der Tagesschicht bereits gegessen hatten. Er hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau, während er mit der Frau an der Kasse ein Schwätzchen hielt und seinen Kaffee bezahlte. Ganz hinten im Raum sah er Eva Tamber von der Abteilung »Prolif« – oder Kontraproliferation, wie sie gemäß der neusprachlichen Rechtschreibung des PST hieß. Sie saß allein an einem Tisch und las Zeitung. Tamber war die Einzige von Hartmanns Kollegen, von der er nicht auf Anhieb sagen konnte, ob er sie mochte oder nicht. Der Altersunterschied war das kleinste Problem, obwohl Tamber durchaus seine Tochter hätte sein können. Dass sie eine ungemein sportliche Frau war, störte ihn auch nicht. Aber trotzdem blieb er skeptisch. In manchen Fragen konnte sie sehr liberal, ja fast radikal sein – so in ihrer Ansicht über die Rauschmittelgesetzgebung, die Staatskirche oder sexuelle Minderheiten –, in anderen Gebieten war sie stockkonservativ. Einmal hatte sie sich selbst als BüBo beschrieben – bürgerliche Boheme. Diese Betitelung war dermaßen peinlich, dass sich Hartmann damals gezwungen gesehen hatte, ihr zu sagen, sie mache sich lächerlich, wenn sie sich so nenne, doch sie hatte bloß gelacht und geantwortet, damit könne sie leben. Sie sei halt eine BüBo.
»Wie geht’s?«
Er zog den Bauch ein und schob sich schräg gegenüber der jüngeren und wohlproportionierten Kollegin auf den Stuhl.
»Oh, geht so«, antwortete sie. »Ich muss zum Zahnarzt, ein Backenzahn – und wie du weißt, hassen es kleine Mädchen, zum Zahnarzt zu gehen.«
Nachdem sie ein paar erinnerungswürdige Wurzelfüllungen aufgefrischt hatten, begannen sie, über die Arbeit zu sprechen. Hartmann erzählte leise über den Job, den er gerade bekommen hatte. Tamber sah ihn mit einer Mischung aus Neid und Schadenfreude an.
»Ich muss schon sagen, Jørgen! Dass sie dir die Verantwortung für Muhammad Abu Abdel Rahman al Husseini Mustafa übertragen haben!«
Hartmann sah sie verblüfft an.
»Du scheinst ja ein gutes Namensgedächtnis zu haben.«
»Meine koreanischen Gene«, hauchte sie geheimnisvoll. »Aber sag mal. Was hast du Schlimmes angestellt, dass du das verdient hast? Das ist eine einmalige Chance, baden zu gehen.«
Hartmann grinste schief.
»Das Gleiche hat Dahlbo auch gesagt, nur mit etwas anderen Worten. Er meinte, der Job böte ungeahnte Möglichkeiten für negative Beförderungen.«
»Und dein persönlicher Freund, Aslaksen?«
»Seltsamerweise war der ausgesprochen nett und positiv. Es stünde außer Frage, wie gut wir zusammenarbeiteten und dass er und die Abteilung ›Liaison‹ jederzeit zu meiner Verfügung stehen würden.«
»Der war sicher scheißfroh, dass er die Verantwortung an jemand anderen abschieben konnte. Ich hoffe für dich, dass es keine Probleme gibt.« Sie wischte sich ein Haar von der Schulter. »Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr euch in diesem Fall am meisten vor der Hamas und den Selbstmordkommandos des Islamischen Djihad fürchtet?«
»Vor denen auch. Aber in erster Linie müssen wir uns wohl um die Überreste von al-Qaida und World Islamic Jihad kümmern. Das Netzwerk, das von dem zynischen Massenmörder Salem al-Salem geleitet wird, hat Verzweigungen in alle Länder.«
»Du meinst die verschreckten Terroristen, die sich neulich in einem Gebirgstal in Georgien niedergelassen haben?«
»Falsche Seite vom Kaspischen Meer, Eva. Du musst deine Geografiekenntnisse auffrischen. Die Rede ist von Usbekistan.«
»Danke für den Hinweis. Aber im Moment sollte ich meine Kenntnisse über die Finnmark und die Meeresgebiete dort im Norden auffrischen.«
Sie tippte viel sagend mit den Fingern auf ein Fax, das ordentlich neben ihrem Teller lag.
