Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 12
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ОглавлениеDoktor Frihagen war zu einem Krankenbesuch zu einer alten, allein stehenden Frau im Inselinneren gefahren, doch sowohl der Polizeibeamte als auch sein Assistent waren geblieben, um auf den Helikopter zu warten. Jetzt saßen sie in dem kleinen Wohnzimmer und genossen eine Tasse Kaffee und die Reste der vorjährigen Weihnachtsbäckerei, die die Mutter mit Gerhards Hilfe auf den Tisch gestellt hatte. Von den ursprünglich sieben Kekssorten waren nur noch die Sorten übrig, die Gerhard am wenigsten mochte, weshalb er durchtrieben grinste, als er sah, wie die Gäste zugriffen.
»Ist vielleicht eine Vermisstenmeldung bei uns eingegangen?«, fragte Moe. »Wenn der Mensch seit gestern oder vorgestern im Wasser gelegen hat, sollte man doch annehmen, dass er bald von jemandem vermisst wird.«
Nein, Karlsen konnte sich an keine Vermisstenmeldung erinnern, und eine rasche Nachfrage in der Nachbargemeinde ergab, dass er sich richtig erinnerte. Es waren keine neuen Vermisstenmeldungen registriert.
»Wenn er vermisst wird, dann in einem anderen Teil des Landes«, sagte er. »Falls er nicht bereits vor längerer Zeit verschwunden ist und sich versteckt gehalten hat, bis er ermordet wurde.«
»Morgen früh müssen wir das Register überprüfen«, sagte Moe. »Mit etwas Glück kriegen wir vorher noch eine Vermisstenmeldung rein. Wenn die Menschen über das Radio erfahren, dass ein Toter im Meer gelegen hat, werden sie sich wohl beeilen, uns mitzuteilen, wo und wann jemand nicht zum Essen gekommen ist.«
Sie schwiegen ein paar Minuten und knabberten Weihnachtsgebäck. Schließlich lehnte sich Moe zurück und wischte sich ein paar Krümel vom Schoß.
»Gab es nichts an dem Toten, das Sie merkwürdig fanden? Etwas, das Sie stutzig gemacht hat?«
Karlsen dachte lange nach. Nach der missglückten Durchsuchung der Leiche hatte er einen gewissen Vorteil gegenüber seinem Vorgesetzten, doch jetzt spürte er, dass dieses Gefühl nicht lange andauern würde.
»Nun, da war dieses Zeug in seiner Brusttasche ...«
»Natürlich. Ich meine, abgesehen von dem, worüber wir bereits gesprochen haben.«
»Nein, äh, was soll ich sagen ... er hätte vielleicht eine Mütze aufhaben sollen, bei der Kälte, die wir in den letzten Tagen hatten.«
Moe nickte langsam.
»Das kann man wohl sagen. Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Menge Fischer, die nicht einmal bei Sturm eine Mütze aufsetzen. Aber wir wissen nicht, ob er die nicht einfach im Wasser verloren hat. Das wäre eigentlich logisch, wenn er sie nicht unter dem Kinn festgebunden hatte.«
»Nein, ansonsten ist mir nichts aufgefallen«, sagte Karlsen resigniert. »Wenn Frihagen nicht die Einschusswunde entdeckt hätte, hätte ich nichts Ungewöhnliches an ihm gefunden.«
Moe nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, ehe er sie mit einer jähen, beinahe heftigen Bewegung in der Kaffeetasse ausdrückte. Er versuchte aufzuhören und hatte sich selbst versprochen, von jeder Zigarette, die er sich anzündete, nur zwei Züge zu nehmen. Auf diese Weise hoffte er, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass das Rauchen wirklich sinnlos war. Wenn es ihm nicht gelang, aus Rücksicht auf seine eigene Gesundheit aufzuhören, gelang es ihm vielleicht mit Blick auf seine Finanzen.
»In dieser Hinsicht sind wir einer Meinung«, sagte er. »Aber da sich nun doch herausgestellt hat, dass der Mann ermordet worden ist, und überdies vielleicht in kriminelle Machenschaften verwickelt war, müssen wir neu ansetzen. Und dann erscheint mir die Sache mit den Stiefeln auch höchst seltsam.«
»Stiefel? Aber er hatte doch gar keine Stiefel ...«
»Eben deshalb.« Moe wedelte den Zigarettenrauch weg. »Ist nicht gerade das seltsam?«
Jetzt war es Karlsen, der nicht ganz mitkam.
»Tja«, versuchte er sich, »die hat der Arme wohl verloren. Auf die gleiche Weise wie die Mütze.«
Moe schüttelte den Kopf.
»Haben Sie jemals versucht, im Wasser kniehohe Stiefel auszuziehen? Dazu braucht man eine ganz bestimmte Technik und viel Kraft – die gehen nicht einfach so von selbst ab, wenn sie nicht mindestens ein paar Nummern zu groß sind. Und wenn man um sein Leben kämpft und genug damit zu tun hat, sich über Wasser zu halten, fängt man nicht ausgerechnet mit den Stiefeln an. Das kann ich Ihnen garantieren. Insbesondere, wenn einer ohnehin schon tot ist!«
Gegen das letzte Argument konnte Karlsen kaum etwas einwenden. Tote zogen sich im Wasser nicht die Stiefel aus, egal wie schnell sie untergingen.
»Aber ist es denn so sicher, dass er Stiefel anhatte, als er ins Wasser fiel?«
»Sie haben genau das Gleiche gesehen wie ich. Die Wollstrümpfe waren bis zu den Knien über die Hose gezogen. Wenn das nicht auf Stiefel hindeutet, dann weiß ich auch nicht.«
Karlsen sagte nichts.
