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Sie fand Fliegen wunderbar. Nicht, weil es ihr das Gefühl gab, frei wie ein Vogel zu sein. Sie war kein freier Vogel. Aber während eines Fluges waren alle an ihren Sitzen festgeschnallt, und für das Erlebnis spielte es keine Rolle, ob man ein künstliches Bein hatte oder nicht. Und dann war da natürlich noch die Sache mit den Engeln, ihr neuestes Steckenpferd: Engel waren weder an Zeit noch Raum gebunden und bewegten sich frei in der Ewigkeit. Das würde auch ihr gefallen, dachte sie – und amüsierte sich im Stillen über einen Satz ihres neu entdeckten Helden Thomas von Aquin: »In uns findet sich nicht nur die Lust, die wir mit den Tieren gemein haben, sondern auch die Lust, die wir mit den Engeln gemein haben.« Das Vergnügen am Fliegen gehörte offensichtlich zur letzteren Kategorie.

Weit unter ihr erstreckte sich der Küstenstreifen der Finnmark mit seinen weißen Bergen und tiefblauen Fjorden. Sie wandte das Gesicht der niedrig stehenden Sonne zu, die knapp über die Berggipfel reichte. Man musste das gute Wetter nutzen, solange es währte. Der Wetterbericht hatte für den Süden kräftige Schneefälle vorhergesagt.

Sie war mit gemischten Gefühlen auf dem Weg nach Oslo, um für ihre Doktorarbeit zu recherchieren. Einerseits genoss sie den seltenen Luxus, dem alltäglichen Trott der Landarztpraxis zu entkommen, ohne an etwas anderes als sich selbst denken zu müssen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen war. Andererseits graute ihr davor, fremde Leute und Einrichtungen aufsuchen zu müssen, die ihr wenig Vertrauen einflößten: Bürokraten, Physiker, Offiziere. Sie rechnete mit dem einen oder anderen ungemütlichen Zusammenstoß, weil sie in einer Angelegenheit Auskünfte von ihnen haben wollte, an die unter Garantie keiner von ihnen gern erinnert wurde. Es ging um den viel zu frühen Tod ihres Vaters und zweier naher Verwandter Ende der Siebziger. Damals war sie knapp sechs Jahre alt gewesen.

Wie viel Zeit sie schon investiert hatte, um diesem Mysterium auf den Grund zu gehen! Die drei Männer waren im Laufe von nur anderthalb Jahren aus dem Leben gerissen worden. Zuerst Onkel Sverre, der Bruder ihrer Mutter, mit gerade mal 40 Jahren, kurz darauf sein drei Jahre jüngerer Bruder Trond, und am Ende Ståle, ihr Vater, der damals ein paar Jahre älter als Trond war. Die Diagnose hatte für alle drei gleich gelautet: Krebs. Niemand aus der Familie hatte herauszufinden versucht, an welcher Art von Krebs sie gestorben waren. Wahrscheinlich, weil sie zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr am selben Ort wohnten. Onkel Sverre hatte ein Mädchen aus Sunnmøre geheiratet und war nach Ålesund gezogen. Sein jüngerer Bruder Trond hatte in Amerika sein Glück gesucht und war als Kapitän eines Garnelentrawlers zu Geld gekommen. Nur ihr Vater war in Bakfjordeid geblieben. Zum Zeitpunkt ihres Todes waren die drei in alle Winde verstreut, und wahrscheinlich war die Diagnose Krebs an sich schon so erschütternd, dass keiner aus dem engeren Familienkreis darauf kam, nachzufragen und Details in Erfahrung zu bringen, geschweige denn, über mögliche Ursachen zu spekulieren.

Erst viele Jahre später, als sie in Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit das Datenmaterial des Krebsregisters durchging – speziell von Krebserkrankungen bei Männern, die nach dem Krieg in der Finnmark geboren und aufgewachsen waren –, wurde ihr bewusst, dass ihr Vater und die beiden Onkel nicht nur ungefähr zum gleichen Zeitpunkt gestorben, sondern darüber hinaus auch noch von exakt der gleichen Krebsart befallen worden waren: Schilddrüsenkrebs, der auf andere lebenswichtige Organe übergegriffen hatte.

