Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 21
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ОглавлениеWie ihr Kollege Jørgen Hartmann hatte die Polizeikommissarin Eva Tamber von der Kontraproliferation den Vormittag genutzt, um die Kontakte zu den kooperierenden Diensten herzustellen. Die Leitungen aus ihrem Büro liefen allerdings in andere geografische Richtungen. Zur IAEA, der Internationalen Atomenergie-Behörde in Wien, beispielsweise. Zur CIA und dem Departement of Energy in Washington. Zur Säpo nach Stockholm. Und nicht zuletzt: nach Moskau, genauer gesagt zum Föderalen Sicherheitsdienst FSB, dem Erben des einst so gefürchteten KGB.
Da sich neunzig Prozent aller geschmuggelten radioaktiven Substanzen in Europa nach Russland und in andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion zurückverfolgen ließen, war der Kampf gegen den Schmuggel nutzlos ohne die Unterstützung des FSB. Anfangs war die Zusammenarbeit zwischen dem FSB und den westlichen Nachrichtendiensten eher lau gewesen. Im FSB befürchtete man lange, dass es sich bei der Kontraproliferation – will sagen, dem Kampf gegen die Verbreitung von Kernwaffen – nur um einen Stunt handelte, der inszeniert wurde, um Russland brisante Informationen über die Atomwaffenanlagen des Landes abzuluchsen. Im Kielwasser des 11. September 2001 und der dramatischen Geiselnahme in Moskau im Herbst 2002 hatte allerdings ein Stimmungswandel stattgefunden. Der Gedanke, welche Konsequenzen es für Russland haben könnte, wenn eine Gruppe Terroristen in den Besitz einer »schmutzigen« Atombombe käme, reichte aus, selbst die antiamerikanischsten FSB-Generäle davon zu überzeugen, dass Russland und der Westen in diesem Bereich ausnahmsweise einmal übereinstimmende Interessen verfolgten. Nicht einmal der Irak-Krieg hatte an dieser Erkenntnis etwas geändert.
Tamber hatte an diesem Vormittag zwei längere Telefongespräche mit Moskau geführt. Zuerst mit der Auslandsstelle der Sicherheitsatombehörde des FSB, um anzukündigen, dass aus Oslo in Kürze Foto und Fingerabdrücke des Ermordeten übermittelt würden, und dass sie um russische Unterstützung bei der Identifizierung des Toten baten.
Das zweite Telefonat führte sie mit der staatlich-russischen Nuklearaufsichtsbehörde Gosatomnadzor (GAN), und es galt dem schwarzen Bleibehälter, in dem der Ermordete das Plutonium aufbewahrt hatte. Den Behälter hatte Tamber vorher beim Staatlichen Strahlenschutz abgeholt. Obwohl die endgültigen Ergebnisse der Untersuchung noch nicht vorlagen, hatte einer der Laboranten – unter absolutem Zitierverbot – bestätigt, dass es sich um 20 Gramm Plutonium-239 handelte. Das hörte sich vielleicht wenig an, wenn man berücksichtigte, dass für die Herstellung einer Atombombe an die zehn bis fünfzehn Kilo des Stoffes gebraucht wurden, aber im Zusammenhang mit Schmuggel war es ein beträchtliches Quantum. Die Statistik zeigte, dass es sich bei so gut wie allen registrierten Schmuggelversuchen hoch angereicherter radioaktiver Substanzen um Partien unter zehn Gramm handelte. Selbst auf dem Weltmarkt waren die bekannten Schmuggelversuche von Plutonium in einer Menge von 20 Gramm und mehr an einer Hand abzuzählen.
In gleich lautenden Anfragen an die GAN und das Hauptbüro des FSB in Moskau bat Tamber um Mithilfe bei der Identifizierung des Bleibehälters. »Handelt es sich um Ausrüstung, die den russischen Behörden von früheren Schmuggelaktionen bekannt ist?«, fragte sie.
Tamber rechnete frühestens am nächsten Tag mit einer Rückmeldung der russischen Kooperationspartner. Sie wollte die Zwischenzeit nutzen, um zu untersuchen, ob in der letzten Woche ein verdächtiges Fahrzeug vor der Küste der Finnmark beobachtet worden war. Was leichter gesagt als getan war. Es gab mehrere hundert russische Fischerboote mit der Genehmigung, vor der norwegischen Küste zu fischen. Darüber hinaus hatte der Verkehr von Lastschiffen und Öltankern zugenommen. Zwischen vier- und fünftausend russische Fahrzeuge liefen jedes Jahr norwegische Häfen an. Außer ein paar größeren Heroinbeschlagnahmungen und einigen tragischen Fällen von Menschenhandel konnte nicht nachgewiesen werden, dass eins dieser Fahrzeuge in illegale Machenschaften verwickelt war.
Im PST war man nichtsdestoweniger davon überzeugt, dass sich in den Fischgründen Dinge abspielten, die nicht nur mit Fisch zu tun hatten. Der Fund eines toten Fischers mit einem Einschussloch im Nacken und einer Dose Plutonium in der Brusttasche bestätigte diesen Verdacht.