»Der Punkt bei den Stiefeln ist natürlich«, fuhr Moe schließlich fort, »dass es so aussehen kann, als hätte er keine Stiefel getragen, als er ins Wasser stürzte. Und dann muss die Frage lauten: warum nicht?«
»Vielleicht lag er im Bett und hat geschlafen?«
»Möglich«, sagte der Polizist zustimmend. Er hatte sich eine neue Zigarette angezündet und inhalierte den ersten der beiden zulässigen Lungenzüge mit sichtbarem Genuss. »Aber es kann auch sein, dass ihm jemand bewusst die Stiefel ausgezogen hat, ehe er ihn über Bord warf.«
Karlsen sah seinen Chef neugierig an. Manchmal überraschte ihn Moe mit scharfsinnigen Beobachtungen oder, wie jetzt, mit unerwarteten Hypothesen. Moe war ein gerissener Fuchs, auch wenn er wie ein gutmütiger Teddybär aussah.
»Warum sollte das jemand tun?«
»Tja, das ist die Frage. Das macht auch nicht mehr Sinn, oder? Wenn nicht ...« Er nahm einen neuerlichen Zug von der Zigarette und blieb still sitzen, während der Rauch durch die Atemwege glitt und die Kapillaren mit Nikotin erfüllte. Was ihm am Rauchen am besten gefiel, war das beinahe unmerkliche Erstickungsgefühl, das aufkam, wenn der Körper die verminderte Sauerstoffzufuhr realisierte. Das schärfte das Bewusstsein ein wenig, wie wenn man sich ein paar Sekunden zu lange unter Wasser aufgehalten hat und sich an die Oberfläche drängen muss, um Luft zu bekommen.
»Was?«
Die Neugier Karlsens kippte allmählich in Verärgerung um.
»Woran ich denke«, sagte Moe und atmete den Rauch durch die Nase aus, »ist, dass wir mit Hilfe der Stiefel vielleicht den Leichnam identifizieren können. Manche Menschen schreiben ja ihre Initialen in die Innenseite ihrer Stiefel, um Verwechslungen zu vermeiden, insbesondere, wenn man sich in einem Milieu bewegt, in dem viele das gleiche Schuhwerk tragen. Zum Beispiel an Bord größerer Fischtrawler.«
»Vielleicht waren sie auch Arbeitskollegen, und der Mann hatte sich die Stiefel von demjenigen geliehen, der ihn später umbrachte«, gab der Gehilfe zu bedenken. »Dann wären die Stiefel ja so etwas wie eine Visitenkarte.«
Moe meinte, dass sie damit sicherlich an einem wichtigen Punkt seien, die Erklärung könne so oder so sein, doch dass die Stiefel fehlten, sei bestimmt kein Zufall.
»Ich sollte das wohl in meinem Bericht erwähnen«, murmelte er. »Die Leute beim PST haben keine Erfahrung mit solchen Mordfällen.«
»Wird sich denn nicht die Kriminalpolizei darum kümmern? Mord fällt doch in deren Zuständigkeit?«
»Nicht so ein Mord, Karlsen. Wenn Sie Recht haben mit Ihrer Vermutung, was da in der Bleidose ist, wette ich darum, dass das ein Fall für den PST ist, in enger Zusammenarbeit mit der Polizeidienststelle in Hammerfest.« Er lachte trocken. »So bleiben die Ermittlungen in der Familie, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Karlsen verstand ihn ausgezeichnet. Er hatte erst kürzlich an einem dreitägigen Kurs der Polizeibehörde in Hammerfest teilgenommen, bei dem es gerade um die Art Kriminalität gegangen war, mit der sie es hier möglicherweise zu tun hatten: Schmuggel von spaltbarem Material aus Russland und anderen exsowjetischen Staaten.
»Es gibt im Grunde nur eine Sache, die ich nicht richtig verstehe«, sagte er. »Angenommen, er wurde in Zusammenhang mit einem Schmuggelgeschäft getötet: Warum hat man ihn dann mit dem Plutonium in der Brusttasche ins Wasser geworfen? Stellen Sie sich doch mal vor, was die paar Gramm wert sind, und was für eine hektische Polizeiaktion dieser Fund nach sich ziehen wird. Der Mörder hätte eigentlich gleich zwei Gründe gehabt, so etwas zu verhindern. Oder, um es anders auszudrücken: Warum zieht er ihm die Stiefel aus, kümmert sich aber nicht im Geringsten um das, was der Typ in seinen Taschen hat?«
»Gute Frage«, sagte Moe. »So gut, dass ich meine, wir sollten die Antwort dem PST überlassen. Aber vielleicht ist es ja auch ganz einfach. Vielleicht hatte der Mörder ja keinen Grund zu der Annahme, dass sein Opfer in der Brusttasche Plutonium spazieren führte. Vielleicht ist er aus ganz anderen Gründen erschossen worden.«
Er nahm den letzten erlaubten Zug an seiner Zigarette, die er auch dieses Mal mit demonstrativer Vehemenz in der Kaffeetasse ausdrückte. In der Stille, die folgte, hörte er den sich nähernden Helikopter.
Gerhard, der mucksmäuschenstill auf seinem Stuhl gesessen hatte, konnte sich nicht länger beherrschen, er sprang auf und rannte ans Fenster.
»Jetzt kommt er!«, rief er hingerissen und zeigte auf den leuchtenden Punkt über dem Dach der alten Volksschule ein paar hundert Meter weiter im Inselinneren. »Der landet mitten auf dem Schulhof!«