Ihrem ersten Impuls folgend, suchte sie Rolv Bremnes auf, pensionierter Distriktsarzt in Bakfjordeid, der die beiden Brüder ihre gesamte Jugend hindurch behandelt hatte, und der am Ende auch die Krankheit bei ihrem Vater festgestellt hatte. Bremnes war inzwischen ein rotwangiger Mann mit leicht getrübtem Blick, der gern einen über den Durst trank. Aber an seinem Gedächtnis war nichts auszusetzen. Er war aufrichtig erstaunt, als sie ihm ihre Vermutung mitteilte. Das sei ihm vollkommen neu, sagte er, und fügte amüsiert hinzu, dass er sich allerdings auch nie die Mühe gemacht habe, sich über den Gesundheitszustand der Weggezogenen auf dem Laufenden zu halten, geschweige denn, woran sie gestorben waren. Er räumte allerdings ein, dass es in diesem Fall durchaus interessant wäre, auf eine entsprechende Statistik zurückgreifen zu können. Auf ihre Frage, ob er zwischen den drei Todesfällen einen Zusammenhang sehe, antwortete er, dass alle drei dem gleichen Laster gefrönt hätten: dem Kautabak.

Sie hatte nur schwerlich ernst bleiben können, als er das sagte. Der alte, angetrunkene Mann konnte einem Leid tun. Das war die typische Diagnose nach jahrelanger, beruflicher Isolation und ebenso langer, nicht hundertprozentiger Kompensation durch den Genuss von Gin Tonic. Aber in einem Punkt war sie geneigt, ihm zuzustimmen: Es musste einen Zusammenhang geben. Eine gemeinsame Ursache. Etwas, das sie gegessen oder eingenommen hatten oder dem sie alle drei ausgesetzt waren, während die übrigen Bewohner des Bezirks davon verschont geblieben waren. Die Tatsache, dass niemand sonst in dem Bezirk erkrankt war, legte nahe, dass die Erklärung wohl kaum in dem radioaktiven Fallout der Atombombentests in den 60er und 70er Jahren zu finden war. Andererseits war es schlicht und ergreifend unwahrscheinlich, dass drei Männer gleichen Alters, die gemeinsam in einer kleinen Küstengemeinde in Ost-Finnmark aufgewachsen waren, rein zufällig von der gleichen, tödlichen Krankheit befallen worden und im Laufe von knapp achtzehn Monaten dahingerafft worden waren. Ende der 70er Jahre wurden landesweit pro Jahr weniger als 50 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Männern registriert, warum ausgerechnet diese Ballung in ihrem engsten Familienkreis? Sie hatte sich vorgenommen, die Antwort zu finden, und sie hatte ihre Vermutungen, wo es zu suchen galt. Darum auch der Ausflug nach Oslo und der damit verbundene Besuch im FFI, dem Militärischen Forschungsinstitut in Kjeller. Sie machte sich keine Illusionen, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber irgendwo musste sie schließlich anfangen, wenn sie die vielen losen Fäden bis zum Ende verfolgen wollte.

Nach Oslo wartete noch eine andere, längere Reise, auf die sie sich schon lange freute: Sie wollte nach Moskau.

Sie öffnete die Aktentasche und nahm das Antragsformular für das Visum der russischen Botschaft heraus. Es war gestern mit der Post gekommen, und sie wollte es während ihres Aufenthaltes in Oslo abgeben. In dem Begleitschreiben stand, dass der Antrag bei persönlichem Erscheinen zügiger bearbeitet werden könne.

Da sie ein systematischer Mensch war, füllte sie die Spalten der Reihe nach aus, von der ersten Zeile bis zur Unterschrift auf der untersten Linie. Den Ordnungssinn hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Ihr Vater, den sie über alles auf der Welt geliebt hatte, war ein begnadeter Chaot gewesen.

Sie füllte die erste Zeile aus.

Present citizenship: Norwegian.

Surname: Abildsø. Das war der Name der kleinen Insel in Nordland, wo die Familie ihres Vaters gelebt hatte, bevor der Ururgroßvater im ausgehenden 19. Jahrhundert weiter in den Norden gezogen war, nach Ingøy in West-Finnmark, um in der Walfangindustrie in Mafjord zu arbeiten. Sie war stolz auf ihren Nachnamen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass jemand ihn gestohlen und eine U-Bahn-Station in Oslo danach benannt hatte.

First name: Ulla.