»Wenn wir eindeutige Beweise vorlegen könnten«, unterstrich Tamber beim morgendlichen Jour fixe im Prolif, »würde das unsere Position sowohl gegenüber den norwegischen Behörden als auch gegenüber unseren Kooperationspartnern in Russland stärken.« Sie skizzierte den Ablauf der Ereignisse, wie sie ihn vor sich sah: Der unbekannte Mann kommt in Begleitung einer unbekannten Anzahl Mithelfer in einem Fischerboot aus östlicher Richtung. An Bord befindet sich eine größere Partie Plutonium, die sie gegen Bezahlung an einen unbekannten Käufer übergeben sollen, an einem bestimmten Punkt im internationalen Gewässer vor der norwegischen Küste. Die beiden Boote treffen sich zur abgesprochenen Zeit am abgesprochenen Ort. Nachdem die Übergabe des Plutoniums stattgefunden hat, zieht der Käufer eine Pistole und erschießt einen der Schmuggler, vermutlich mit der Absicht, ein Exempel zu statuieren, um dem Rest der Bande zu zeigen, was sie erwartet, wenn sie nicht die Klappe halten. Der Tote wird über Bord geschmissen.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Tambers Theorie allgemeine Zustimmung erntete. Ihr nächster Vorgesetzter, Svein Bøcker, schlug beispielsweise vor, dass es genauso gut ein Geldzwist gewesen sein könnte. Die Schmuggler hatten versucht, den Preis der Ware hochzutreiben, was der Käufer abgelehnt hatte, worauf eine Meuterei ausgebrochen war. Polizeikommissar »Sigge« (Sigurd) Olsen, ihr ständiger Mitarbeiter in der Abteilung, warnte seinerseits davor, als gegeben vorauszusetzen, dass der Mord in direkter Verbindung mit der kriminellen Tat stand. Es konnte genauso gut vorher oder hinterher passiert sein, im Zusammenhang mit einer internen Bandenabrechnung. Vielleicht war der Handel längst abgeschlossen und das Boot bereits auf dem Rückweg nach Murmansk, als einer der Schmuggler darauf kam, dass der Gewinn größer wäre, wenn man ihn weniger teilen musste.
»Das wäre zumindest eine logische Erklärung für die fehlenden Stiefel«, schob Tamber ein und erklärte den Kollegen, wie sehr die Tatsache, dass die Leiche keine Stiefel trug, die Polizei vor Ort beschäftigte. »Vielleicht lag er ja in seiner Koje und schlief, als die anderen kaltblütig entschieden, ihn loszuwerden. Bestimmt stellt sich am Ende raus, dass sie ihn im Schlaf hingerichtet und dann über Bord geworfen haben, ohne ihm vorher die Stiefel anzuziehen.«
Sie waren sich einig, dass an allen Theorien etwas dran war. Dann, nachmittags um kurz nach halb vier, erhielt Tamber einen Anruf, der ihre persönliche Theorie und die Hypothesen ihrer Kollegen zum Tathergang zum Platzen brachte. Petter Ofstad, einer der fähigsten Kriminaltechniker bei der Kripo, war am Apparat.
»Wir haben deinen Mann«, sagte er knapp. Ofstad war dafür bekannt, direkt zur Sache zu kommen.
»Wen?« Tamber fühlte sich überrumpelt. Sie war nicht verheiratet und hatte momentan keine feste Beziehung. »Von welchem Mann sprichst du?«
»Von dem toten Fischer. Wir wissen, wer er ist.«
»Ihr wisst, wer er ist?« Der Tonfall ihrer Stimme verriet, dass sie nicht nur überrascht, sondern fast ein bisschen entrüstet war. »Wieso wenden die Russen sich an euch, wenn sie wissen, dass ich ...«
»Vergiss die Russen. Wir haben es selbst rausgefunden.«
»Und? Wer ist beziehungsweise war er?«
»Halt dich fest: ein pensionierter Fischer aus einem kleinen Fischerdorf auf Ingøy – einem der nördlichsten Landzipfel vor dem offenen Meer, nur ein paar Meilen vom Nordkap entfernt. Sein Name war Enok Paulsen.«
»Jetzt bin ich aber wirklich baff, Ofstad. Wie zum Teufel habt ihr ihn ausfindig gemacht? War er als vermisst gemeldet?«
»Fehlanzeige. Er lebte allein und wäre wahrscheinlich so schnell von niemandem vermisst worden. Aber wir hatten seine Fingerabdrücke in unserer Kartei. Er war vorbestraft.«
Tamber pfiff anerkennend.
