Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 17
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ОглавлениеFrau Hansen hatte widerstrebend die Mappen der Archivserie 136 – Atombombe, 1955 – 1970 – herausgesucht, sowie einige wenige Mappen der Archivserie 611 – Wärmelehre. Alles in allem neunzehn Mappen, einige davon dick wie Bücher, andere nur dünne Hefter mit wenigen Blättern. Mit demonstrativ selbstaufopfernder Miene hatte sie die Unterlagen zu dem Platz getragen, den man Ulla zugewiesen hatte. Als Ulla sich anbot, ihr zu helfen, erntete sie einen gekränkten Blick.
»Meine Liebe«, sagte Frau Hansen, »ich habe nicht jeden Tag die Gelegenheit, etwas für unsere Behinderten zu tun.«
Ulla war es gewohnt, dass sich Menschen in ihrer Ausdrucksweise vergriffen oder ihr normales Verhalten ablegten, sobald sie die Prothese entdeckten, und ließ sich nicht verletzen. In gewisser Weise war es ihr lieber, wenn sie sich aus lauter Mitgefühl zu dummen Bemerkungen verstiegen, als einfach nur abweisend zu sein und keine Lust zu haben, ihr zu helfen. Mehr Sorgen bereitete ihr das Gefühl, dass Frau Hansen offensichtlich nicht daran dachte, sie in Ruhe arbeiten zu lassen. Der kleine Raum war gerade groß genug für einen kleinen Arbeitstisch, eine Schreibtischlampe und einen Stuhl. Fast wie eine Klosterzelle, dachte Ulla, und freute sich darauf, die Tür schließen zu können und mit den Dokumenten allein zu sein. Doch sie freute sich zu früh.
»Lassen Sie die Tür offen«, ermahnte sie Frau Hansen, als sie zurück in ihr eigenes Büro ging. »Sonst bekommen Sie Kopfschmerzen.«
Ulla hatte den schweren Verdacht, dass es nicht nur die Rücksicht auf ihr Wohlbefinden war, die Frau Hansen veranlasste, darauf zu bestehen, dass die Tür offen blieb. In regelmäßigen Abständen bemerkte sie dann auch, wie sich die Finger der Archivleiterin auf der Tastatur ausruhten, sie die Brille anhob und Ulla durch die offene Tür beäugte. Und es ärgerte sie, dass sie spürte, wie ihr dieser musternde Blick rote Flecken auf die Wangen trieb.
War Frau Hansen misstrauisch geworden, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte?
Nein, Ulla war sich sicher, dass das ständige Beobachten der Archivarin eher auf ihre Neugier denn auf Misstrauen zurückzuführen war. Die Begründung, die sie vor Monaten zusammengeschustert hatte, als sie um Einblick in das FFI-Archiv gebeten hatte, war umständlich genug formuliert gewesen, um wirklich Bestandteil eines Forschungsprojekts zu sein: »Mit Bezug auf die zahlreichen Behauptungen in der Presse, die Atombombenversuche in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hätten der nordnorwegischen und insbesondere der samischen Bevölkerung schwere gesundheitliche Schäden zugefügt, bitte ich um Einsicht in das Material des FFI-Archivs, mittels dessen diese Frage zu beantworten sein dürfte. Der die Arbeit betreuende Professor der Universität Tromsø kann bestätigen, dass diese Untersuchung Teil meiner Doktorarbeit im Bereich der Umweltmedizin ist, mit dem Titel: Die Vidda als radiologisches Laboratorium: Rentiersamen und Atombombenversuche, 1955 – 1963.« Sie hatte den Titel mit Sorgfalt gewählt und besonders darauf geachtet, das politische Element darin so deutlich herauszuheben, dass die Leitung des FFI es für unklug erachten musste, ihr die Einsicht zu verwehren. Den eigentlichen Grund, weshalb sie diese Akten studieren wollte – der Tod ihres Vaters und ihrer Onkel – hatte sie lieber unerwähnt gelassen.
Die erste Stunde nutzte sie dafür, die Mappe 136 – Atombombe, 1946–1953 – durchzublättern. Darin stand etwas über die aufkeimende Atomenergiezusammenarbeit zwischen Schweden und Norwegen in den ersten Nachkriegsjahren, repräsentiert einerseits durch das FFI, andererseits durch das schwedische Schwesterinstitut, die Militärische Forschungsanstalt (FOA). Aus diesen Papieren ging deutlich hervor, dass die Militärforscher der beiden Länder der Meinung waren, dass die Atomenergie eine bleibende Technik sein würde und sie bald wissenschaftliche Programme starten sollten, um eigene Kernwaffen zu entwickeln.
Sie wurde von einer Art Wehmut erfüllt, als sie über die intensive Zusammenarbeit von Schweden und Norwegern in den ersten Nachkriegsjahren las. Wo war das Brudervolk heute? Was war aus dem Traum einer nordischen Gemeinschaft geworden? Sie war zu jung, um selbst für diese Ideale gekämpft zu haben, wusste aber, dass ihre Eltern so gedacht hatten und dass ein geeinter Norden in vielerlei Hinsicht ihr wichtigster Horizont gewesen war. Jetzt waren das die EU, die USA und »the global village«. Plötzlich sehnte sie sich zurück nach Bakfjordeid, zurück in ihre Kindheit in der kleinen Fischersiedlung dort oben im Norden, bevor ihr Vater krank wurde.