»Vom Polizeimeister in Hasvik auf Sørøya in West-Finnmark. Er teilt uns mit, dass er gerade eine Leiche zur Obduktion nach Oslo geschickt hat. Ein Mann, den sie heute Vormittag mit einer Schusswunde im Nacken aus dem Wasser gefischt haben.«
»Warum PST? War er ein Spion?«
»Spion? – Ha! – Wer kümmert sich denn noch darum, Spione zu erschießen? Nein, es sieht so aus, als wäre er in eine Schmuggelaktion von radioaktivem Material verwickelt gewesen. Jedenfalls laut dem Polizeimeister. Er hat in der Brusttasche des Toten etwas gefunden, das er für Plutonium hält. Die Götter mögen wissen, mit welcher Kompetenz der das festgestellt hat.«
»Hört sich seltsam an, wenn du mich fragst. Was habt ihr sonst noch?«
»Nicht viel. Der Polizeimeister ist schrecklich angetan davon, dass er in bloßen Socken im Meer lag, ohne dass ich allerdings richtig kapiere, wieso das so wichtig ist. Wir haben natürlich darum gebeten, ein Foto und die Fingerabdrücke zu bekommen, damit wir unsere eigenen Archive durchsuchen und Interpol einschalten können. Außerdem haben wir Kontakt zu den Experten vom Staatlichen Strahlenschutz aufgenommen, um festzustellen, ob es sich wirklich um Plutonium handelt. Wir rechnen damit, das im Laufe des morgigen Tages klären zu können. Dann bekommen wir auch den vorläufigen Obduktionsbericht. Mehr können wir kaum tun, bis wir etwas Handfestes haben.«
»Welche Szenarien kannst du dir vorstellen?«
»Nun, lass mich dir zwei Möglichkeiten skizzieren – nur als Illustration der Spannweite im hypothetischen Raum, wie Dahlbo sich ausdrücken würde. Es könnte sich erstens um eine russische Organisation handeln, vermutlich ehemalige Angestellte einer Aufbereitungsanlage für kernphysisches Material oder eines Waffenlaboratoriums mit einem gewissen Überschuss an kernphysischem Material. Kurz gesagt, ein paar Idioten, die auf die Idee gekommen sind, mit dem Verkauf des radioaktiven Materials an kapitalstarke Kunden im Westen das große Geld zu machen. Wir wissen, dass jedes Jahr in unserer nächsten Umgebung eine Menge solcher Transaktionen stattfinden, doch dabei dreht es sich in der Regel um sehr kleine Mengen, die von geringer militärischer Relevanz sind. Nicht selten handelt es sich dabei auch um Beryllium, das für Uran oder Plutonium ausgegeben wird – ein reichlich plumper Schwindel, der ausschließlich dazu geeignet ist, Menschen zu betrügen, die es verdient haben, betrogen zu werden. Ein Markt für Trottel, wenn du so willst.«
Hartmann holte seine Pfeife heraus, doch Tamber wehrte ab und machte ihn auf die Nichtraucherschilder aufmerksam. Die rasch aussterbende Rasse der Raucher war auf die Dachterrasse verbannt worden. Von dort hatte man einen prachtvollen Blick über den Oslofjord, doch bei minus zehn Grad und Schneetreiben half einem das wenig. Tamber hatte aber kein Mitgefühl für diejenigen, die über das neue Rauchergesetz jammerten. Sie empfand es als einen zivilisatorischen Fortschritt und neckte ihre älteren Kollegen ständig mit ihrer demonstrativen Abscheu für Nikotin.