»Ein alter Bekannter also?«
»Das kann man so nicht sagen. Paulsen hat nicht wirklich eine kriminelle Vergangenheit, soweit wir das beurteilen können. Er hat vor etlichen Jahren eine kürzere Gefängnisstrafe abgesessen, weil er sich geweigert hat, für den illegalen Import einer Partie Branntwein ein einfaches Bußgeld zu zahlen.«
»Alkoholschmuggel also. Eine nordnorwegische Volkskrankheit.«
»Na ja, die Aktenlage ist da ziemlich vage. Es scheint sich jedenfalls nicht um professionellen Schmuggel zu handeln. Die Ware war zum eigenen Verbrauch bestimmt. Außerdem beharrte Paulsen hartnäckig darauf, dass der Branntwein ein Geschenk war. Viel mehr war zu der Angelegenheit aber nicht aus ihm rauszukriegen. Als er sich dann auch noch weigerte, das Bußgeld zu zahlen, wurde er eingelocht.«
»Wann war das?«
»Anfang der Sechziger. Ein merkwürdiger Vorfall, wie gesagt – und der einzige Fleck in einer ansonsten absolut sauberen Akte.«
»Und dieser Mann wurde vor ein paar Tagen mit einer Kugel im Nacken hingerichtet und mit 20 Gramm Plutonium in der Brusttasche ins Meer geworfen. Was hat man von so was zu halten? Einmal Schmuggler, immer Schmuggler?«
»Das rauszufinden ist dein Job«, sagte Ofstad lachend. »Ich wollte dir die Arbeit nur ein wenig erleichtern und dir mitteilen, dass er Norweger ist. Viel Glück!«
Nachdem sie noch ein paar Minuten sitzen geblieben war und nachgedacht hatte, erhob sich Tamber von ihrem Schreibtisch und lief über den Korridor zu Polizeioberkommissar Bøckers Büro. Svein Bøcker war ein Chef vom alten Schlag; er konnte es nicht leiden, wegen jedem Firlefanz belämmert zu werden. Hatte man allerdings ein wichtiges Anliegen, war er sehr entgegenkommend. Tamber hatte keine Bedenken ob der Wichtigkeit der Störung.
»Also, Eva, ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass du dich auf den Weg in den Norden machst«, sagte Bøcker, nachdem sie ihn in die neuesten Entwicklungen in dem Fall eingeweiht hatte. »Ich werde mich mit der örtlichen Polizeiwache in Verbindung setzen und sie vorwarnen, dass du kommst. Arbeite mit ihnen zusammen, so gut es geht. Aber lass dir auf keinen Fall von den Einheimischen auf der Nase rumtanzen. Die leben in ihrer eigenen Welt dort oben, weißt du, und ich befürchte, dass der Fall, an dem wir gerade dran sind, eine Nummer zu groß für sie ist.« Er grinste schief. »Du brauchst dem Sheriff ja nicht gerade auf die Nase zu binden, dass ich das gesagt habe!«
Zurück in ihrem Büro, gab es noch eine Kleinigkeit zu erledigen, ehe sie sich an die Vorbereitung der Finnmarkreise machen konnte. In ihrer Schublade lag ein unbeantworteter Brief, abgestempelt in Seoul, Süd-Korea, und unterzeichnet vom Legationsrat der norwegischen Botschaft. Sie schrieben: »Sehr geehrte Eva Tamber. Es ist uns gelungen, die Frau ausfindig zu machen, die Sie suchen, Kyung-wha Lee. Sie lebt in der Hafenstadt Pusan, an der Südspitze der koreanischen Halbinsel, wo sie Musik und Tanz an einer städtischen Schule unterrichtet. Ich habe heute persönlich mit ihr telefoniert. Sie ist 59 Jahre alt, allein stehend, kinderlos. Als ich ihr von Ihnen erzählte, begann sie zu weinen. Sie sagte, alle Menschen in ihrem Land seien um die Wiedervereinigung ihrer Familien bemüht, damit sie ihre Verwandten aus Nordkorea vor ihrem Tod noch einmal sehen könnten. Aber sie habe keine Familie. Nur die unbekannte Tochter, die sie direkt nach der Geburt weggeben musste, weil sie allein war und niemanden hatte, mit dem sie die Last der Versorgung teilen konnte. Außerdem, hat sie mit tränenerstickter Stimme hinzugefügt, bedeutete damals ein uneheliches Kind eine große Schande. Sie beendete das Gespräch mit der dringenden Bitte, Sie zu bitten, ein paar Worte an sie zu schreiben und vielleicht ein Bild zu schicken. Sie will dafür beten, dass Sie eines Tages wieder zusammengeführt werden. Lassen Sie sich Zeit, die Sache in Ruhe zu überdenken, und treffen Sie eine eigene Entscheidung. Für den Fall, dass Sie zu dem Entschluss kommen, Kontakt aufnehmen zu wollen, lege ich Ihnen ihre Telefonnummer und Anschrift bei. Es ist mir immer eine große Freude, in solchen Angelegenheiten behilflich sein zu können. Mit freundlichen Grüßen ...«
Eva Tamber faltete den Brief langsam zusammen und starrte gedankenverloren vor sich hin. Noch lange, nachdem sie den Umschlag wieder in die Schublade zurückgelegt hatte, spürte sie die Anspannung in ihrem Körper. Wie ihre Mutter wohl aussah? Ob sie sich ähnlich waren?