Читать книгу Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - Страница 22

17

Оглавление

Nichts!

Ulla Abildsø schaute frustriert auf die Armbanduhr. Zehn vor vier. Nur noch vierzig Minuten, bis das Archiv geschlossen wurde. Und noch immer suchte sie vergeblich nach Dokumenten, die Licht auf das warfen, was im Herbst 1961 mit der Mannschaft auf dem Boot ihres Vaters geschehen war. Die Mappen der Archivserie 136 »Die Atombombe« und 611 »Wärmelehre« für das Jahr 1961 waren überraschend dünn, und das wenige, was darin stand, drehte sich im Großen und Ganzen um andere Dinge als die sowjetischen Probesprengungen auf Nowaja Semlja. Die einzige Ausnahme machten einige Berichte der Gesundheitsbehörde, die außerordentliche Einsätze in Finnmark ankündigten. Im schlimmsten Fall würde es zu einer teilweisen Evakuierung der Bevölkerung kommen. Dagegen gab es keinerlei Informationen über die eigentlichen Atomtests, über die in den Mappen von 1958 so viel gestanden hatte.

Sie hatte einen dicken Kopf, einen Bärenhunger – und sehnte sich verzweifelt nach einer Tasse Kaffee. Aber das musste verschoben werden. Jetzt galt es, die Zeit zu nutzen, die ihr noch blieb. Sie sah keine andere Möglichkeit, als die Archivleiterin um Hilfe zu bitten.

»Entschuldigen Sie ...«

Frau Hansen riss den Blick missmutig vom PC-Bildschirm los. Sie ließ die Hände auf der Tastatur liegen, wie um klarzustellen, dass sie höchstens eine kurze Unterbrechung ihrer Schreibarbeit duldete.

»Bitte?«

Ulla erklärte ihr, dass in den Mappen von 1960 – 63 auffallend wenig Information über die Zusammenhänge zu finden war, die sie interessierten. Ob es eventuell sein könnte, dass jemand die entsprechenden Informationen aus den Mappen entfernt hatte?

Nein, das hielt Frau Hansen für ausgeschlossen. Über die Mappen wurde genauestens Protokoll geführt. Wenn etwas entfernt worden war, müsste das aus dem Protokoll hervorgehen.

»Meines Wissens ist noch nie etwas verschwunden.«

»Gibt es möglicherweise noch andere Archivserien oder Mappen?«

»Sie haben alles vorliegen, was relevant für Ihre Arbeit ist. Glauben Sie mir, ich kenne das Zentralarchiv wie meine Westentasche.«

»Hatten die einzelnen Abteilungen keine eigenen Archive?«

»Na ja ...« Frau Hansen zögerte mit der Antwort. »Da gäbe es noch das Fernarchiv der Physikalischen Abteilung. Ich kann nicht ausschließen, dass ...«

»Könnten wir vielleicht dorthin gehen und nachschauen?«, unterbrach Ulla sie. »Wenn’s geht, jetzt gleich!«

Frau Hansen warf einen mürrischen Blick auf die Wanduhr und drehte sich mit einer Miene zu Ulla um, die keinen Zweifel daran ließ, was sie von dieser Idee um diese Uhrzeit hielt.

»Wenn Sie partout darauf bestehen. Aber es ist ein ganzes Stück zu gehen ...« Frau Hansen sah forschend auf Ullas Beine, als sie das sagte. »Wir müssen ins Nachbargebäude«, fuhr sie fort und klirrte mit dem Schlüsselbund. »Die älteren Dokumente sind in einem feuchten Kellergewölbe der Physikalischen Abteilung begraben.« Sie verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln. »Die Akten bergen nicht nur alte Geheimnisse, sie setzen allmählich auch Schimmel an!«

Sie zogen ihre Mäntel an und begaben sich hinaus ins Schneegestöber. Das Gebäude der ehemaligen Physikabteilung lag ein paar hundert Meter weiter in dem abgesperrten Gelände: ein hellgelbes, zweistöckiges Steinhaus mit Satteldach und Mansardenfenstern auf dem Dachboden. Der Schnee fiel jetzt so dicht, dass ihre Spuren sofort zuschneiten, sobald sie den Fuß hoben.

Frau Hansen geleitete Ulla durch eine Reihe geschlossener Türen. Die letzte führte zu einer Kellertreppe. Sie gingen nach unten und passierten ein paar große Räume, die vom Boden bis zur Decke voller Regale standen. Ulla sah sich neugierig um. In den Regalen standen dicht an dicht schmale Pappschachteln und Kunststoffkassetten, alle mit römischen Ziffern, Datum und einem Buchstabencode beschriftet, den sie nicht deuten konnte.

»Niederschlagsproben«, sagte Frau Hansen beiläufig und strich im Vorbeigehen mit dem Zeigefinger über die Rücken der Kästen. »Hier sind sämtliche Niederschlagsproben gesammelt, die jemals von den Messstationen im ganzen Land ans FFI geschickt wurden. Mit Hilfe eines Prozesses, der ›Veraschung‹ genannt wird, konnte man die Niederschlagsproben einer spektografischen Analyse unterziehen und sie über lange Zeiträume aufbewahren. Ich glaube, wir haben alle Proben seit 1957 behalten. Wohl in der Hoffnung, dass eines schönen Tages jemand auftaucht, der sie noch einmal sehen will. Etliche der gefährlichsten Kernspaltprodukte haben ja eine Halbwertszeit von mehreren tausend Jahren. Noch ist es also nicht zu spät. Können Sie mir folgen?«

Ulla war sich nicht ganz sicher, ob sie das intellektuell oder physiologisch meinte, und gab eine ebenso zweideutige Antwort. Ihre Aufmerksamkeit war sowieso abgelenkt, als sie das Regal mit den Niederschlagsproben von 1961 entdeckte. Auf dem Rückweg wollte sie es sich näher ansehen.