»Und wie passen die Erkenntnisse, die wir bisher haben, dazu?«
»Nicht besonders. Abgesehen davon, dass wir eigentlich zu wenig wissen, um überhaupt eine begründete Meinung zu haben.«
»Und unbegründet?«
Tamber grinste listig.
»Meine unbegründete Meinung ist, dass wir es hier nicht mit irgendwelchen plumpen Amateuren zu tun haben. Erstens, weil es sich allem Anschein nach um echte Ware handelt. Kein radioaktives Beryllium oder anderer Quatsch, sondern ein Fünfsternecognac vom obersten Regalbrett. Plutonium. Der Traum aller Atombombenfreunde. Und weiter: Er wurde erschossen und mit der Ware ins Meer geworfen. Kostbares Futter für die Fische.«
»Ja und? Meinst du, dass sich Amateure nicht gegenseitig umbringen? Ich dachte, es wäre genau das, was die unteren Chargen der Russenmafia die ganze Zeit über treiben.«
»Doch, doch, schon. Du weißt sicher mehr über diese Dinge als ich. Aber Hehler – oder wenn du so willst, Dealer auf dem radioaktiven Schwarzmarkt – würden niemals einen Mann erschießen und über Bord werfen, wenn sie auch nur den Verdacht hätten, dass er ein paar Gramm Plutonium in der Tasche hat. In ihrer Welt dreht sich doch alles um diese kleinen Kategorien. Die zögern keine Sekunde, jemanden für ein paar Gramm Plutonium umzubringen, und sie würden niemals ein paar Gramm Plutonium über Bord werfen, bloß um eine lästige Leiche loszuwerden. Verstehst du?«
Hartmann nickte. Für Menschen, die mit dem illegalen Handel von Drogen, Waffen oder so genannten strategischen Waren zu tun hatten, waren Menschenleben immer weniger wert als die Ware, mit der sie handelten.
»Es bleibt uns also die andere Möglichkeit ...«
Tamber warf rasch einen Blick zum Nachbartisch, um zu überprüfen, dass dort auch niemand lange Ohren bekam.
»Für mich riecht das Ganze nach einer größeren Sache«, sagte Tamber nach einer Weile. »Eine Sache, bei der es nicht auf ein paar Gramm mehr oder weniger ankommt, sondern in erster Linie darauf, Menschen aus dem Weg zu räumen, denen man nicht vertraut oder mit denen man den Gewinn nicht teilen will. Mit anderen Worten, das riecht nach Organisation und Professionalität. Vielleicht sogar aus stark nationalem Interesse.«
»Hast du jetzt nicht zu viel Fantasie? Ich meine, welcher Staat sollte das sein? Eins der Länder, die Präsident Bush auf der Achse des Bösen platziert hat?«
»Du weißt doch sicher, dass wir in den letzten Monaten eine Reihe von Warnungen unserer ausländischen Freunde bekommen haben, betreffs gewisser Aktivitäten im Nahen Osten. Sowohl Washington als auch Tel Aviv nutzten jede Gelegenheit, uns einzubläuen, welche Gefahr vom Iran ausgeht. Denn für den Iran, ein islamisches, aber nicht arabisches Land, ist es mit Sicherheit ebenso unakzeptabel, dass Pakistan im Besitz von Atomwaffen ist, wie die Tatsache, dass Israel die gleichen Waffen besitzt. Die ganze Welt wartet doch im Grunde nur darauf, dass die religiöse Führung im Iran an die Öffentlichkeit geht und ihre Verachtung für das Regime zum Ausdruck bringt, das den Atomwaffensperrvertrag akzeptiert. An dem Tag, an dem die Meldung über den ersten Atomwaffenversuch im Iran publiziert wird, werden die Menschen durch die Straßen Teherans tanzen – das wird ein Fest werden, wie es das Land noch nicht erlebt hat –, und wer sich an den Sturz des Schahs Ende der siebziger Jahre erinnert, wird wissen, wovon ich spreche.«
Hartmann war skeptisch. Einerseits dachte er, dass Tambers politische Meinung sie vor dreißig Jahren in vielerlei Hinsicht zu einem potenziellen Überwachungsobjekt gemacht hätte, wenn sie damals alt genug gewesen wäre, sich öffentlich dafür einzusetzen. Sie wäre bestimmt auf die Barrikaden geklettert und hätte gemeinsam mit dem werdenden Außenminister Fridtjof Bremer Steine geworfen.