If changed, your surname, name (names) and patronymic before the change: Leerstelle. Es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, ihren Nachnamen zu wechseln.

Nachdem sie die Kästchen für Geburtsjahr und Geschlecht ausgefüllt hatte, wurde sie aufgefordert, den Zweck ihrer Reise nach Russland darzulegen. Sie dachte an die Warnung in der linken oberen Ecke, dass falsche Angaben ein Einreiseverbot oder die Ausweisung von russischem Territorium zur Folge haben könnten. Das kleine freie Kästchen hinter der Frage ließ keine längeren Ausführungen zu. Ein Wort musste reichen: »Business«, schrieb sie. Sollte sie an der Passkontrolle gefragt werden, würde sie erklären, dass sie zu einem Kongress über gesundheitliche und genetische Auswirkungen radioaktiver Strahlung eingeladen war. Sie war Ärztin und hatte mehrere Jahre über die medizinischen Langzeitwirkungen der Atombombentests in den 60er und 70er Jahren für die Bevölkerung in Nord-Norwegen geforscht, speziell bei den Rentiersamen.

Sie faltete das Antragsformular vorsichtig zusammen und schob es mit drei Passfotos und einer Kopie des Einladungsbriefes der russischen Wissenschaftsakademie in einen braunen Umschlag. Die Einladung war vom Akademiemitglied Dr. Svetlana Jegorova unterzeichnet, einer herausragenden Radiologin mit dem Ansatz eines Oberlippenbartes. Ulla hatte sie vor ein paar Jahren bei einer Konferenz in Boston kennen gelernt. Dr. Jegorova hatte jüngst eine Studie über die Bewohner Majaks durchgeführt, eines kleinen Ortes in Nord-Russland, wo seit Mitte der 50er Jahre Plutonium für die sowjetische Kernwaffenindustrie produziert wurde und wo es mehrere größere Strahlenunfälle gegeben hatte. Die beiden Frauen hatten statistische und medizinische Daten ausgetauscht und im vergangenen Jahr in regelmäßigem Kontakt gestanden. Ulla war gespannt, zu welchen Ergebnissen Jegorova gekommen war.

Aber bis zur Moskaureise waren es noch drei Wochen. Jetzt wollte sie nach Oslo, um in alten Unterlagen zu wühlen – voller Lügen, befürchtete sie – und einige Schlüsselfiguren zu interviewen, solange sie noch lebten. Zeitzeugen, sozusagen. In ihren Albträumen starben sie an Altersschwäche, Langeweile oder Furcht um den eigenen Ruf, bevor Ulla die wichtigen Informationen aus ihnen herausquetschen konnte.

Das Flugzeug neigte sich zur Seite. Unter ihr zeigte sich die karge Küstenlandschaft in sonnenvergoldeter Pracht. Zwischen den Inseln waren Fischkutter auf dem Weg zu oder von den Fischgründen auf dem offenen Meer. An einigen Stellen mussten sie die großen, kreisförmig angelegten Fischfarmen umfahren, die wie gigantische Handschellen vor den Fjordmündungen lagen.

Sie wusste, dass das Leben dort unten auf dem Boden längst nicht so idyllisch war, wie die wunderschöne Landschaft es einem vorgaukelte. Dort unten gab es Grenzen und Sperren, die aus der Luft nicht zu sehen waren.

Allein der Gedanke daran stimmte sie traurig.

Ihre eigene Kindheit war von einem mentalen Hochspannungszaun zerschnitten gewesen, den niemand sehen konnte, der einen aber umhaute, sobald man ihn berührte. Anfang der siebziger Jahre brach in der kleinen Gemeinde Bakfjordeid in Ost-Finnmark, wo sie aufgewachsen war, ein unversöhnlicher Streit zwischen den so genannten »Freunden«, konservativen Læstadianern, und einer Gruppe Abtrünniger, den »Tabernaklern«, aus. In dem vorrangig religiösen Streit schwangen deutlich politische Untertöne mit: Die Læstadianer unterstützten die Arbeiterbewegung, die Tabernakler die Christliche Volkspartei. Der endgültige Bruch kam mit dem Abtreibungsgesetz und der Emanzipationsbewegung. Die Tabernakler weigerten sich, mit einer Partei zusammenzuarbeiten, die straffreie Abtreibung und Geschlechterquotenregelung in ihrem Programm hatte, weil sie sich damit gegen Gottes Willen auflehnte. Ihr Vater wiederum und mit ihm seine Glaubensgenossen bei den »Freunden« warfen den Tabernaklern vor, von Solidarität mit den Schwachen zu reden, zugleich aber aus Prinzip jede unglückliche Frau zu verdammen, die sich nicht in der Lage sah, ein Kind in die Welt zu setzen.