Sie blieben vor einer massiven Eisentür stehen, die nebst einem großen kreisrunden, altmodischen Kombinationsschloss auch noch oben und unten durch Magnetschlösser gesichert war. Nachdem Frau Hansen die runde Drehscheibe ein paar Mal hin- und herbewegt hatte, stieß sie ein triumphierendes »Yes, baby!« aus und lehnte sich mit der Schulter gegen die schwere Tür. Als diese widerstrebend nachgab, rieselten große Splitter alter Farbe auf den Zementboden. Man hätte meinen können, die Tür wäre seit Jahren nicht mehr geöffnet worden.

Im gleichen Moment, als sie die Schwelle überschritt, stellte Ulla fest, dass Frau Hansen nicht übertrieben hatte. Die Vergangenheit hatte Schimmel angesetzt. So eine Schlamperei, dachte sie empört, als sie die klamme, muffige Kellerluft einatmete. Sie legte sich wie Raureif auf ihre Wimpern und machte es noch schwerer, sich in dem Licht der nackten Glühbirne unter der Decke zu orientieren.

»Du meine Güte«, platzte es aus ihr heraus. »Wie haben die Deutschen diesen Raum denn im Krieg genutzt? Als Folterkammer?«

Frau Hansen klirrte mit dem Schlüsselbund und gestand widerstrebend, dass sie das nicht wusste. Aber, beeilte sie sich hinzuzufügen, war es nicht kurios, dass ausgerechnet diejenigen, die sich am stärksten ins Zeug gelegt hatten, das FFI hier, in einem ehemaligen deutschen Militärlager zu etablieren, fast ausnahmslos im Kampf gegen die deutsche Besatzungsmacht in der ersten Reihe gestanden hatten?

Ulla gab keine Antwort. Nicht aus Desinteresse am Zweiten Weltkrieg, aber im Augenblick ging es ihr vor allen Dingen darum, herauszufinden, ob es hier Unterlagen gab, die eine Antwort darauf geben konnten, was ihrer Familie an jenem Oktobertag 1961 zugestoßen war. Ein rascher Blick auf den Archivschlüssel zeigte, dass es zumindest drei Archivserien von potenziellem Interesse gab, inklusive eines Arbeitsprotokolls 31.1/287 – Schutz vor radioaktivem Niederschlag. Sie suchten die Mappen zusammen und begaben sich zurück zum Zentralarchiv.

»Ich befürchte, Sie werden erst morgen weiterarbeiten können«, sagte Frau Hansen, als sie das Archiv betraten. »Ich schließe jetzt. Die nächsten Tage werden Sie ohne meine Hilfe zurechtkommen müssen. Ich nehme an einem Computerkurs teil.«

Ulla hörte nur mit halbem Ohr hin und nickte mechanisch.

»Ich werde versuchen, mich so gut es geht durchzuschlagen«, sagte sie trocken.

Nachdem sie ihre Zugangsmarke in der Wachstube abgegeben hatte, trat sie in den dunklen Februarnachmittag. Obwohl es den ganzen Tag geschneit hatte, war der Bürgersteig am Instituttvei nicht geräumt. Bei zwanzig Zentimeter Neuschnee brauchte sie zehn Minuten bis zur Bushaltestelle. An Tagen wie diesen kam ihr die angeborene Behinderung wie eine Strafe vor.

Während der Busfahrt nach Oslo versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und die Bedeutung ihrer kleinen Entdeckung im Kellergewölbe unter dem Archiv der Physikalischen Abteilung einzuordnen. Im Regal mit den Niederschlagsproben von 1961 hatten die Schachteln in chronologischer Reihenfolge gestanden. Aber an einer Stelle der langen Reihe war eine Lücke gewesen, exakt so breit wie eine der grauen Pappschachteln, die sie einrahmten. Um Frau Hansens Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen, war sie nur so lange vor dem Regal stehen geblieben, wie sie brauchte, um sich zu bücken und die Schnürsenkel zuzubinden. Aber die zehn Sekunden hatten gereicht, um zu sehen, dass die Leerstelle sich zwischen zwei Kassetten befand, von denen die eine mit Freitag, 20. Oktober datiert war und die andere mit Freitag, 10. November 1961. Ein rascher Blick auf die angrenzenden Regale bestätigte ihr, dass die Proben regelmäßig am zehnten, zwanzigsten und letzten Tag eines Monats abgegeben worden waren. Wenn dort tatsächlich eine Schachtel fehlte, war anzunehmen, dass es sich um Proben von dem dazwischen liegenden Abgabetermin handelte, das heißt, von Dienstag, dem 31. Oktober 1961. Wer hätte eine Veranlassung, den Karton mit den Proben zu entfernen? Noch dazu, wo er sich auf bewachtem Gelände befand, in einem verschlossenen Keller?

Ulla sah sich nervös im Bus um. Sie hatten gerade in Olavsgård gehalten, wo etliche Leute eingestiegen waren. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie plötzlich das Gefühl, dass ein Fahrgast zu viel in dem Bus war. Jemand, der nicht dorthin gehörte. Ein lächerlicher Gedanke, keine Frage, aber das unangenehme Gefühl ließ sie bis ins Zentrum nicht mehr los.

Die Oslo-Connection - Thriller

Подняться наверх