»Willst du damit andeuten, dass die iranischen Mullahs mit Hilfe von russischem Plutonium eine Atombombe bauen wollen? Ich dachte, die Russen wären liebe Jungs geworden und hätten den USA versprochen, das iranische Atomenergieprogramm nicht zu unterstützen. Vor ein paar Jahren haben sie jedenfalls nachweislich einen lukrativen Reaktorhandel gestoppt.«
»Das stimmt, aber damit öffnete sich ein lukrativer Markt für professionelle Schmuggler. Das heißt, Menschen mit Insiderkenntnissen darüber, was sich die Iraner mit dem geplatzten Reaktorhandel beschaffen wollten, und die zusätzlich Zugang zu Uran oder Plutonium aus den russischen Überschusslagern haben. Menschen mit Risikokapital im Rücken und Einfluss in den obersten Kreisen. Mit anderen Worten: Was ich mir vorstelle, sind keine kleinen Hehler, die mit ein paar Gramm Plutonium dealen, sondern der Coup des Jahrzehnts. Etwas, das die Grundmauern des Pentagons erschüttern wird. Wenn wir einen Mann im Meer finden, in dessen Brusttasche zehn Gramm Plutonium stecken, heißt das bloß, dass zehn Gramm mehr oder weniger nichts für denjenigen bedeuten, der ihn getötet hat.«
»Und wer war der arme Kerl, der sein Leben für diesen Coup lassen musste? Der Beschreibung nach sah er nicht aus wie Ayatollah Khomeini.«
»Ich befürchte, dass wir auf Hilfe aus Moskau angewiesen sind, um ihn zu identifizieren.«
»Kriegen wir denn von da noch Unterstützung? Mein Eindruck ist, dass die russischen Polizeibehörden dem Westen gegenüber kein Stück weniger misstrauisch sind als früher.«
»In solchen Sachen nicht, Jørgen. Wenn es etwas gibt, was der Kreml wirklich fürchtet, dann eine iranische Atombombe. Nicht aus militärischen, sondern aus innenpolitischen Gründen. Das würde in den südlichen Teilstaaten nur den Anstoß zu einem weiteren islamistischen Aufbegehren geben, wenn nicht zu einer Revolte. Sie haben doch schon lange Angst davor, dass Teilstaaten wie Tschetschenien oder Dagestan sich von Russland lösen und gemeinsam mit anderen Staaten der Region eine antirussische islamische Föderation bilden.«
»Was man verstehen kann«, sagte Hartmann ehrlich. »Wenn wir an der Stelle der Russen wären, hätten wir sicher die gleichen Ängste. Stimmt doch, oder?«
Ehe Tamber antworten konnte, erblickten sie Malm, der mit einem überladenen Teller auf seinem Tablett auf sie zukam. Hartmann warf einen Blick auf seine Armbanduhr und begann hastig, sein Geschirr zusammenzustellen.
»Lass uns ein andermal weiterreden«, flüsterte Tamber. »Dieser Mann hat beim Weihnachtsfest an meinem Tisch gesessen, und damals habe ich beschlossen, ihn frühestens in einem Jahr wieder in meine Nähe zu lassen. Der verdirbt mir den Appetit, auch noch nach dem Essen!«