Es waren Fragen wie diese, die die vormals zusammengeschweißten Læstadianergemeinden in Nord- und Ost-Finnmark spalteten. In Ullas Familie waren die Grenzpfeiler mitten ins Ehebett der Eltern geschlagen worden; ihre Mutter und ihr Vater standen in dem Streit auf verschiedenen Seiten. Erstaunlicherweise war ihre Mutter die konservative Verteidigerin der existierenden Ordnung. Für sie war Abtreibung eine Todsünde und die Frauenbewegung ein Missverständnis. In ihren Augen bedeutete Freiheit, die Möglichkeiten zu ergreifen und die Pflichten zu erfüllen, die einem in der von Gott gegebenen, sozial-religiösen Hierarchie zugeteilt worden waren.

In den Jahren vor Ullas Geburt hatten ihre Eltern sich mehr und mehr auseinander gelebt. Der kritische Punkt war erreicht, als ihr Vater 1973 für die Arbeiterpartei kandidierte, die im gleichen Jahr beschlossen hatte, das freie Recht auf Abtreibung in ihr Programm aufzunehmen. Wenige Monate nach der Parlamentswahl war ihre Mutter schwanger geworden, und ihre Eltern hatten einen letzten, tapferen Versuch unternommen, wieder zueinander zu finden. Es musste für beide eine schreckliche Zeit gewesen sein. Denn ihrer großen Liebe zum Trotz, die sie füreinander empfanden, war ihre Beziehung zwischen den stummen Anklagen und misstrauischen Fragen erdrückt worden.

Das Flugzeug beschrieb einen Bogen nach Osten. Die märchenhafte Schönheit der Küstenlandschaft traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Der Anblick war so harmonisch und friedlich, dass sie sich auf die Unterlippe beißen musste, um sich zu vergewissern, dass es wahr war.

Und dann wurde ihr klar: Es war nicht wahr. Die Wirklichkeit war eine andere. Die Naturidylle machte es einem schwer, die unversöhnlichen religiösen, sozialen und persönlichen Widersprüche zu erkennen, die das Leben in den vielen kleinen Insel- und Küstenorten prägten, die sie gerade überflog. Aber das bedeutete nicht, dass es sie nicht gab. Es war ein wenig wie beim radioaktiven Fallout nach Atomtests, auf dessen Erforschung sie so viel Zeit und Kraft verwendet hatte. Der war auch nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen, weder aus der Luft noch vom Boden aus. Aber für all die, die an Orten lebten, wo die Wind- und Wetterverhältnisse ungünstig gewesen waren, konnte das unsichtbare, geruchs- und geschmacksfreie Gift, das keine Schmerzen verursachte, äußerst tragische Konsequenzen haben.

Ohne die zerstörerische Kraft der Religion auf die Liebe, dachte sie, hätten ihre Eltern nie aufgehört, einander zu lieben. Und ohne die zerstörerische Kraft der Radioaktivität auf alles organische Leben wäre ihr Vater vielleicht noch am Leben.

Sie wurde von der Stewardess aus ihren finsteren Gedanken gerissen, die lächelnd fragte, ob sie Tee oder Kaffee haben wolle.

»Keins von beiden, danke«, antwortete sie. »Ich trinke vor dem Abend nie etwas Warmes. Aber wäre es möglich, dass Sie mir vielleicht ein Glas Rotwein zum Frühstück bringen?«

Die Stewardess zögerte gerade lange genug, dass Ulla erklärend hinzufügen konnte:

»Ich versuche nur, mich an eine der weisesten Empfehlungen des heiligen Thomas von Aquin zu halten: ›Wenn einer vorsätzlich so große Enthaltsamkeit vom Weine übt, gegen seine Natur, dann kann er nicht frei von Sünde sein!‹«

Die Stewardess lächelte und versprach, ihr eine Viertelliterflasche Casillero de Diablo zu bringen.

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