Nachdem sie sich ein kurzes Beinestrecken gegönnt hatte – Frau Hansen seufzte laut und warf ihr einen Blick zu, der zu sagen schien, dass man, wenn man als Krüppel auf die Welt gekommen war, sich wenigstens auch als solcher verhalten sollte –, war Ulla endlich bereit, sich der Sache zu widmen, wegen der sie gekommen war: die rosafarbenen Mappen mit den Dokumenten über den Anstieg des radioaktiven Fallouts über Norwegen in den Jahren 1955 – 63. Dieser Anstieg war eine Folge der sowjetischen und amerikanischen Atombombenversuche in der Atmosphäre, insbesondere der sowjetischen Sprengungen auf Nowaja Semlja.
Von ihrem Heimatdorf in der Ost-Finnmark waren es nur 800 Kilometer bis nach Nowaja Semlja, und sie war sich beinahe sicher, dass der Grund für den Tod ihres Vaters und ihrer Onkel innerhalb dieses geografischen Quadrats zu suchen war. Diese Gewissheit trug sie in sich, seit sie belauscht hatte, was ihr Vater ihrer Mutter, Tora, am Abend vor seinem Tod gesagt hatte, und worüber Mutter später nie wieder hatte sprechen wollen. Sie leugnete sogar, dass er es jemals gesagt habe.
»Das hast du dir sicher nur eingebildet«, hatte ihre Mutter gesagt, als ihr Ulla vor einigen Jahren erzählt hatte, was sie an diesem Abend gehört hatte. »Du sagst, du hättest auf der Bodentreppe gesessen. Aber was willst du denn von da gehört haben? Glaub mir, Papa war am Ende so schwach, dass selbst ich kaum hören konnte, was er sagte, und das, obwohl ich neben ihm auf der Bettkante gesessen und ihm die Wange gestreichelt habe.«
Aber sie hatte es gehört. Sollte ihre Mutter doch glauben, was sie wollte. Die Worte hatten sich in ihr Hirn geätzt, denn durch diese Worte war ihr klar geworden, dass ihr Vater sterben würde. Vorher pflegte ihre Mutter immer zu sagen »Lass uns damit warten, bis es Papa wieder besser geht«. Aber an diesem Abend war alles anders gewesen. Da hatte sie auf der Treppe gesessen und Mutter im Schlafzimmer weinen gehört, und zwischen den Schluchzern hatte sie sie sagen hören: »Ich bitte dich, Ståle, du darfst nicht sterben!« Sie war dort auf der obersten Treppenstufe beinahe erstarrt und hatte sich ans Geländer geklammert. Und dann hatte ihr Vater gesagt: »Weine nicht, Tora. Wir müssen jetzt endlich einen Strich ziehen unter all das, was wir nicht ändern können. Es wird Zeit, dass wir darüber sprechen, was geschehen soll, wenn ich einmal nicht mehr bin. Über dich. Und über die Kleine.«
Es war nicht dieser Teil des Gesprächs, den Mutter später leugnete. Es war das, was danach gekommen war. Gegen Ende. Nachdem sie über das Geld, die Rente, die Versicherungen und andere langweilige Sachen gesprochen hatten. Da, gerade als sie sich entschlossen hatte, wieder ins Bett zu gehen und zu schlafen, begannen sie zu streiten. Ulla war erschrocken gewesen, denn sie wurden nie laut, wenn sie miteinander sprachen. Warum also an diesem Abend? Am liebsten hätte sie geweint, so sehr schmerzte sie das alles. Doch stattdessen hatte sie gelauscht. Sie stritten über Vaters Krankheit. Mutter sagte, so etwas geschehe nicht rein zufällig. Das sei genauso wenig ein Zufall wie die Missbildung bei Ulla. Das sei beides das Werk des Herrn. Auf diese Weise zeigte Gott sein Missfallen an all jenen, die sein Wort nicht achteten.
»Nachdem du dich entschieden hast, trotz all des Teufelswerks den ›Freunden‹ die Treue zu halten, gab es nur noch Sorgen und Elend«, hatte Mutter gesagt. »Und ich muss jetzt die Zeche dafür zahlen. Mein Gott, was für ein Leben werde ich führen müssen!«
An dieser Stelle hatte Vater den Satz ausgesprochen, den Ulla niemals vergessen sollte. Sicher auch deshalb, weil sie nicht begreifen konnte, was er bedeutete. Doch in allererster Linie wohl, weil seine Stimme so stark und eindringlich geklungen hatte. Als wisse er, dass sie auf der anderen Seite der Wand auf der Treppe saß und lauschte. »Erzähl mir nichts vom Heidentum«, sagte er. »Meinst du, ich weiß nicht, was das ist? Ich kann dir sagen, Tora, ich habe gesehen, wie sich das Meer geteilt hat, und es war nicht Gottes Werk, was ich an diesem verfluchten Oktobertag im Jahr 1961 gesehen habe. Deshalb liege ich heute hier und schrumpfe zusammen. Also richte nicht Gott gegen mich, ja, und auch nicht gegen Ulla. Denn bei dem Ganzen dreht es sich um den Wahnsinn auf dieser Erde und nicht um unseren Glauben oder Unglauben.«
Genau so hatte er seine Worte gewählt. Sie hatte sie sich während ihrer ganzen Kindheit immer und immer wieder vorgesprochen, denn sie hatte große Angst davor, zu vergessen, was sie für eine persönliche Botschaft an sich selbst hielt. Trotzdem leugnete ihre Mutter, dass der Vater so etwas gesagt hatte.
Alles ließ sich erklären, daran zweifelte sie nicht. Mutter hatte bestimmt ihre Gründe dafür, sich nicht zu erinnern. Aber sie selbst wollte und konnte das nicht vergessen, und die Zeit näherte sich, in der sie auch nicht mehr würde schweigen können.
Doch zuerst musste sie herausfinden, was ihr Vater damit meinte, dass »sich das Meer geteilt habe«. Kein gottesfürchtiger Mann würde einen solchen Ausdruck ohne Grund auf seinem Sterbebett sagen.